Leseprobe
Kapitel
1
Stalking und Sexwahn
Oliver
„Scheiße, ist das
geil!“, keucht der namenlose Kerl hinter mir, während er mich in der halbdunklen
Gasse neben dem Schwulenclub fickt.
Meine Handflächen
gegen die Backsteinwand gelehnt, versuche ich zu ignorieren, wie viel Dreck und
Rotz hier kleben mag.
Alles, was momentan
für mich zählt, ist der Schwanz in meinem Inneren, der mich ablenkt.
Wovon? Das tut
nichts zur Sache. In jedem Fall brauche ich die Zerstreuung, damit ich nicht
nachdenken muss.
Die anhaltenden,
rhythmischen Bewegungen verschaffen mir einen leeren Kopf und die Geilheit, die
ich will.
Stöhnend strecke ich ihm meinen nackten Arsch deutlicher entgegen.
Es dauert nur
Minuten, dann grunzt er mir seinen Orgasmus ins Ohr. Ich lasse mich von seinen
letzten, langen Stößen mitreißen und keuche leise, während mein Kopf haltlos in
den Nacken fällt.
Fertig.
Erledigt.
Er zieht sich
zurück, klatscht mir seine Hand auf den nackten Arsch und sagt: „War nett“,
bevor er das Gummi abstreift, in hohem Bogen in den Abfallcontainer auf der
anderen Seite der Gasse wirft, sich anzieht und geht.
Ich beruhige meinen
Atem, schlucke trocken und lehne meine Wange an die Wand, ohne mich anzuziehen.
Mir ist egal, dass
meine Jeans noch in den Kniekehlen hängen.
Kalt drückt sich
das raue Gestein in meine Wange, kratzt über meine erhitzte Haut.
Ich schließe die
Augen und verlasse mich.
Das geht nur nach
einem Orgasmus.
Mitreißende
Schwerelosigkeit, die es mir erlaubt, meinen Geist auf Reisen zu schicken.
Weit weg, in die
Vergangenheit, in die Einbildung einer heilen, guten Welt.
Der kühle Wind, der
meinen Arsch streift, lässt mich frösteln. Ich stoße mich mit einem bedauernden
Seufzen von der Backsteinwand ab, um mich zu drehen und meine Hose wieder
hochzuziehen.
Vorbei.
Zu schnell vorbei.
Es erscheint mir,
als hielte der Rausch des Orgasmus’ jedes Mal weniger lange an.
Falls das den
Tatsachen entsprechen sollte, habe ich auf Dauer ein Problem …
Satan
Ich bin ein
verdammter Stalker!
Nicht, dass ich
jemals einer hätte sein wollen, und rein pathologisch ist diese Bezeichnung
auch nicht korrekt, aber ich verfolge diesen Typen nun seit Wochen.
Ich bilde mir ganz
sicher nicht ein, dass wir eine Beziehung haben, zumindest keine, die man mit
dem Wort ‚Partnerschaft‘ gleichsetzen könnte. Auch haben wir nie viel geredet, und
doch fühle ich mich zu ihm hingezerrt, von ihm auf eine brutale, unabdingbare
Art angezogen.
Vielleicht ist es
doch krankhaft, so darauf zu reagieren?
Vielleicht hätte
ich mich nach der ersten Begegnung mit ihm, die nicht einmal hier im La Bouche stattgefunden hat, einfach
fernhalten müssen?
Meine Gedanken sind
so vernünftig wie abwegig.
Ich habe nämlich
nicht!
Er zieht an mir,
lässt mich um sich kreisen, ohne dass ich diese unheimliche Faszination auch
nur halbwegs verstehen könnte.
Nicht einmal seinen
Namen kenne ich.
Aber ich weiß sehr,
sehr genau, wie er sich verhält, wenn er gefickt wird.
Ein tiefes Grollen
steigt aus meiner Kehle auf, rollt über die Stimmbänder und ich klappe hastig
den Mund zu, damit der Ton nicht hörbar für andere entkommen kann.
Ein mieser Spanner
scheine ich auf jeden Fall zu sein, auch wenn mich nicht erregt, was ich
beobachte, wenn ich mich wie jetzt in den tiefen Schatten der Gasse verstecke,
in der er sich hin und wieder ficken lässt.
Keine Ahnung, eine
echte Abneigung gegen den Darkroom im La
Bouche scheint er jedenfalls nicht zu haben – dort habe ich ihn bereits
gehabt. Dreimal.
Trotzdem drücke ich
mich wie ein mieses Stück Scheiße an die Wand am Ende der Gasse, damit ich ihn
sehen kann, ohne dass er mich bemerkt.
Verrückt,
meschugge, hirnverbrannt – ich weiß das alles, und wenn ich ihn nachher noch
ansprechen sollte, um ihn zum vierten Mal in den Darkroom zu entführen, werde
ich danach nach Hause fahren und mich selbst für den größten Idioten aller
Zeiten halten.
Meine
Selbstbeschimpfungen nützen nur nichts, ich werde es trotzdem tun, werde ihn
benutzen und beobachten, jedes verdammte Wochenende.
