1 Kopfüber in ein neues Leben
Ich liege bäuchlings auf meinem Bett und grüble.
Soll ich weiter auspacken?
Erst heute Morgen sind mein Dad und ich in dieses Haus eingezogen und natürlich
ist noch lange nicht alles an seinem Platz.
Das riesige Dachstudio mit angeschlossenem eigenem Bad, das ich nun mein
neues Reich nennen darf, sieht ziemlich wüst aus und ich frage mich, wie ich
alles bis zum Start meines Senior-Jahres an der örtlichen High-School fertig
einrichten soll.
Der dunkelblaue Teppich liegt bereits und die Wände wurden frisch
gestrichen, bevor Dad und ich hergekommen sind.
Ein Schreiner hat mein neues, riesiges Bett mit einem Regal unter der
Schräge in die Nische unter dem großen Dachfenster eingebaut. Außerdem wurde
die Giebelwand vom Boden bis zum First mit Buchregalen bestückt, in die ich
meine Schätze noch einräumen muss.
Das Zimmer meines Dads befindet sich im Anbau im Erdgeschoss, zum Garten raus,
weshalb ich hier oben absolute Ruhe haben werde!
Ich grinse blöde, weil … wofür sollte ich Ruhe brauchen?
„Christopher? Kannst du mir kurz helfen?“, ruft Dad von unten und ich
rolle mich vom Bett.
„Klar! Ich komme!“ Meine Zimmertür steht offen, momentan wäre es zu
nervig, sie ständig zu schließen, denn auch ich renne noch mit Kartons durchs
Haus, wenn ich irgendwas finde, was die Leute vom Umzugsservice falsch
abgestellt haben.
Das passiert eben, vielleicht haben wir die Kisten auch nicht deutlich
genug beschriftet.
Ich hüpfe die Treppe hinab ins Erdgeschoss, in dem das Wohnzimmer, die
offene Küche und nach hinten raus das Zimmer meines Vaters liegen.
Dad steht an der Anrichte, die unter den Fenstern zur Straße gelegen ist,
und hat haufenweise Küchenutensilien, Geschirr und Töpfe um sich herum
gestapelt.
„Was ist los?“, frage ich und verkneife mir ein Grinsen.
Dad und ich sind schon seit zehn Jahren allein. Meine Mum ist irgendwann
bei Nacht und Nebel abgehauen. Ein Kind und ein Mann erschienen ihr als
hinderlich bei ihrer Selbstverwirklichung – zumindest stand das in ihrer Notiz
an Dad, die er mir erst gezeigt hat, als ich sechzehn wurde.
Ich habe seit ihrem Weggang nichts von ihr gehört und lege auch keinen
Wert darauf.
Dad war immer für mich da und ich kann mit jedem Problem zu ihm gehen.
Deshalb war er auch der Erste, dem ich erzählt habe, dass ich Jungs
deutlich interessanter finde als Mädchen.
Ich weiß noch genau, was er damals darauf geantwortet hat: „Klasse, das
erspart dir anatomische Erkundungstouren!“
Anschließend haben wir beide uns kaputtgelacht und er hat mir von seinen
ersten Testläufen in Sachen Beziehung und Sex erzählt – was nur zu weiteren
Lachflashs geführt hat.
Mein Dad hat einen ziemlich morbiden Beruf, was ihm einen krass schwarzen
und absolut selbstironischen Humor beschert hat, den ich durchaus teile.
Er ist Gerichtsmediziner und als solcher arbeitet er ab Montag auch im
örtlichen Krankenhaus.
Ich muss zugeben, als er mir vor ein paar Monaten gesagt hat, dass wir in
den Sommerferien zwischen meinem Junior- und meinem Senior-Jahr an der High-School
in seine Heimatstadt ziehen würden, war ich nicht sonderlich begeistert, meine
Freunde und alles hinter mir lassen zu müssen, nur um in einem Jahr fürs
College schon wieder umzuziehen.
Aber andererseits habe ich nicht übermäßig viele Freunde und im Zeitalter
von Videotelefonie und Internet ist es wirklich nicht schwer, den Kontakt
aufrecht zu erhalten – wenn man es will.
