Brooks ~ Jagdzeit
Ich liege bäuchlings im Gestrüpp und betätige
wieder und wieder den Auslöser meiner Kamera. Für dieses Motiv würden andere
vermutlich morden, aber von mir, Brooks Ewing, erwartet man solche Bilder.
Wer in Kanada eine Dokumentation über Wölfe machen
will und dazu eine Fotostrecke benötigt, fragt mich.
Dabei sind Wölfe nicht die einzigen Wildtiere,
die ich fotografiere.
Momentan ist mein Objektiv allerdings wirklich
auf diese wunderschönen Caniden gerichtet.
Eine im Gras liegende Fähe mit drei Welpen,
die um sie herumtoben und sich gegenseitig in die winzigen Ohren beißen.
Der Anblick entlockt mir ein Lächeln.
Unbestritten, ich mag Wölfe!
In diesem Fall sind es die sehr groß
wachsenden Mackenzie-Wölfe, die hauptsächlich in der Westhälfte Kanadas
vorkommen.
Die beinahe schwarze Wölfin und ihre noch sehr
gescheckt aussehenden Jungtiere, die etwa zwölf Wochen alt sein dürften, sind
keine drei Meter von mir entfernt und nehmen mich dennoch nicht als Bedrohung
wahr.
Woran genau das liegt, weiß ich nicht, denn
auch wenn ich ein wenig ungewöhnlich bin, wäre meine Andersartigkeit eigentlich
ein Grund für pure Aggression mir gegenüber.
Wölfen droht in British Columbia ständig große
Gefahr durch Menschen, denn sie sind zum Abschuss freigegeben.
Für mich eine traurige Realität, die sich aber
aus der starken Population ergibt.
Meine Waffe ist jedoch eine Digitalkamera,
kein Gewehr.
Vielleicht macht das schon den entscheidenden
Unterschied?
Genervt schüttle ich den Kopf, weil ich
darüber nicht nachdenken will.
Ich bin hier, um Fotos zu machen, nicht um
mein Selbst zu ergründen.
Ein leises Knistern neben dem Gebüsch, unter
dem ich größtenteils liege, lässt mich die Kamera senken und den Atem anhalten.
Der rasche Blick nach vorn verrät mir, dass
sowohl die Fähe als auch ihre drei Welpen noch dort sind, weshalb ich den Kopf
nach rechts drehe und innerlich fluche.
Logisch, die Wolfsmutter ist das Alphaweibchen
des Rudels und sie wird niemanden außer ihrem Gefährten so nah an ihren
Nachwuchs lassen.
Ebenjener steht, interessiert an meinem
Hosenbein schnüffelnd, da und scheint sich nicht darüber klar zu sein, was er
mit dem in Wald-Camouflage eingefärbten Stoff tun soll.
Ruhig atme ich durch und drehe mich, die
Kamera in der Linken, auf die Seite, um ihn zu mustern.
Geez, der Alpharüde ist ein ausgesprochen
stattliches Exemplar und dürfte um die achtzig Kilo wiegen, also locker
fünfundzwanzig Kilo mehr als ich.
Mackenzie-Wölfe sind die größte Unterart aller
Wolfsgattungen und der Rüde neben mir misst von Nasen- bis Schwanzspitze ganz
sicher über zwei Meter.
Er hat eine schwarze Decke, während seine
langen Beine in Braun und Schwarz gescheckt sind.
Stünde ich direkt neben ihm, wären seine
Schultern auf Höhe meines Beckens, sein Kopf auf Höhe meines Bauches.
Mir wird ein wenig anders, auch wenn ich aus
den vergangenen Jahren weiß, dass ich derartige Begegnungen immer unbeschadet
überstanden habe, weil ich eben nicht bedrohlich wirke.
So nah ist mir allerdings noch kein wild
lebender Wolf gekommen!
Sollten er und seine Gefährtin beschließen,
dass ich nun doch eine Gefahr bin, habe ich schlicht keine Chance – egal in
welcher Gestalt.