Dabei hätte ich
wahrlich Wichtigeres zu tun, als mich an jedem Wochenende einen Abend lang im berüchtigtsten
Schwulenclub der Umgebung herumzutreiben.
Ist eigentlich gar
nicht mein Pflaster. Gelandet bin ich hier ausschließlich seinetwegen!
Tja, das passiert,
wenn man jemanden verfolgt und beobachtet, nicht wahr?
In jedem Fall finde
ich die Faszination, die er auf mich abstrahlt, nahezu monströs!
Zudem ist sein Verhalten
so … schräg!
Jetzt gerade
passiert es wieder.
Halbnackt steht er
noch immer an der Wand, obwohl der Kerl, der ihn eben noch so hart durchgefickt
hat, längst verschwunden ist.
Mein Unbekannter
lehnt dort, den Kopf in den Nacken gelegt, die Hosen in den Kniekehlen, und die
Augen geschlossen.
Er schluckt sichtbar,
seine Silhouette zeichnet sich klar ab, besonders jetzt im Profil.
Ich verspüre den
unbändigen Drang, über seinen langgestreckten Hals zu lecken, jede Kontur seiner
Kehle zu erforschen.
Das Seufzen, das
mir entkommt, ist hoffentlich leise genug.
Wieso macht er mich
so an? Wieso kann er mich unwissentlich in diese Abhängigkeit zwingen?
Oliver
Ich kehre in den
Club zurück, bestelle mir ein Bier und sondiere die Lage.
Klar, das hier ist
ein absoluter Baggerschuppen. Wer ficken oder eines der Glory Holes nutzen
will, kommt hierher.
Zu diesen willigen,
notgeilen Kerlen gehöre auch ich.
Es mag mir nicht
gefallen, dazu in diesen miesen Club gehen zu müssen, aber was bleibt mir?
In anderen Läden
wollen die potentiellen Fickpartner auch reden, eventuell sogar was trinken
oder sind so wählerisch, dass ich vermutlich überhaupt keine Chance bei ihnen
hätte.
Dabei brauche ich
die Reize, die Stimulanz durch andere.
Ein privat und mir
selbst verschaffter Orgasmus wirkt nämlich leider nicht.
Das stört mich, um
ehrlich zu sein, aber immerhin kann ich mit verschiedenen Sexpartnern auch
deutlich mehr Höhepunkte erleben als mit nur einem.
„Na, komm schon“,
spricht mich eine nicht ganz unbekannte Stimme von links an. Ich wende den
Kopf, stoße mit dem Typen an, der mich bereits in den vergangenen Wochen ins
Himmelreich gefickt hat, und grüble, ob ich seinen Namen kenne.
Ist belanglos.
Namen interessieren mich nicht mehr. Höflichkeit ebenso wenig.
In mir herrscht ein
emotionales Vakuum, das ich ganz sicher nie wieder aufgeben kann.
Es verhindert den
Schmerz, lässt mich erleben und genießen.
Hastig schüttle ich
diese Gedanken aus meinem Kopf. Ich will ihn leer und frei, leicht und sorglos.
Der schwarzhaarige
Halbgott neben mir sieht mich erstaunt an. „Keinen Bock?“
Ich strahle ihn an.
„Oh, doch! Wenn du mich willst, gehöre ich dir.“
Seine grünbraunen
Augen blitzen zufrieden auf, seine Lippen schürzen sich leicht. „Keine Angst,
dass man dir diese Leichtlebigkeit negativ auslegen könnte?“
Ich winke ab und
trinke einen Schluck. „Glücklicherweise ist mir vollkommen egal, ob und was
jemand über mich sagen oder denken könnte. Interessiert dich etwa, was die Kerle
hier absondern, wenn du ihnen den Rücken zudrehst?“
Sekundenbruchteile
später steht er dicht hinter mir und reibt seine Härte an meinem Arsch.
„Ich finde
spannender, wenn du mir den Rücken zudrehst“, raunt er lasziv in mein Ohr und
lacht kehlig über die erregten Schauder, die mich zittern lassen.
Vorfreude. Das hier
ist Vorfreude auf den nächsten Orgasmus. Ich will wieder abtauchen in die Welt
der Vorstellungskraft, in meine wunderbare fantastische Vergangenheit.
Deshalb drücke ich
ihm meinen Arsch entgegen und lausche seinem tiefen, zufriedenen Brummen.
Satan
„Na, komm. Sonst
reiße ich dir hier und jetzt die Klamotten runter“, versichere ich ihm, und er
stellt eilig das Glas ab, um mir zu folgen.
Wenn ich beobachte,
wie andere ihn ficken, macht mich das kein bisschen an, aber wenn er mir nah
ist, mir sogar folgt wie jetzt, werde ich augenblicklich dermaßen geil, dass
ich alle Beherrschung benötige, die ich aufbringen kann.
Selbiges gilt, wenn
er nach einem Fick in diese Versunkenheit abtaucht …
Aus irgendeinem
Grund fühle ich mich ihm dann näher, als ich dürfte.
In einer halben
Stunde spätestens erlebe ich ihn wieder in diesem bemerkenswerten Zustand, und
das, weil ich ihn ihm verschafft habe!