Also verbringe ich mein letztes Jahr mit meinem Dad nun in Santa Flora,
einer Kleinstadt in Neuengland, genauer gesagt in Maine. Sehr abgeschieden,
sehr ländlich gelegen.
Santa Flora hat, wie ich seit meiner ausgiebigen Recherche im Netz weiß,
immerhin zehntausend Einwohner und ein sehr großes Schulzentrum, ein
respektables Krankenhaus und alle nötigen Geschäfte, auf die man nicht
verzichten will.
Die letzten zwei Stunden der Strecke, die Dad und ich mit dem nagelneuen
Truck zurückgelegt haben, nachdem wir am Flughafen gelandet sind, hat
ausschließlich dichte Laubwälder, Hügel, Klippen und Seen gezeigt.
Es ist wirklich-wirklich ländlich hier.
Allerdings muss ich zugeben, gefallen mir die Landschaft und die Ruhe,
die man offensichtlich beim Wandern finden kann, sehr.
Vielleicht entdecke ich ja einen schönen Platz an einem See, an dem ich lesen
und abschalten kann?
Das wird sich wohl noch zeigen, denn auch unser Garten und mein Zimmer
sind schon wirklich tolle Orte, um sich darin aufzuhalten, während ich auf Drachen
herumfliege oder Vampire pfähle …
Ich kichere und mir wird erst jetzt bewusst, dass Dad längst geantwortet
haben muss.
Er grinst mich an. „Na, in welcher Fantasywelt steckst du nun wieder?“,
fragt er mit neckendem Unterton.
„Sorry, ich hab über Santa Flora nachgedacht. Wie ist es für dich, wieder
in deiner Geburtsstadt zu sein?“
„Erstaunlich gut und irgendwie schräg“, sagt er. „Die Stadt ist gewachsen
und hat sich sehr verändert, seitdem ich damals weggezogen bin.“
Ich nicke verstehend. „Ja, kann ich mir vorstellen. Also? Wie kann ich
dir im Weg herumstehen?“
Er lacht. „Könntest du die Töpfe in die großen Laden unterm Kochfeld
räumen, während ich überlege, wo ich die ganzen Teller, Tassen und Gläser
unterbringe?“
„Sicher. Ich vermute, wir bestellen uns was, weil wir die Küche nicht
rechtzeitig fürs Dinner fertig kriegen?“
„Mein schlauer Sohn! Allerdings wollte ich heute mit dir in den Diner
gehen, in dem sich zu meiner Zeit die Jugend getroffen hat. Lust?“
Ich schürze nachdenklich die Lippen. „Ja, wieso nicht? Ist schließlich
Freitag und ich habe weitere drei Wochen vor mir, bis die Schule losgeht.
Vielleicht sollte ich bis dahin herausfinden, wo man hier hingehen kann und wo
lieber nicht?“
„Das bekommst du sicher sehr schnell heraus. Außerdem kann ich dir auf
dem Weg dahin den Buchladen zeigen …“ Seine Augenbrauen wackeln auf und
ab, während er mich wissend angrinst.
Klar, wenn ich eine Droge habe, von der ich immens abhängig bin, sind es
Bücher!
„Oh, das klingt super, dann weiß ich wenigstens, wo ich mich herumtreiben
kann, wenn es regnet oder mir der Lesestoff ausgeht.“
„Hattest du nicht schon einen Lageplan von allen für dich interessanten
Orten erstellt?“, fragt er erstaunt.
„Ich habs versucht, aber Google Maps hat mir keinerlei
Street-View-Ansichten ausgespuckt.“
Er nickt. „Dann lass uns hier fertig werden und anschließend gehen wir
essen.“
~*~
Es ist erst achtzehn Uhr, als wir uns auf den Weg zum Diner machen, der
an der Hauptstraße gegenüber einem Heilsarmee-Laden liegt.
Hier im Zentrum stehen noch wirklich schöne historische Häuser, die
verraten, wie alt Santa Flora sein muss.
Zahlen sind dahingehend immer so abstrakt! Aber die Gebäude zu sehen und
quasi das Alter einatmen zu können, hat etwas für sich.