Um den neugierigen Rüden von diesem für mich
tödlichen Entschluss abzubringen, bleibt mir nur, möglichst unterwürfig zu sein
und genau das auch durch meine Körpersprache zu zeigen.
Also weiter auf den Rücken rollen und den
Blick senken.
Die Kamera in meiner Hand richte ich auf ihn,
ohne sie großartig zu heben, und betätige auf gut Glück den Auslöser.
Solche Fotos habe auch ich noch nie geschossen
und sie wären verdammt viel Geld wert!
Der Rüde kommt näher, schnüffelt nun auch an
meiner Weste und wirkt noch immer eher neugierig als aggressiv, weshalb ich es
schaffe, mich ein wenig zu beruhigen und den Finger auf dem Auslöser zu halten.
Seine feuchte Nase ist nur noch Zentimeter von
meiner entfernt, mein Blick wieder gesenkt, deshalb zucke ich zusammen, als er
mich plötzlich anniest und danach von mir ablässt.
In einem kleinen Bogen, den die Alphawölfin zu
dieser Zeit des Jahres ganz sicher auch von ihrem Gefährten einfordert,
umrundet er sie und ihre Welpen, und ich rolle zurück auf den Bauch, um alles
in Bildern festzuhalten.
Sie belauert ihn ganz anders, als sie meine
Anwesenheit beachtet hat, vielleicht ist auch das Teil seiner Entscheidung
gewesen, dieses komische Menschlein im Gebüsch in Ruhe zu lassen?
Die zwei sind nicht die Anführer ihres Rudels,
weil sie Fehlentscheidungen getroffen oder eigenmächtig gehandelt haben.
Eine Sache, die ich an Wölfen und ihrer
Lebensstruktur zugleich sehr liebe und verabscheue.
Verrückt, ich weiß, aber es hat eben
persönliche Gründe.
Jetzt nur nicht wieder abdriften!
Ich mache noch ein paar Fotos, dann ziehe ich
mich langsam zurück. Stück für Stück auf allen vieren, bis ich den nötigen
Abstand erreicht habe und aufstehen kann, ohne dass mich jemand als Bedrohung
ausmacht.
Gemütlich wandere ich mehr als eine Stunde
lang zurück zu meinem Zeltplatz und überlege, ob ich jetzt schon zusammenpacken
sollte.
Ein Blick auf meine Uhr verrät, dass ich noch
ein paar Stunden habe, bevor ich mit meiner Ausrüstung wieder am Parkplatz nahe
dem Garibaldi Lake sein sollte.
Außerdem habe ich Hunger.
An meinem getarnten und gut abgesicherten Zelt
angekommen, lege ich die Kamera weg und kümmere mich darum, meinen mittlerweile
knurrenden Magen zu füllen.
Während der Gaskocher das Wasser für meine
gefriergetrockneten Nudeln mit Tomatensoße erhitzt, sehe ich mir die heutige
Ausbeute an.
Erst zu Hause in Nord-Vancouver werde ich die
Dateien auf meinen Laptop ziehen und mir in Ruhe alle Details ansehen können,
aber speziell die letzten Bilder will ich checken. Ich habe schließlich noch
keine Ahnung, ob ich den an mir schnüffelnden Alpha in brauchbarer Weise drauf
habe, oder nicht.
Ha! Die Serienbilder sind tatsächlich scharf
und zeigen, wie nah er mir gekommen ist!
Ich freue mich sehr darüber und überlege
bereits, welchem der zahlreichen Magazine, für die ich freiberuflich arbeite,
ich die Bilder anbieten will. Auch wenn ich sie zuerst immer dem National
Nature Magazine anbiete, weil das vertraglich so geregelt ist, kämen auch
einige andere Hefte infrage.
Nach dem Essen beginne ich mit dem Abbau,
verstaue alles in und an meinem Rucksack und mache mich auf den etwa zwei
Stunden dauernden Fußmarsch durch die Berge zurück zum Parkplatz.