Der Namenlose ist
der Einzige, den ich hier im Club auch nur eines zweiten Blickes würdige, und
ganz sicher der Einzige, den ich ficken will.
Den bisherigen
Abend habe ich damit verbracht, Abfuhren zu erteilen und ihn zu beobachten.
Nur ihn.
Es ist krank, ich
weiß, aber es hilft mir, wenn ich aktiv an dem beteiligt bin, was er nach dem
Sex jedes Mal zu durchleben scheint.
Sobald er nach mir
die Tür zum Darkroom durchschritten hat, ziehe ich ihn mit mir und wir
erreichen eine der leeren Kabinen im hinteren Teil des verwinkelten Raumes.
Ich würde gern so
viel mehr tun, als ihn hier ein weiteres Mal zu ficken, ich will ihn
streicheln, festhalten, ihm zeigen, wie sehnsüchtig ich aus mir unerfindlichen
Gründen bin.
Aber nicht hier,
nicht an diesem Ort, den ich innerlich für seine Existenz verfluchen will.
Nein, verdammt!
Nirgendwo anders könnte ich tun, was er will, ihm geben, was er offensichtlich
braucht.
Dieser Mann ist
nicht einfach notgeil oder sexsüchtig, es gibt einen Grund für all das – auch
für mein Verhalten!
Wenn ich nur
herausfinden könnte, worin dieser Grund liegt …
Mit einem Seufzen unterbreche
ich kurzfristig meine Gedanken, weil er an meinen Hosen nestelt und die Knöpfe
öffnet.
Natürlich bin ich
erregt! Wie sollte ich das nicht sein, angesichts der Tatsache, dass er so viel
mehr für mich ist als ein bloßer Zwischendurchfick in einem miesen Schuppen?
So schade ich es
finde, dass er wie immer sofort zur Sache kommen will, so sehr törnt es mich
andererseits auch an, deshalb schiebe ich seine hastig geöffneten Hosen ebenso
herab, wie er meine, und drehe ihn um.
Seine schlanken
Hände legen sich an die glatte, dunkle Wand der Kabine und er streckt mir
seinen Arsch hin.
Ich beeile mich,
ein Gummi überzustülpen, lasse Gleitgel aus dem an der Wand befestigten Spender
in meine Hand laufen und meine Finger danach in seine Spalte dringen.
Ich bin zu geil auf
ihn, um noch darüber nachzudenken, dass ich weder der Erste noch der Letzte
bin, der ihn heute ficken wird.
Beides schmerzt
mich auf eine unerklärliche Art.
Immerhin weiß ich
seit Wochen, wie er drauf ist, wenn er hierher kommt …
Vielleicht sollte
ich lieber damit aufhören, mich von meinen seltsamen Gefühlen für diesen
Fremden so versklaven zu lassen.
Leichter gesagt,
als getan!
Ich überprüfe die
Weichheit seiner Muskelringe, lasse meine Finger zweimal tief in ihn gleiten
und halte ihn und meinen Schwanz anschließend in Position, um einzudringen.
Er keucht, kommt
meinen Stößen entgegen.
Oliver
Keine halben
Sachen, immerhin will ich einen weiteren Orgasmus spüren, mich in die
Gedankenwelt, die er mit sich bringt, versenken.
Ich stöhne hemmungslos,
genieße, dass der namenlose Hengst hinter mir sich in mir versenkt.
Wieder und wieder.
Keuchend ergebe ich
mich seinen Berührungen, seinem Stöhnen und den festen Griffen seiner Hände in
meinen Seiten.
Fahrige Finger wandern
über meine Haut, streichen über meine Brust, necken beinahe schmerzhaft meine
Nippel und bringen mich dazu, mich dichter an seinen erhitzten Leib zu drängen.
Für den Bruchteil
einer Sekunde katapultiert mich diese Behandlung, dieses allgemein unsagbar
gute Gefühl in die Vergangenheit, dann in die Gegenwart und diesen absolut
erfüllenden Orgasmus, der mich mit seinen Wellen überrollt und von den Füßen
fegen will.
Ich habe große
Mühe, mich an irgendetwas festzuklammern.
Eine wild in meinen
Schläfen pochende Schwärze übermannt mich, lässt meine Knie einknicken, ohne
dass ich noch reagieren könnte.
Meine Hände gleiten
von der glatten Wand ab, umklammern den einzigen Halt, den ich wahrnehme, als
meine Sicht sich klärt und die Schwärze endlich weicht.
Arme, die mich
umfangen. Mich halten und meinen Sturz sofort gebremst haben müssen, da ich
keineswegs auf dem Boden liege.
„Hey, alles okay?“,
raunt eine aufgeregte Stimme.
Ich blinzle in das
Halbdunkel, muss mich orientieren.
„Hey, rede mit
mir!“ Noch einmal diese sanfte, weiche Stimme.
Klingt besorgt und
irgendwie … halbwegs vertraut.
Mühsam versuche
ich, mich aufzurappeln, drehe den Kopf und begreife erst jetzt, dass jemand
meinen Rücken fest an seine Brust presst.
