Samstag, 6. November 2021

[Leseprobe] Club Loveshack 2 - Die Sucht

 Leseprobe

Kapitel 1 Stalking und Sexwahn


 

Oliver

„Scheiße, ist das geil!“, keucht der namenlose Kerl hinter mir, während er mich in der halbdunklen Gasse neben dem Schwulenclub fickt.

Meine Handflächen gegen die Backsteinwand gelehnt, versuche ich zu ignorieren, wie viel Dreck und Rotz hier kleben mag.

Alles, was momentan für mich zählt, ist der Schwanz in meinem Inneren, der mich ablenkt.

Wovon? Das tut nichts zur Sache. In jedem Fall brauche ich die Zerstreuung, damit ich nicht nachdenken muss.

Die anhaltenden, rhythmischen Bewegungen verschaffen mir einen leeren Kopf und die Geilheit, die ich will.

Stöhnend strecke ich ihm meinen nackten Arsch deutlicher entgegen.

Es dauert nur Minuten, dann grunzt er mir seinen Orgasmus ins Ohr. Ich lasse mich von seinen letzten, langen Stößen mitreißen und keuche leise, während mein Kopf haltlos in den Nacken fällt.

Fertig.

Erledigt.

Er zieht sich zurück, klatscht mir seine Hand auf den nackten Arsch und sagt: „War nett“, bevor er das Gummi abstreift, in hohem Bogen in den Abfallcontainer auf der anderen Seite der Gasse wirft, sich anzieht und geht.

Ich beruhige meinen Atem, schlucke trocken und lehne meine Wange an die Wand, ohne mich anzuziehen.

Mir ist egal, dass meine Jeans noch in den Kniekehlen hängen.

Kalt drückt sich das raue Gestein in meine Wange, kratzt über meine erhitzte Haut.

Ich schließe die Augen und verlasse mich.

Das geht nur nach einem Orgasmus.

Mitreißende Schwerelosigkeit, die es mir erlaubt, meinen Geist auf Reisen zu schicken.

Weit weg, in die Vergangenheit, in die Einbildung einer heilen, guten Welt.

Der kühle Wind, der meinen Arsch streift, lässt mich frösteln. Ich stoße mich mit einem bedauernden Seufzen von der Backsteinwand ab, um mich zu drehen und meine Hose wieder hochzuziehen.

Vorbei.

Zu schnell vorbei.

Es erscheint mir, als hielte der Rausch des Orgasmus’ jedes Mal weniger lange an.

Falls das den Tatsachen entsprechen sollte, habe ich auf Dauer ein Problem …


 

Satan

Ich bin ein verdammter Stalker!

Nicht, dass ich jemals einer hätte sein wollen, und rein pathologisch ist diese Bezeichnung auch nicht korrekt, aber ich verfolge diesen Typen nun seit Wochen.

Ich bilde mir ganz sicher nicht ein, dass wir eine Beziehung haben, zumindest keine, die man mit dem Wort ‚Partnerschaft‘ gleichsetzen könnte. Auch haben wir nie viel geredet, und doch fühle ich mich zu ihm hingezerrt, von ihm auf eine brutale, unabdingbare Art angezogen.

Vielleicht ist es doch krankhaft, so darauf zu reagieren?

Vielleicht hätte ich mich nach der ersten Begegnung mit ihm, die nicht einmal hier im La Bouche stattgefunden hat, einfach fernhalten müssen?

Meine Gedanken sind so vernünftig wie abwegig.

Ich habe nämlich nicht!

Er zieht an mir, lässt mich um sich kreisen, ohne dass ich diese unheimliche Faszination auch nur halbwegs verstehen könnte.

Nicht einmal seinen Namen kenne ich.

Aber ich weiß sehr, sehr genau, wie er sich verhält, wenn er gefickt wird.

Ein tiefes Grollen steigt aus meiner Kehle auf, rollt über die Stimmbänder und ich klappe hastig den Mund zu, damit der Ton nicht hörbar für andere entkommen kann.

Ein mieser Spanner scheine ich auf jeden Fall zu sein, auch wenn mich nicht erregt, was ich beobachte, wenn ich mich wie jetzt in den tiefen Schatten der Gasse verstecke, in der er sich hin und wieder ficken lässt.

Keine Ahnung, eine echte Abneigung gegen den Darkroom im La Bouche scheint er jedenfalls nicht zu haben – dort habe ich ihn bereits gehabt. Dreimal.