Direkt am Garibaldi Lake wären zwar
auch Möglichkeiten zum Campen gegeben, aber da sind zu viele Touristen. Für
Fotos, wie ich sie machen will, muss ich eben ein paar Meilen Wanderung in Kauf
nehmen.
Wenn ich mehr Zeit habe, fahre ich deutlich weiter
nördlich ins Interior Plateau von British Columbia oder mache einen
ausgedehnten Hike durch die Landschaften von Vancouver Island, aber da ich am morgigen Montag ein Treffen mit
einem Redakteur habe, war diesmal nur eine Woche Aufenthalt im Wald möglich.
Am Parkplatz angekommen, sehe ich, dass noch
einige Autos dort herumstehen. An manchen sind Touristen gerade dabei, ihre
Ausrüstung zu verstauen, Kinder einzufangen und abzufahren.
Ich stehe noch an der geöffneten Heckklappe
meines Geländewagens und räume gewohnheitsmäßig die Kameratasche aus dem
Rucksack in eine Metallkiste im Kofferraum um.
Das mache ich immer so. Die Kiste ist fest
verzurrt und ziemlich bruchsicher. Sollte ich also jemals einen Autounfall
haben, werden die Fotos, die ich zuletzt gemacht habe, in jedem Fall überleben.
Zu meiner großen Freude steht noch ein
Verkaufswagen auf dem Platz – ich brauche dringend einen Kaffee!
Heckklappe zu, losschlendern.
Minuten später kehre ich, an einem To-go-Becher
schlürfend, zurück zu meinem Wagen und sehe neugierig auf, als ich einen lauten
Fluch höre.
Owen ~ Wutwanderung
Ungeduldig zerre ich um fünf Uhr morgens
meinen für solche Fälle immer fertig gepackten Wanderrucksack aus dem
Abstellraum neben meinem Schlafzimmer und stürme die Treppe hinunter.
Im Büro schreibe ich eine Nachricht für
Michelle, meine Haushälterin, damit sie sich keine Sorgen macht. Sie ist zwar
nur zwölf Jahre älter als ich, aber in Ermangelung einer eigenen Familie behütet
sie mich, als wäre ich ihr Sohn.
Dieser Gedanke entlockt mir ein kurzes
Lächeln, ehe meine grottenschlechte Laune es wieder vertreibt.
Mit dem Geländewagen fahre ich zur Auffahrt
der Route 99, dann weiter bis zum Garibaldi Lake.
Nach einer guten Stunde Fahrt stelle ich den
Wagen auf einem der großen Parkplätze ab. Erstaunt nehme ich zur Kenntnis, dass
außer meinem noch ein Fahrzeug auf dem Schotterplatz steht. In der Regel bin
ich um diese Uhrzeit der einzige Wahnsinnige, der sich hier rumtreibt. Die
Sonntagsausflügler erscheinen frühestens um zehn Uhr.
Egal! Rucksack schultern und dann marschieren.
Meine miese Stimmung werde ich nur durch eine lange, kräftezehrende Wanderung
los.
Inzwischen ist die Sonne aufgegangen und
verleiht dem See einen rotgoldenen Schimmer. Der Anblick ist wunderschön und
sollte einem das Herz weiten. Funktioniert bei mir heute nicht.
Abrupt wende ich mich um und folge einem
schmalen Pfad. Ich kenne die Gegend hier ziemlich gut. Der Weg wird mich in den
dichten Wald und zu ein paar steilen Anstiegen bringen. Sie sind genau das, was
ich suche.
Seit ich gestern Abend aus Calgary
zurückgekommen bin, habe ich noch kein Auge zugemacht. Mein schlechtes Gewissen
lässt mich nicht zur Ruhe kommen.
Die fünfzehnjährige Tochter eines mittellosen
Ehepaares wurde seit zwei Wochen vermisst. Für die Polizei war das Mädchen eine
typische Ausreißerin, daher unternahm man keine großen Anstrengungen, sie zu
suchen.