„Bitte, sag was!“
„Ich …“ Ein
kläglicher Ton
„Oh Mann, Gott sei Dank!
Ich hatte schon Angst, du wärest bewusstlos!“
Ich schlucke hart
und schaffe es, mich wieder aufzurichten.
„Geht schon“, sage
ich, auch wenn ich gar nicht weiß, ob es das wirklich tut.
Sehr langsam wird der
schraubstockartige Griff um meinen Oberkörper lockerer, ich kann mich zu ihm
umdrehen.
„Wer …?“,
frage ich blöde, bis mir in den Kopf kommt, wo ich mich befinde. Mit wem.
„Komisch, mein Name hat dich in den vergangenen Wochen nie
interessiert“, erklärt er und lächelt mich schief an.
Ich muss wie immer zu ihm hochsehen, er ist ganz sicher
einen Kopf größer als ich, knappe zwei Meter dürfte er messen, zudem ist er
breitschultrig und irgendwie massig, ohne dick zu sein.
Ich kichere innerlich, vielleicht, weil mich meine eigenen
Gedanken so verwirren.
Dick, so ein Unsinn, an dieses Wort kann man im Zusammenhang
mit ihm nun wirklich nicht denken.
Bevor ich es selbst schaffe, richtet er meine Kleidung und
ich mustere ihn perplex.
Satan
„D-danke“, stottert er und sieht in meine Augen.
Habe ich vorher schon mal so viel Zeit gehabt, ihn zu
mustern?
Klar, bei unserem ersten Aufeinandertreffen, das in einem Baumarkt
stattgefunden hat, konnte ich sehen, dass er unglaublich schöne, wenn auch sehr
traurige Augen hat.
Wenn ich allerdings sagen sollte, welche Farbe sie haben,
müsste ich passen.
Da liegt zu viel Trauer, zu viel Düsternis in seinen Iriden,
als dass noch Platz für eine der klassischen Farben geblieben wäre.
Er hat vor diesen mittlerweile sechs oder sieben Wochen –
Blödsinn, es sind exakt sechs Wochen und drei Tage vergangen– in derselben
Regalreihe gestanden wie ich.
Für ein neues Bauprojekt in meiner Wohnung benötigte ich
lange Schrauben, er wanderte ziemlich ratlos an den zig kleinen Verpackungen
mit Nieten, Schrauben, Dübeln, Nägeln, Türbeschlägen und allem anderen Kram aus
der Metallwarenabteilung auf und ab und drehte dabei eine einzelne, verzinkte
Schraube zwischen Daumen und Zeigefinger.
Die Erinnerung an diese Situation lässt mich breiter lächeln
und ich nicke vor mich hin.
„Ich heiße Sebastian, aber meine Freunde nennen mich Satan.“
Was würde ich darum geben, sein Gesicht jetzt vernünftig
sehen zu können?!
Eindeutig – wir müssen raus aus dem Darkroom, aber dann wird
er sich verziehen und ich habe keine Chance mehr, mit ihm zu reden, mehr über
ihn zu erfahren!
Zwickmühlen sind wirklich nicht mein Ding, aber welche Wahl
habe ich schon?
Ich kann ihn schließlich nicht in dieser dämlichen Kabine
anketten, nur damit er sich nicht gleich vom Nächsten anquatschen und
durchnehmen lässt.
„Satan?“, hakt er nach und kraust die Brauen, das immerhin
kann ich erkennen, und meine Fantasie erledigt den Rest.
Ich habe mir sein schmales Gesicht mit den hohen
Wangenknochen und dem markanten Kinn sehr genau eingeprägt.
Noch ein Nicken. „Ist ein Nickname aus ’nem Chat.“
„Verstehe.“
Leider verrät er mir nicht, wie er heißt, und es ist mir
gerade auch zu plump, danach zu fragen.
Ich meine, hey, wir stehen noch immer direkt voreinander in
einem echt schäbigen Darkroom und ich habe ihn und mich gerade erst wieder
angezogen …
„Trinkst du noch ein Bier mit mir?“, wage ich mich vor,
obwohl ich bereits weiß, dass er ablehnen wird.
Sein Kopf neigt sich zur Seite. „Ein Bier? Wirklich nur
eines?“
„Ja“, krächze ich, weil mich seine Gegenfrage irgendwie
überrumpelt.
Voll peinlich, aber was soll ich machen?
Der Stalker-Schrägstrich-Spanner in mir jubelt, weil ich es
so vielleicht schaffen kann, die merkwürdige Ebene unserer Bekanntschaft in ein
normaleres Fahrwasser zu bringen.
„Ja, ein Bier“, bestätige ich und greife nach seinem
Handgelenk, damit er mir auf dem Weg zwischen Fickkabine und Theke nicht abhandenkommen
kann.
Möglicherweise ahne ich, dass ein weiterer Kerl, der ihn
fickt, mich nicht mehr so kalt lassen würde …
Oliver
Ich vergesse, noch weiter darüber nachzudenken, und nicke
einfach.
„In Ordnung“, sage ich verständlich und begreife zeitgleich,
dass ich mir das auch hätte sparen können.