Trotzdem drücke ich mich wie ein mieses Stück Scheiße an die Wand am Ende der Gasse, damit ich ihn sehen kann, ohne dass er mich bemerkt.

Verrückt, meschugge, hirnverbrannt – ich weiß das alles, und wenn ich ihn nachher noch ansprechen sollte, um ihn zum vierten Mal in den Darkroom zu entführen, werde ich danach nach Hause fahren und mich selbst für den größten Idioten aller Zeiten halten.

Meine Selbstbeschimpfungen nützen nur nichts, ich werde es trotzdem tun, werde ihn benutzen und beobachten, jedes verdammte Wochenende.

Dabei hätte ich wahrlich Wichtigeres zu tun, als mich an jedem Wochenende einen Abend lang im berüchtigtsten Schwulenclub der Umgebung herumzutreiben.

Ist eigentlich gar nicht mein Pflaster. Gelandet bin ich hier ausschließlich seinetwegen!

Tja, das passiert, wenn man jemanden verfolgt und beobachtet, nicht wahr?

In jedem Fall finde ich die Faszination, die er auf mich abstrahlt, nahezu monströs!

Zudem ist sein Verhalten so … schräg!

Jetzt gerade passiert es wieder.

Halbnackt steht er noch immer an der Wand, obwohl der Kerl, der ihn eben noch so hart durchgefickt hat, längst verschwunden ist.

Mein Unbekannter lehnt dort, den Kopf in den Nacken gelegt, die Hosen in den Kniekehlen, und die Augen geschlossen.

Er schluckt sichtbar, seine Silhouette zeichnet sich klar ab, besonders jetzt im Profil.

Ich verspüre den unbändigen Drang, über seinen langgestreckten Hals zu lecken, jede Kontur seiner Kehle zu erforschen.

Das Seufzen, das mir entkommt, ist hoffentlich leise genug.

Wieso macht er mich so an? Wieso kann er mich unwissentlich in diese Abhängigkeit zwingen?


 

Oliver

Ich kehre in den Club zurück, bestelle mir ein Bier und sondiere die Lage.

Klar, das hier ist ein absoluter Baggerschuppen. Wer ficken oder eines der Glory Holes nutzen will, kommt hierher.

Zu diesen willigen, notgeilen Kerlen gehöre auch ich.

Es mag mir nicht gefallen, dazu in diesen miesen Club gehen zu müssen, aber was bleibt mir?

In anderen Läden wollen die potentiellen Fickpartner auch reden, eventuell sogar was trinken oder sind so wählerisch, dass ich vermutlich überhaupt keine Chance bei ihnen hätte.

Dabei brauche ich die Reize, die Stimulanz durch andere.

Ein privat und mir selbst verschaffter Orgasmus wirkt nämlich leider nicht.

Das stört mich, um ehrlich zu sein, aber immerhin kann ich mit verschiedenen Sexpartnern auch deutlich mehr Höhepunkte erleben als mit nur einem.

„Na, komm schon“, spricht mich eine nicht ganz unbekannte Stimme von links an. Ich wende den Kopf, stoße mit dem Typen an, der mich bereits in den vergangenen Wochen ins Himmelreich gefickt hat, und grüble, ob ich seinen Namen kenne.

Ist belanglos. Namen interessieren mich nicht mehr. Höflichkeit ebenso wenig.

In mir herrscht ein emotionales Vakuum, das ich ganz sicher nie wieder aufgeben kann.

Es verhindert den Schmerz, lässt mich erleben und genießen.

Hastig schüttle ich diese Gedanken aus meinem Kopf. Ich will ihn leer und frei, leicht und sorglos.

Der schwarzhaarige Halbgott neben mir sieht mich erstaunt an. „Keinen Bock?“

Ich strahle ihn an. „Oh, doch! Wenn du mich willst, gehöre ich dir.“

Seine grünbraunen Augen blitzen zufrieden auf, seine Lippen schürzen sich leicht. „Keine Angst, dass man dir diese Leichtlebigkeit negativ auslegen könnte?“

Ich winke ab und trinke einen Schluck. „Glücklicherweise ist mir vollkommen egal, ob und was jemand über mich sagen oder denken könnte. Interessiert dich etwa, was die Kerle hier absondern, wenn du ihnen den Rücken zudrehst?“

Sekundenbruchteile später steht er dicht hinter mir und reibt seine Härte an meinem Arsch.

„Ich finde spannender, wenn du mir den Rücken zudrehst“, raunt er lasziv in mein Ohr und lacht kehlig über die erregten Schauder, die mich zittern lassen.