Durch eine winzige Meldung in der Tageszeitung
wurde ich auf den Fall aufmerksam und bot den Eltern sofort meine Hilfe an.
Es dauerte eine weitere Woche, ehe ich
brauchbare Hinweise fand. Sie führten mich nach Calgary, auf die Spur eines
polizeibekannten Sexualstraftäters.
Obwohl der Mistkerl verhaftet werden konnte,
kam für das Mädchen, Melanie, jede Hilfe zu spät.
Der Gedanke an den Anblick ihrer Leiche lässt
bittere Galle in mir hochkochen.
Ich hasse es, wenn Leute, die wenig Geld
haben, anders behandelt werden als besser situierte. Die Polizei unternimmt
kaum etwas, weil nach ihren Erfahrungswerten Kinder aus ärmeren Verhältnissen
grundsätzlich erst mal als Ausreißer eingestuft werden. Den Medien ist so was meist
noch nicht mal eine Nachricht wert. Erst wenn solch ein Fall böse endet, wird er
auf den Titelseiten ausgeschlachtet.
Ziemlich außer Atem erreiche ich die erste
Anhöhe und muss kurz pausieren. Meine Wut hat mich den Anstieg viel zu schnell
nehmen lassen.
Der Stamm eines dicken Baumes, der scheinbar
dem letzten Herbststurm nicht standgehalten hat, dient mir als Sitzgelegenheit.
Aus dem Rucksack hole ich eine Flasche stilles Wasser und trinke in kleinen
Schlucken.
Ich mag gar nicht daran denken, dass ich heute
Abend Melanies Eltern aufsuchen muss.
Jemand von der örtlichen Polizei war gestern
bereits bei ihnen. Sie mussten anhand eines Fotos die Identität ihrer Tochter
bestätigen und wurden über den Stand der Ermittlungen in Kenntnis gesetzt.
Es wäre also nicht zwingend notwendig, dass
ich noch einmal mit ihnen spreche. Schließlich habe ich mir den Fall selbst
ausgesucht und ihn unentgeltlich übernommen. Aber es ist nicht meine Art, mich
vor unangenehmen Dingen zu drücken.
Was mir am meisten zu schaffen macht, ist,
dass ich die Informationen viel zu spät bekommen habe. Hätte mich mein Freund
Scott, seines Zeichens Ermittler im Morddezernat, sofort angerufen, als das
Mädchen als vermisst gemeldet wurde, hätte ich sie vielleicht noch retten
können.
Den Burschen werde ich mir morgen zur Brust
nehmen. Wie oft habe ich ihm schon eingetrichtert, er soll mich umgehend
informieren, sobald ihm solch ein Fall zu Ohren kommt? Bin gespannt, welche
Ausrede er diesmal parat hat.
Ich verstaue meine Wasserflasche, nehme dafür
meine Kamera heraus und hänge sie mir um den Hals, ehe ich mich weiter auf den
Weg mache.
~*~
Am Spätnachmittag treffe ich wieder an meinem
Ausgangspunkt ein. Die lange Wanderung, die Stille des Waldes und etliche Fotos
von buntschillernden Insekten haben meine Nerven zur Ruhe kommen lassen und ich
bin wieder mit mir im Reinen.
Auf dem Parkplatz stehen nur noch wenige
Fahrzeuge. Mehrere Familien mit Kindern versuchen, ihr Picknickzubehör zu
verstauen, ohne ihren Nachwuchs aus den Augen zu verlieren.
An dem Wagen neben meinem lehnt ein Mann und nippt
vorsichtig an einem Coffee-to-go-Becher.
Ich stelle meinen Rucksack in den Kofferraum
und ziehe die Klappe herunter, um sie zu schließen. Zu spät bemerke ich, dass
sich der Trageriemen meiner Kamera an der Ecke verhakt hat. Selbstverständlich
reißt er und das Gerät fällt zu Boden.