Immerhin schleppt er mich bereits zum Tresen, an dem er mich
vorhin aufgegabelt hat.
„Zwei Bier!“, ordert er und lässt mich erst nach einem
prüfenden, endlos langen Blick los, als wir nebeneinander Halt machen.
Ich grüble ernsthaft, was hinter seiner Stirn vor sich geht.
„Sag mal, haben wir uns schon mal außerhalb gesehen?“, frage
ich, weil ein mildes Wiedererkennen in meinen Kopf schleicht.
Er nickt. „Einmal. Ist ein paar Wochen her. Im Baumarkt.“
Stirnrunzelnd lasse ich meinen Blick an seiner gesamten
Länge entlanggleiten und versuche, den Typen aus dem Heimwerkerladen mit ihm in
Einklang zu bringen. Es gab da lediglich eine Person, abgesehen von der
Kassiererin, mit der ich auch nur einen Blick getauscht habe.
Heute trägt er Lederhosen, schwere Boots, ein hautenges,
pechschwarzes Shirt mit angeschnittenen Ärmeln, das mir deutlich zeigt, wie
trainiert und muskulös er ist.
Ich seufze. So war ich auch mal.
Trainiert, ansehnlich, vernünftig ernährt und mit
Idealgewicht.
Davon bin ich heute wohl weiter entfernt als irgendwann
sonst in meinem Leben.
Scheint ihn jedoch nicht zu stören, wenn ich bedenke, dass
ich ihn seit ein paar Wochen immer wieder hier getroffen habe und er mich jedes
Mal flachgelegt hat.
Ich habe Schwierigkeiten, diesen Halbgott mit dem genervt
und abgehetzt aussehenden Kerl aus dem Baumarkt in seinen blauen Arbeitshosen
und dem Flanellhemd überein zu bringen.
„Du warst das?“, hake ich blöde nach.
„Japp. Schuldig im Sinne der Anklage“, albert er zu meinem
Erstaunen und legt seine Handfläche auf sein Brustbein. „Haben die Schrauben
eigentlich gepasst?“
„Ja, haben sie. Die Scharniere halten wieder. Danke noch
mal.“
Der Barkeeper schiebt uns die Gläser zu und Sebastian greift
nach beiden, um mir anschließend eines hinzuhalten.
„Gern geschehen …“, gibt er zurück und wir stoßen an,
bevor wir beide beherzt trinken.
Fasziniert beobachte ich, wie er den kleinen Schaumrest an
seiner Oberlippe mit der Zunge einfängt und muss hart schlucken.
Er ist sexy, unbestritten. Ich bezeichne niemanden als
Halbgott, der nicht wirklich so aussieht.
Was er wohl an mir findet?
Ich schnaube abfällig über mich selbst.
Was soll er schon finden? Einen Gestörten, der sich wahllos
durchficken lässt, der eher tot als lebendig aussieht und dessen Augen
jeglichen Glanz verloren haben.
Ich bin eine hässliche, abgemagerte Vogelscheuche!
„Wieso kommst du hierher?“ Seine Frage überrumpelt mich und
ich starre ihn sekundenlang einfach nur an, mitten in sein schön geschnittenes,
markantes Gesicht, sogar kurz in seine grünbraunen Augen.
„Weil ich es muss.“
Seine Augenbrauen, die ebenso schwarz sind wie sein Haar,
heben sich synchron in seine Stirn, sorgen für zwei Dackelfalten, die mich
reflexartig dazu bringen wollen, die Hand zu heben und sie wieder glatt zu
streicheln.
Hastig weiche ich einen Schritt zurück, stoße dabei fast
einen besetzten Barhocker um, und stolpere haltlos.
Bevor ich am Boden ankommen und mir den Rest meines Bieres
über die Klamotten kippen kann, hat Sebastian mich geschnappt und stellt mich
mühelos wieder auf die Füße.
Klar, ich wiege aktuell etwa fünfzig Kilo, das dürfte für jemanden
seines Kalibers keine nennenswerte Schwierigkeit darstellen, aber seine
Geschwindigkeit überrascht mich dennoch.
Blinzelnd sehe ich zu ihm hoch, als er mich, an sich gezogen,
einfach festhält. Mein Bierglas noch zwischen uns.
„Womit habe ich dich so erschreckt?“, will er leise wissen
und gibt mich frei, als ich ein wenig herumzapple.
Mein Glas landet auf der Theke und ich murmele: „Nicht du.
Ich habe mich selbst erschreckt.“
Mein Bekenntnis lässt ihn leise auflachen. „Das klingt
schräg, weißt du das?“
Umgehend nicke ich, weil ich das sehr wohl begriffen habe.
„Tut mir leid, ich glaube, ich sollte gehen.“
Nein, verdammt! Das will ich gar nicht, ich will noch mal in
den Darkroom, brauche noch mehr, will erneut diese schwerelose Reise in die
Erinnerung antreten!
Moment mal …
Ich verharre und blicke von schräg unten wieder in sein
Gesicht. Der letzte Orgasmus war anders.
Ich meine, anders ist gut, der Kerl hat mich ausgeknockt.