Ein paar hundert Meter die Straße rauf liegen, wie Dad mir verrät, das
Gerichtsgebäude, das Rathaus und die Bibliothek, die allesamt noch aus
Gründerzeiten stammen.
Außerdem liegt der langgezogene Innenstadtpark mit Skatebahnen, riesigem
Spielplatz und einem großen Teich gegenüber den drei historischen Gebäuden.
Der Diner, vor dem wir schräg einparken, weil die Straßen hier
unglaublich breit sind, hat große Glasfronten und die typischen lederbezogenen
roten Bänke in Nischen. Die Beleuchtung strahlt nach draußen auf den Gehsteig
und wir gehen hinein, um mehr oder weniger sofort angestarrt zu werden.
Nun ja, ich fürchte, nicht Dad, sondern ich werde von oben bis unten
gemustert.
Viele der Nischen sind belegt, aber ich entdecke eine freie und stupse
Dad an, bevor ich darauf zu gehe.
Er folgt mir nicht sofort, sondern tritt an einer Stelle, an der die
Barhocker an der Theke nicht belegt sind, auf die Frau zu, die dahinter steht.
„Hey Marjorie, wie geht es dir?“, fragt er.
Während ich mich auf eine der Bänke plumpsen lasse, sehe ich, wie sie ihn
erstaunt mustert und dann loskreischt. „Ist es zu glauben! Jimmy! Jimmy komm
nach vorn! Patrick ist wieder in der Stadt!“
Ich grinse vor mich hin und schnappe mir die Karte, die neben Ketchup,
Majo und Serviettenspender am Fenster auf dem Tisch steht, um schon mal zu
sehen, was ich hier essen will.
Es dauert nicht lange, dann setzt Dad sich mir gegenüber hin und die
Kellnerin bleibt vor dem Tisch stehen.
„Du bist also Patricks Sohn Christopher?“, fragt sie das Offensichtliche
und ich nicke trotzdem.
„Stimmt genau. Freut mich!“, sage ich und ergreife ihre ausgestreckte
Hand, um sie zu schütteln.
„Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite“, versichert sie fröhlich
lachend und nimmt nach ein bisschen Smalltalk unsere Bestellungen auf.
Ein Cheeseburger mit Spiralfritten und einem gemischten Salat steht eine
Viertelstunde später vor mir, während Dad sich ein Steak mit normalen Fritten –
und natürlich keinen Salat – bestellt hat.
Ich muss zugeben, es schmeckt richtig geil, und ich nehme mir vor, öfter hierher
zu kommen.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du hier sofort auffallen würdest“, murmelt
Dad und deutet mit einem subtilen Nicken hinter mich.
Ich müsste mich komplett umdrehen, um nachzusehen, wovon er spricht,
deshalb hebe ich nur die Schultern. „Vielleicht gibt es hier nicht so viele
Leute in meinem Alter und ein Neuer kann nicht unbemerkt bleiben?“, schlage ich
vor.
Dad kichert. „Wenn du mich fragst, sehen die Kids da aus, als wäre mein
Sohn das achte Weltwunder …“
„Na klar!“, maule ich und gucke mich nun doch kurz um, während ich
versuche, so zu tun, als hielte ich Ausschau nach Marjorie.
Okay, die Jugendlichen, von denen Dad spricht, sind schnell ausgemacht.
In zwei Nischen jenseits der Eingangstür sitzen bunt gemischte Reihen von Jungs
und Mädchen, die natürlich versuchen, mich zu ignorieren, als ich sie kurz
ansehe.
Ich drehe mich wieder um und grinse in mich hinein.
„Der Neue zu sein, das ist etwas, was ich noch nie erlebt habe“, sage ich
mehr zu mir selbst.
Bislang sind Dad und ich nie nennenswert umgezogen und ich war entsprechend
keine Kleinstadtsensation.
„Du wirst es hinkriegen, da bin ich sicher.“
Ich grinse. „Danke für dein Vertrauen, Dad!“, albere ich. „Wenn ich es
recht bedenke, bietet es ja auch einige Möglichkeiten.“
„Genau so sehe ich das auch, Chris! Du solltest in deinem letzten
Schuljahr endlich mal ein wenig aus deiner Komfortzone herauskommen und etwas
mehr leben. Die Bücher laufen dir nicht weg, deine Jugend schon.“
Ich weiß, er hat recht, aber es ist mir nie leichtgefallen, auf andere
zuzugehen.