„Scheiße!“, fluche ich lauthals und bücke
mich, um es aufzuheben.
„Heute ist echt nicht mein Tag“, schimpfe ich vor
mich hin. Das Ding ist mit der Seite auf einem spitzen Stein gelandet.
„Wegen eines kleinen Unfalls wollen Sie gleich
einen ganzen Tag wegwerfen?“
Ruckartig hebe ich den Kopf. Die leicht
amüsiert klingende Bemerkung kommt von dem Kaffeetrinker.
Ich unterziehe ihn einer genauen Musterung.
Hellbraune Haare lugen ziemlich strubbelig unter seinem Basecap hervor. Seine
ungewöhnlich dunkelgrauen Augen blitzen fröhlich.
Na, der macht mir Spaß.
„Ich würde gerne mehr als nur diesen Tag
wegwerfen. Die kaputte Kamera ist nur das Tüpfelchen auf dem i“, meckere ich
weiter.
Er schürzt die Lippen und drückt mir seinen
Kaffeebecher in die Hand, während er mir zeitgleich die Kamera abnimmt, um sie
zu untersuchen.
Ziemlich perplex starre ich den Typen an und
suche nach Worten, die ihn in seine Schranken weisen.
„Hm, nur der Deckel des Batteriefachs ist
herausgebrochen, das kann man ganz einfach reparieren und Ihren Fotos dürfte
nichts passiert sein“, behauptet er und lächelt mich aufmunternd an.
„Und das wissen Sie woher?“, frage ich
skeptisch.
Sein Grinsen wird geradezu frech, als er sagt:
„Ich bin Brooks Ewing, mir gehört das Fotostudio im Westview Shopping Centre. Meine Angestellten reparieren quasi
täglich solche Schäden.“
„Brooks Ewing? Der Brooks Ewing? Der
Tierfotograf?“ Wer in Kanada kennt diesen Namen nicht?
„Höchstpersönlich!“ Mein Gegenüber nickt und
lacht mich keck an. „Mein Ruf scheint mir vorauszueilen. Sie haben vergessen,
die aufregenden Dokumentationen zu erwähnen.“
„Stimmt“, gebe ich zu. „Da lerne ich durch
mein Missgeschick tatsächlich eine echte Berühmtheit kennen. Ich bin übrigens
Owen Brady.“
Die Augenbrauen dieser unerträglichen
Frohnatur rutschen in seine Stirn. „Der Philanthrop mit der genialen Spürnase?“
Diese Bezeichnung lässt mich hart auflachen.
„Ich glaube, niemand der mich näher kennt,
würde mich so bezeichnen.“
„Wie? Spürnase?“, gibt er wölfisch grinsend
zurück und ich fühle mich leicht verarscht.
„Der Philanthrop zeigt Ihnen gleich, wie gut
er extrem fröhliche Menschen leiden kann“, knurre ich aufgebracht.
„Ich verrate Ihnen was: Vor ein paar Stunden
hat ein etwa achtzig Kilo schwerer Mackenzie-Alpha an diesen Hosenbeinen
geschnüffelt und überlegt, ob er mich fressen soll. Solange Sie das nicht überbieten
können, machen Sie mir ganz sicher keine Angst mit Ihrer Griesgrämigkeit.“
Ach du Scheiße!
Ich kenne so ziemlich alle Fotos, die Ewing
jemals irgendwo veröffentlicht hat und weiß, dass er immer extrem ungewöhnliche
Aufnahmen schießt. Aber dass ein Wolf ihm so nahe gekommen sein soll, ohne ihn
anzugreifen, halte ich für unwahrscheinlich.
„Und diese Story soll ich Ihnen glauben? Haben
Sie Beweise?“, frage ich ironisch.
Er kichert. „Sie denken, ich hätte neben dem
unterwürfigen auf dem Boden Herumliegen noch Zeit gehabt, meine Kamera zu
zücken?“ Er mustert mich herausfordernd.
„Mister Ewing, ich kenne Ihre gesamte Arbeit.