Satan
Die Art, wie er mich ansieht, löst in mir verschiedene
Reaktionen aus. Ich will ihn wieder an mich ziehen, ihm diese Unsicherheit
wegküssen, will, dass er seine Angst und alle Zweifel, die sich so überdeutlich
in seinem schmalen Gesicht abzeichnen, wegstreicheln.
Tja, nichts davon geht. Er hat von Anfang an Küsse jeglicher
Art abgelehnt und mir rigoros mitgeteilt, dass er keine will.
Ich muss mich zwingen, nicht wieder nach ihm zu greifen,
nehme stattdessen mein eben noch so hastig abgestelltes Glas wieder auf und
leere es.
„Du willst gehen?“, frage ich, weil das Schweigen mich am
Ende doch noch dazu treiben könnte, ihn wie ein Neandertaler über meine
Schulter zu werfen, ‚Uga! Uga!‘ zu brüllen und ihn wegzuschleppen – in meine
Höhle, versteht sich.
Er sieht mich nur weiter so an und macht keine Anstalten, zu
reagieren.
„Was ist los?“, frage ich, nun selbst unsicher geworden.
Verdammt, wo sind meine Coolness und meine schon fast
pathologische Selbstsicherheit eigentlich hin, seitdem ich ihm begegnet bin?
„Ich heiße Oliver“, sagt er schließlich und es dauert, bis
ich es kapiere.
Meine Fragen beantwortet er trotzdem nicht.
„Hallo Oliver, freut mich“, sage ich mehr aus einem Reflex
heraus, dabei freut es mich wirklich!
Ich lächle ihn an, er erwidert.
„Tut mir leid, ich bin … Ich muss jetzt wirklich
gehen.“
Seine eigene Verwirrung ob dieser erneuten Fluchtidee lässt
mich eilig meine Möglichkeiten abwägen und ich sage: „Soll ich dich nach Hause
bringen?“
Er sieht mich überrascht an.
„Mit dem Taxi, meine ich“, setze ich hinzu.
„Denkst du, ein Taxifahrer schafft es nicht allein, mich an
meinem Haus abzusetzen?“, fragt er ironisch und auch ein wenig lauernd.
Das entlockt mir ein weiteres gutmütiges Lachen.
„Nein, das kann nur ein Profi wie ich“, erwidere ich, um einen
echt ernsten Ton bemüht, während ich meine Mundwinkel nicht im Griff habe.
Seine Augen weiten sich. „Oh? Dann bist du kein wilder Hengst,
sondern ein professioneller Kerle-Heimbringer?“
Er kichert.
Klingt wirklich schön …
Oh klar, Satan, Weichspüler brauchst du für die nächsten
Jahre nicht mehr zu kaufen!
Ich nicke gewichtig. „Aber hallo!“
Er lacht nun richtig und ich werde wieder ruhig. „Hey, ganz
ernsthaft, ich würde dich nur abliefern und weiterfahren.“
„… und wüsstest dann meine Adresse …“, setzt er
hinzu.
Die weiß ich eh schon, aber das sollte ich ihm vielleicht
nicht ausgerechnet jetzt auf die Nase binden.
„Ja, wüsste ich. Hast du Angst?“
„Es gibt nichts, wovor ich mich noch fürchten müsste“,
erwidert er unerwartet hart und kalt.
Seine Worte schockieren mich mehr als sein bisheriges
Verhalten.
„Dann gibt es auch nichts, wofür es sich für dich zu leben
lohnt?“
Mann, müssen wir dieses Gespräch jetzt wirklich führen? Noch
dazu hier? In diesem Bumsschuppen?!
„Doch, Sex.“
Seine Antwort lässt mich ungläubig aufschnauben, dabei demonstriert
er das doch mit seinem Verhalten seit Wochen!
„Okay …“, sage ich gedehnt und weiß nicht, was ich
sonst noch dazu bemerken soll.
„Schockiert dich das etwa?“, fragt er provokant.
„Nein, ich sehe es ja.“
„Du ermöglichst es mir sogar.“
„Weißt du, wenn es dir nur darum geht, möglichst viel Sex zu
haben, gäbe es andere Möglichkeiten als diesen furchtbaren Laden“, sage ich,
weil ich selbst wirklich sehr ungern hier bin.
„Schon klar, aber dann ende ich jedes Mal biertrinkend und
redend mit den Kerlen.“ Sein spöttischer Ton gefällt mir.
„So wie jetzt?“
Er nickt. „Nicht unbedingt meine bevorzugte Tätigkeit.“
„Bist du nur freitags hier?“
„Ja. Wieso fragst du?“
„Weil ich verstehen will, wieso du dich jeden Freitag von
keine Ahnung wie vielen Kerlen durchnehmen lässt, aber im Rest der Woche
offenbar nicht.“ Meine Erklärung bringt ihn dazu, den Kopf schräg zu legen und
mich noch genauer zu mustern.
„Und?“ Sein Ton ist herausfordernd.
„Nichts und, ich will es nur kapieren.“
„Was gibt es daran denn zu kapieren? Ich mache es halt so“,
sagt er schnippisch.
Ob ihn mein Interesse wirklich so sehr nervt?