Klar, ich habe das gemacht, was alle in Los Angeles machen – surfen,
schwimmen, sonnenbaden. Entsprechend sehe ich aus, was an einem Ort wie diesem
schon dafür sorgen dürfte, dass ich auffalle.
Dabei habe ich mich in LA immer darum bemüht, nicht aufzufallen!
Jetzt werde ich mich entweder umgewöhnen oder damit leben müssen, dass
ich als braungebrannter Surfertyp abgestempelt werde …
Ich sehe kurz an mir herab.
Enge Jeans und ein slimfit T-Shirt, momentan sogar noch einen Hoodie von
meiner alten Schule in Los Angeles.
Letzteren habe ich an, weil es hier in Neuengland trotz der Tatsache,
dass wir uns in der zweiten Augustwoche befinden, im Vergleich zur Westküste
echt kühl ist.
Ich kann nur hoffen, dass ich mich an diesen Klimawechsel bald anpasse,
denn eigentlich mag ich meine zahlreichen abgeschnittenen Jeans und die
Tanktops sehr gern, die vorerst wohl in meinem Schrank vermodern werden.
Ein Seufzen entkommt mir.
Mit den langen Ärmeln muss ich vielleicht auch nicht mehr ständig meine vielen
Lederarmbänder oder die Uhr mit dem extrabreiten Lederriemen tragen, um zu
verdecken, was ich am liebsten nie wieder sehen würde …
Um mich von diesen düsteren Gedanken abzulenken, blicke ich durch die
Glasfront des Diners zur Straße.
Der Heilsarmee-Laden macht gerade zu und mir bleibt der Mund offen
stehen, als ich den Typen entdecke, der die Angebotsständer vom Gehweg in den
Laden schiebt.
Groß, sehr nett gebaut, ein wahnsinnig schönes Lächeln, das er gerade
einer vorbeigehenden Frau schenkt, die offenbar mit ihm spricht. Dazu dunkles
Haar, das er zu einem unordentlichen Man Bun gebunden trägt.
Verdammt! Der Kerl ist unglaublich sexy!
Ich beobachte ihn weiter, bis er die Ladentür abschließt und weggeht.
Dad und ich haben unsere geleerten Teller eben von uns geschoben, er
trinkt noch einen Kaffee und ich bestelle einen Milchshake bei Marjorie.
Immerhin muss ich herausfinden, ob die Shakes mit denen aus L.A. mithalten
können.
Genüsslich sauge ich an dem breiten Strohhalm und nicke vor mich hin.
„Na? Schmeckt er dir?“, fragt Dad und grinst breit. „Den Schokoshake habe
ich damals geliebt. Heute schlägt er mir vermutlich auf die Linie, wenn ich in
meine alten Gewohnheiten zurückfalle.“
Ich kichere. „Dann werde ich dein Vermächtnis heroisch fortführen und ihn
dir zu Ehren trinken“, sage ich und grinse frech.
Dad lacht. „Gute Idee!“
„Was meinst du? Hat der Buchladen wohl noch auf?“, frage ich und sehe auf
meine Armbanduhr.
„Oh, das könnte ein Problem werden, fürchte ich. Zumindest kann ich mir
nicht vorstellen, dass die Geschäfte hier besonders lange geöffnet sind.“ Dad
sieht mich bedauernd an. „Aber du könntest Marjorie fragen, sie sollte so etwas
wissen.“
Marjorie kommt am Tisch vorbei und ich frage sie wegen des Buchladens.
„Oh, der hat noch auf. Wenn du dich beeilst, solltest du von Quentin noch
bekommen können, was du haben willst“, erklärt die Kellnerin.
„Das wäre klasse! Ist es okay, wenn ich schnell losgehe?“, wende ich mich
an Dad und er nickt. „Ich warte hier auf dich.“
„Cool, dann bis später!“
~*~
Ich jogge die Hauptstraße hinauf und biege ab, um den Laden zu erreichen,
den Dad mir vorhin gezeigt hat.