Wenn der Vorfall der Wahrheit entspricht, haben Sie sich solche Aufnahmen nicht
entgehen lassen, egal wie gefährlich die Situation war.“
Er muss doch nicht meinen, dass er einen
erfahrenen Profiler hinters Licht führen kann …
„Da ist sie ja, die Spürnase!“, feixt er und
hebt die Kamerateile etwas an. „Ich kann sie mitnehmen und Sie holen sie sich
morgen repariert im Laden ab, dann zeige ich Ihnen, wie waghalsig ich heute
war.“
„Okay, ich nehme Sie beim Wort. Aber ich warne
Sie. Wenn ich aufkreuze und Sie glänzen durch Abwesenheit, dann lernen Sie den
richtigen Griesgram kennen.“ Ich lasse meinen Worten ein süffisantes Lächeln
folgen, damit er weiß, dass ich es ernst meine.
„Sie haben eine merkwürdige Art, sich für die
Reparatur Ihrer Kamera zu bedanken“, quittiert er ungerührt. „Sie können den
Kaffee behalten!“
Der Kerl dreht sich einfach um und lässt mich
blöde stehen. Während er ins Auto steigt, brülle ich ihm hinterher: „Ich bezahle
die Reparatur, keine Sorge!“
Laut lachend fährt er an mir vorbei und
besitzt die Unverschämtheit, mir die ganze Zeit zuzuwinken.
Kopfschüttelnd steige ich ins Auto und fahre
nach Hause. Allerdings habe ich vorsorglich die Nummer seines Fahrzeugs in mein
Handy getippt.
So fröhliche Menschen wie Brooks Ewing sind
mir ein Gräuel. Sie nehmen nichts und niemanden ernst und merken dabei auch
nicht, wie sehr sie anderen damit auf die Nerven gehen.
Ich verdränge die Gedanken an ihn und beschließe,
Scott heute schon anzurufen. Mir doch egal, dass Sonntag ist und er dienstfrei
hat. So kann ich mir während der langweiligen einstündigen Rückfahrt die Zeit
damit vertreiben, ihn zusammenzuscheißen.
Scott und ich kennen uns seit
Kindergartenzeiten. Er hat sich im Laufe der Jahre an meine grobe Art gewöhnt
und steckt sie immer locker weg. Je unfreundlicher ich werde, desto mehr lacht
er mich aus. Im Grunde ist er vom Typ her ähnlich wie Brooks Ewing.
Wieso kommt mir dieser Kerl wieder in den
Kopf? Ich habe doch beschlossen, nicht weiter an ihn zu denken, weil mir seine
Art auf die Nerven geht.
Wie erwartet, redet Scott sich damit heraus,
dass er von der vermissten Melanie erst gehört hat, als ich mich schon um den
Fall gekümmert habe. Wir verabreden uns für nächste Woche zum Abendessen bei
mir, dann lege ich auf, da ich die Einfahrt zu meinem Haus erreicht habe.
Michelle erwartet mich bereits in der
geöffneten Haustür. Sie hat meinen Wagen sicher vom Küchenfenster aus gesehen.
„Guten Abend Michelle. Ich muss gleich noch
mal weg.“
„Guten Abend Owen. Aber vorher wirst du etwas
essen. Du hast heute Morgen noch nicht mal gefrühstückt und wie ich dich kenne,
hast du dir unterwegs auch nichts Essbares besorgt.“ Ihr strafender Blick würde
selbst hartgesottenere Kerle als mich einschüchtern.
„Lass mich nur schnell duschen und mich
umziehen, dann komme ich zu dir in die Küche. Ich habe keine Zeit, mich
großartig im Esszimmer niederzulassen.“
Ich eile an ihr vorbei und ignoriere das
unzufriedene Gebrummel.
Knapp eine halbe Stunde später sitze ich
wieder im Wagen und mache mich auf den Weg zu den bedauernswerten Eltern des
toten Mädchens.
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