„Also gibt es keinen echten Grund dafür, dich an den anderen
Tagen nicht ficken zu lassen?“, hake ich nach und weiß sehr genau, dass ich den
Bogen damit echt überspannen könnte.
„Nein. Gibt es nicht. Was spielt das denn für eine Rolle?“
Ich hebe die Schultern. „Sag du es mir. Ich bin nur
neugierig.“
Er schnaubt verächtlich. „Niemand hindert dich daran, aber
das bedeutet nicht, dass ich irgendwas von mir erzähle.“
Oh, damit hat er mir die Tür eiskalt vor der Nase
zugeknallt.
„Schon okay“, sage ich und hebe abwehrend die Hände.
„Niemand zwingt dich.“
Es wird Zeit, abzuhauen, alles andere ergibt keinen Sinn.
„Ich weiß“, schnappt er.
Nickend stehe ich vor ihm. „Alles klar, man sieht sich“,
sage ich möglichst kalt und mache kehrt, um den miesen Schuppen endlich zu
verlassen.
Ich weiß genau, dass ich, wenn ich mich nicht sehr gut
ablenke, nächsten Freitag wieder hier sein werde, um ihn zu beobachten, nach
Möglichkeit auch zu ficken.
Albernes Verhalten, schon klar, aber wie soll ich denn gegen
diesen Sog ankommen, in dem ich seinetwegen stecke?
Oliver
Da geht er hin, und ich kann nicht sagen, dass es mir
leidtut.
Bullshit, natürlich finde ich es schade, weil seine
Verabschiedung durchaus danach klang, als würde ich ihn vorerst nicht
wiedersehen.
Ist vielleicht auch besser so, aber deshalb muss es mir
nicht gefallen.
Dabei bin ich echt genervt von seiner Neugierde, seinen Nachfragen.
Was geht es ihn denn an, wieso ich was mache?
Ich bin alt genug, um das alles für mich selbst zu
entscheiden und niemand hat mir da reinzureden!
Schon gar nicht so ein dahergelaufener Wicht, der nach ein
paar unverbindlichen Ficks plötzlich anfängt, derart zutraulich zu werden!
Eindeutig, es ist besser, dass er gegangen ist.
Ich wende mich zur Theke und bestelle ein weiteres Bier, das
ich schnell austrinke, um mir anschließend den nächsten Kerl zu suchen.
Der eben noch so deutliche Drang, das La Bouche zu verlassen, nach Hause zu gehen, ist weg.
Eindeutig, ich brauche Sex, jetzt sofort!
Auf dem Weg zur Tanzfläche fängt mich ein Typ ab, den ich
schon oft hier gesehen habe. Immerhin gehe ich seit einem halben Jahr jeden
Freitag hierher.
Bisher hat er mich nicht angesprochen oder sich auch nur
genähert.
Als seine Finger sich um mein Handgelenk schließen, bleibe
ich stehen und lächle ihn an.
Er ist etwa so groß wie ich, dunkles Haar, der Rest spielt
keine Rolle, solange er Top ist und über brauchbare Ficktechniken verfügt – und
was das angeht, bin ich echt nicht wählerisch!
Wir verschwinden ohne viel Aufsehen im Darkroom und haben
ganz sicher keine zwei Worte gewechselt, als er in mich eindringt und mich mit
langen, harten Stößen durchfickt.
Ich genieße den Rhythmus, gebe mich ihm hin, spüre
irgendwann nur noch den heftigen Druck, der sich zu einem weiteren Orgasmus
aufbaut.
In Erwartung dessen, weshalb ich diesen ganzen Scheiß
überhaupt mache, schließe ich die Augen und gebe mich dem Gefühl hin, das mich
wegschwemmen und erinnern kann.
Es dauert nur Sekunden, dann verliert sich alles, was meinen
Kopf so leicht und frei machen sollte, in einer dumpfen Leere.
Enttäuscht schnaube ich auf – und sende damit prompt das
falsche Signal an den Kerl hinter mir, der sich schwer atmend von dem Gummi
befreit und anzieht.
Meine folgenden, halblauten Flüche sind auch nicht
hilfreich …
„Was ist los?“, fragt er und klingt irgendwie angepisst.
„Nichts, nichts!“, beeile ich mich zu sagen, weil ich keinen
Ärger will. Er ist definitiv fitter als ich und könnte mich vermutlich mit
einem Schlag ausknocken, wenn ich jetzt was Blödes sage und ihn damit
provoziere.
Misstrauisch sucht er meinen Blick. „Ach? Nichts also? Und
weshalb fluchst du dann vor dich hin?“
Er klingt drohend, wirkt plötzlich so viel größer und
präsenter, als er eigentlich dürfte. Ich weiche, mit dem Rücken zur Wand
gedreht, zurück, bis er mich zwischen seinem harten Körper und dem glatten,
lackierten Putz der Kabine einklemmt.
Sein Blick hypnotisiert mich auf eine widerliche Art, seine
neben mir an die Wand gelehnten Hände versperren auch den seitlichen Rückzug.