Von vorn sieht man lediglich ein vielleicht fünf Meter breites
Schaufenster mit seitlich gelegener Tür.
Die Holzrahmen von Tür und Fenster sind in dunklem Blau lackiert und auf
dem Glas der Tür, die ich nun nach innen schiebe, ist der Name des Geschäfts in
einer Art Filmrollenschrift aufgeklebt: Wordscapes – das Kino für den Kopf.
Klingt spannend!
Ich lasse die Tür hinter mir ins Schloss gleiten und sehe mich um.
Der Raum ist hell und trotzdem irgendwie gemütlich. Zahlreiche Holzregale
mit Genre-Beschriftungen und den entsprechenden Büchern gefüllt, erwarten mich.
Ein schneller Rundumblick und ich wende mich zur Fantasy-Abteilung, die
laut einem Schild, das von der Decke hängt, weiter hinten im Ladenlokal liegt.
Unterwegs komme ich am niedrigen Verkaufstresen vorbei und grüße den
älteren Mann, der dahinter in einem Sessel sitzt und liest.
„Guten Abend!“
„Oh, guten Abend, junger Mann! Wie kann ich helfen?“, fragt er, klappt
das Buch ordentlich zu und steht auf.
Ich lächle. „Ich … bin neu in der Stadt und wollte mich bei Ihnen
umsehen, damit ich weiß, wo ich zukünftig meine Lesesucht befriedigen kann.“
Er nickt und ich sehe es in seinen grauen Augen aufblitzen. „Du musst Patricks
Junge sein! Ich hätte nicht gedacht, dass er dir das Lesen nähergebracht
hat …“
„Ja, das stimmt. Ich bin Christopher Simmons. Sie kennen also meinen
Vater?“
Der Mann nickt. „Ein Tunichtgut der allerschlimmsten Sorte, aber sag ihm
nicht, dass ich es dir verraten habe, ja? Er hat wegen einer verlorenen Wette
einmal gemeinsam mit dem Bürgermeister und dem Schuldirektor mein Schaufenster
beschmiert.“
Ich staune und habe ganz sicher tellergroße Augen. „Mein Vater soll so
etwas …?“
Der Mann winkt ab. „Alles Schnee von gestern, damals waren sie noch an
der High-School. Komm nur, welche Abteilung reizt dich denn, mein Junge?“
„Fantasy. Sowohl klassisch als auch urban“, erwidere ich und folge ihm.
Das Geschäft ist nach hinten hin wirklich lang und die Regale mit meinen
Lieblingsgeschichten sind vollgestopft mit allem, was mein Leserherz begehren
könnte.
„Wahnsinn! Eine solche Auswahl!“, lobe ich überrascht und trete näher an
das Regal mit Urban Fantasy. „Können Sie mir etwas empfehlen? Ich habe zwar
schon ziemlich viel gelesen, aber vielleicht gibt es was, was hier in der
Gegend spielt?“
Er kichert. „Da gibt es jede Menge! Neuengland ist ja auch historisch
betrachtet eine Fundgrube für mystische Geschichten!“
„Und womit sollte ich anfangen? Hexen? Fabelwesen?“, frage ich, nachdem
ich die Reihen mit den Neuengland-Büchern durch seine Geste gefunden habe.
„Die Geschichten über Vampire sind bei den Leuten in deinem Alter sehr
beliebt. Nach all dem Glitzerkram der vergangenen Jahre will der Hype um solche
Geschichten nicht nachlassen.“
„Verstehe. Ich mochte die Biss-Reihe sehr gern, muss ich zugeben. Der
Bruch mit allen möglichen Vampirklischees war erfrischend.“
Der Buchhändler lächelt und wendet sich zur Tür, als die Klingel einen
weiteren Kunden ankündigt.
„Kommst du zurecht?“, fragt er und ich nicke, bevor er in Richtung
Kassentheke davon geht.
Ganz in Ruhe suche ich die Regale nach etwas ab, das mich anspricht.
Immer wieder ziehe ich einzelne Bücher aus den Reihen und sehe mir das Cover
und den Klappentext an.
Dieses hier klingt interessant!