„Ich …! Ehrlich, alles gut, das war ziemlich geil!“,
stammele ich und schaffe es einfach nicht, den Blick zu senken.
„Dann überleg dir beim nächsten Mal lieber, ob Flüche der
richtige Dank für einen Fick sind!“, zischt er und Sekunden später sinke ich
keuchend an der Wand herab, weil ich einen Faustschlag in den Magen und einen
widerlich harten Hieb ins Gesicht abbekommen habe.
Mein nackter Arsch landet auf den Bodenfliesen und ich zucke
kurz, dann überrollt mich der brennende Schmerz an meinem rechten Auge und
irgendetwas trübt meine Sicht.
Mein Kopf rauscht, pulsiert, mir wird speiübel und ich
rappele mich mühevoll auf, damit ich mir nicht selbst auf die Hosen kotze,
falls es soweit kommen sollte.
Anziehen, raus hier.
Ganz raus.
Jede Ansprache ignorierend, schwanke ich weiter.
Das La Bouche
fällt taumelnd hinter mir zurück.
Ich wickele mich in meine Jacke und friere zum Gotterbarmen,
hastige Atemzüge begleiten meine unsicheren Schritte durch das Industriegebiet,
in dem der Club liegt.
Ich muss nach Hause, mir ansehen, was dieser Arsch mit
meinem Gesicht angestellt hat!
Mein Magen beruhigt sich mit jedem Zug frischer Luft, aber
das stetig neu aufbrandende Schwindelgefühl in meinem Kopf, bringt mich fast um
den Verstand.
Ich traue mich nicht, noch einmal an mein Auge oder auch nur
die rechte Gesichtshälfte zu fassen, obwohl ich gegen die Nachtkälte deutlich
spüren kann, wie warmes Blut darüber rinnt.
~*~
Kaum zu glauben, dass ein simpler Fausthieb gegen meine
Schläfe eine solche Verwüstung in meinem Gesicht fabrizieren konnte, aber ich
sehe das Resultat, am Spiegel im Badezimmer stehend, sehr deutlich.
Alles ist geschwollen, besonders die Augenlider des rechten
Auges. Ich traue mich auch mit dem eiskalten, nassen Waschlappen kaum daran, um
das angetrocknete Blut abzuwischen.
Eine knappe Stunde war ich unterwegs, um nach Hause zu gelangen.
So wollte ich auf keinen Fall in ein Taxi steigen, wobei
mich vermutlich auch kaum ein Taxifahrer mitgenommen hätte.
Ich seufze schmerzerfüllt und beiße die Zähne aufeinander.
Au!
Verdammt, seine Faust muss mich richtig großflächig erwischt
haben, denn die Zähne der oberen Reihe schreien gepeinigt auf.
Na gut, also ohne zusammengebissene Zähne
saubermachen …
Es dauert eine weitere Stunde, bis ich die Blutreste so weit
entfernt habe, dass ich mich umziehen kann.
Nun zieren zwei Steri-Strips meine Augenbraue, weil sie
einen kleinen, aber tiefen Cut abbekommen hat.
Erleichtert und in kuscheligen Klamotten sinke ich mit einem
frischen Kaffee auf einen Küchenstuhl und stütze mich auf der Tischplatte ab.
Was ist heute Abend passiert? Wieso konnte ich nicht
aufhören, über den kurzen Rausch zu fluchen?
Hätte ich mich nicht besser beherrschen müssen?
Der Schmerz meiner rechten Gesichtshälfte verkündet mir, um
wie vieles besser ich mich jetzt fühlen würde, wenn ich meine Wut und
Enttäuschung nicht geäußert hätte.
Tja, hätte, wäre …
Müßiges Thema, denn ich habe.
Nun bleibt mir nur, meine Wunden zu ertragen und mir für die
Zukunft vorzunehmen, nicht noch einmal derart größenwahnsinnig zu sein.
Trotzdem bin ich auch sauer auf diesen Mistkerl!
Wie soll ich am Montag erklären, was mir passiert ist, ohne
mit der Wahrheit herauszurücken?
Mein äußerst geschätztes und sehr besorgtes Personal wird
mit Fragen zu meinem Aussehen ganz sicher nicht sparen, und vermutlich kann ich
von Glück sagen, wenn mich Anika, Ida und Madlen nicht sofort zu einem Kollegen
schicken.
Das wollen sie sowieso seit Monaten, aber bislang habe ich
mich rausgeredet, wenn sie mir erklärt haben, dass ein krank aussehender Arzt
auf seine Patienten nicht unbedingt vertrauenerweckend wirkt.
Ich sehe es vor mir, wie sie sich mit meiner
Laborassistentin Claudia verbrüdern, um mir gemeinschaftlich noch vor Öffnung
der Praxis den Marsch zu blasen …
Der Kaffee schmeckt bitter – ich habe den Süßstoff
vergessen.
Mist.
Unter gequältem Stöhnen stehe ich erneut auf und kehre müde
und niedergeschlagen zurück zum Tisch.
Es ist nach drei Uhr in der Nacht. Ich sollte machen, dass
ich ins Bett komme.
Aber vorher muss ich die geschwollene Gesichtshälfte erst
mal kühlen.
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