Es geht um eine Kleinstadt in Vermont, in der Vampire heimlich die Fäden
ziehen und ganz normal und unentdeckt unter den Menschen leben.
Ja, das Ding geht mit mir nach Hause!
Ich nicke vor mich hin und wende mich zum vorderen Teil des Ladens, nur
um mit der rechten Schulter in jemanden hineinzulaufen.
„Oh!“, mache ich, trete einen hastigen Schritt zur Seite und hebe den
Blick von dem Buch zu meinem unerwarteten Hindernis.
Ich starre mein Gegenüber von oben bis unten an und sehe schließlich in
seine Augen.
Dunkelgrün, Petrol.
„Na? Siehst du irgendwas, was dir gefällt?“, fragt der Typ mit einem
herausfordernden Grinsen.
„Kann nicht klagen“, erwidere ich und mustere seine Frisur einen
Augenblick lang.
Das längere Deckhaar fällt um seine Schläfen und hat dieselbe Farbe wie
seine Augen. Petrolgrün.
Allerdings mit einem zusätzlichen silbrigen Schimmer.
Er lacht leise und mir wird bewusst, dass er mich ebenso von oben bis
unten beäugt.
„Dito“, sagt er schließlich und nickt beifällig. „Wie heißt du?“
„Wer will das wissen?“ Dieses Spielchen kann ich auch spielen!
Er grinst breiter. „Ganz schön frech, Newbie“, befindet er und klingt zu
meiner Verwunderung anerkennend.
„Wenn du weißt, dass ich neu bin, kann es hier wohl nicht allzu viele
Jugendliche geben, was?“
Er hebt die Schultern, dass seine schwarze Lederjacke leise knarzt.
„Sagen wir, ich würde mich daran erinnern, wenn ich dich schon mal gesehen
hätte.“
„Du hast also ein gutes Gedächtnis. Gratulation!“, sage ich leicht
ironisch. Irgendwie hat dieser Typ was … Ich muss herausfinden, wer er
ist!
„Ja, habe ich, Newbie. Und? Erfahre ich deinen Namen?“
Ich schüttle den Kopf. „Den muss man sich verdienen.“
Mir kommt gerade sehr zugute, dass ich in Los Angeles aufgewachsen bin.
Da herrscht definitiv ein anderer, sehr viel selbstbewussterer Ton als in einem
Kaff wie Santa Flora.
Ihm scheint das zu gefallen.
„Dann solltest du mir verraten, wie ich das schaffe.“
„Ganz einfach“, sage ich und gehe extra-dicht an ihm vorbei, meine Augen
fest auf seine geheftet. „Überrasch mich.“
Ich wende mich mit einem frechen Grinsen um und gehe zum Tresen, hinter
dem der Buchhändler wieder in seinem Sessel Platz genommen hat.
Mit meinem nagelneuen Buch verlasse ich wenig später den Laden und kehre
zum Diner zurück.
Natürlich lassen mich die Gedanken an den Typen mit den grün-blauen
Haaren nicht los.
Als ich so dicht an ihm vorbei gegangen bin, habe ich seinen Duft
eingeatmet und grüble seitdem, wonach genau er gerochen hat. Es war eine
Mischung von ein paar Sachen, die ich wirklich gern rieche. Zimt und
Sandelholz, oder so …
Jedenfalls roch er wahnsinnig gut und wenn ich bedenke, wie affengeil er
aussah …
Dümmlich grinsend setze ich mich wieder in die Nische zu meinem Dad und
lege meine Beute auf den Tisch.
„Ah! Du warst erfolgreich!“, sagt er und zieht sich das Paperback über
den Tisch heran, um es genauer anzusehen und umzudrehen. Er studiert den
Klappentext und kichert. „Hoffst du heimlich darauf, dass Santa Flora auch so
ist?“
Er neckt mich, das weiß ich genau, deshalb lache ich kopfschüttelnd. „Mir
reicht es, wenn ich in meiner Fantasie mit Vampiren zu tun habe.“
„Dann hoffe ich, die Geschichte ist gut“, erwidert er und gibt mir das
Buch zurück.
„Sie birgt jedenfalls Potential, würde ich sagen“, erkläre ich und
bestelle noch einen Schokoladenmilchshake bei Marjorie.
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