Vorfreude. Das hier ist Vorfreude auf den nächsten Orgasmus. Ich will wieder abtauchen in die Welt der Vorstellungskraft, in meine wunderbare fantastische Vergangenheit.

Deshalb drücke ich ihm meinen Arsch entgegen und lausche seinem tiefen, zufriedenen Brummen.

Satan

„Na, komm. Sonst reiße ich dir hier und jetzt die Klamotten runter“, versichere ich ihm, und er stellt eilig das Glas ab, um mir zu folgen.

Wenn ich beobachte, wie andere ihn ficken, macht mich das kein bisschen an, aber wenn er mir nah ist, mir sogar folgt wie jetzt, werde ich augenblicklich dermaßen geil, dass ich alle Beherrschung benötige, die ich aufbringen kann.

Selbiges gilt, wenn er nach einem Fick in diese Versunkenheit abtaucht …

Aus irgendeinem Grund fühle ich mich ihm dann näher, als ich dürfte.

In einer halben Stunde spätestens erlebe ich ihn wieder in diesem bemerkenswerten Zustand, und das, weil ich ihn ihm verschafft habe!

Der Namenlose ist der Einzige, den ich hier im Club auch nur eines zweiten Blickes würdige, und ganz sicher der Einzige, den ich ficken will.

Den bisherigen Abend habe ich damit verbracht, Abfuhren zu erteilen und ihn zu beobachten.

Nur ihn.

Es ist krank, ich weiß, aber es hilft mir, wenn ich aktiv an dem beteiligt bin, was er nach dem Sex jedes Mal zu durchleben scheint.

Sobald er nach mir die Tür zum Darkroom durchschritten hat, ziehe ich ihn mit mir und wir erreichen eine der leeren Kabinen im hinteren Teil des verwinkelten Raumes.

Ich würde gern so viel mehr tun, als ihn hier ein weiteres Mal zu ficken, ich will ihn streicheln, festhalten, ihm zeigen, wie sehnsüchtig ich aus mir unerfindlichen Gründen bin.

Aber nicht hier, nicht an diesem Ort, den ich innerlich für seine Existenz verfluchen will.

Nein, verdammt! Nirgendwo anders könnte ich tun, was er will, ihm geben, was er offensichtlich braucht.

Dieser Mann ist nicht einfach notgeil oder sexsüchtig, es gibt einen Grund für all das – auch für mein Verhalten!

Wenn ich nur herausfinden könnte, worin dieser Grund liegt …

Mit einem Seufzen unterbreche ich kurzfristig meine Gedanken, weil er an meinen Hosen nestelt und die Knöpfe öffnet.

Natürlich bin ich erregt! Wie sollte ich das nicht sein, angesichts der Tatsache, dass er so viel mehr für mich ist als ein bloßer Zwischendurchfick in einem miesen Schuppen?

So schade ich es finde, dass er wie immer sofort zur Sache kommen will, so sehr törnt es mich andererseits auch an, deshalb schiebe ich seine hastig geöffneten Hosen ebenso herab, wie er meine, und drehe ihn um.

Seine schlanken Hände legen sich an die glatte, dunkle Wand der Kabine und er streckt mir seinen Arsch hin.

Ich beeile mich, ein Gummi überzustülpen, lasse Gleitgel aus dem an der Wand befestigten Spender in meine Hand laufen und meine Finger danach in seine Spalte dringen.

Ich bin zu geil auf ihn, um noch darüber nachzudenken, dass ich weder der Erste noch der Letzte bin, der ihn heute ficken wird.

Beides schmerzt mich auf eine unerklärliche Art.

Immerhin weiß ich seit Wochen, wie er drauf ist, wenn er hierher kommt …

Vielleicht sollte ich lieber damit aufhören, mich von meinen seltsamen Gefühlen für diesen Fremden so versklaven zu lassen.

Leichter gesagt, als getan!

Ich überprüfe die Weichheit seiner Muskelringe, lasse meine Finger zweimal tief in ihn gleiten und halte ihn und meinen Schwanz anschließend in Position, um einzudringen.

Er keucht, kommt meinen Stößen entgegen.


 

Oliver

Keine halben Sachen, immerhin will ich einen weiteren Orgasmus spüren, mich in die Gedankenwelt, die er mit sich bringt, versenken.

Ich stöhne hemmungslos, genieße, dass der namenlose Hengst hinter mir sich in mir versenkt.

Wieder und wieder.

Keuchend ergebe ich mich seinen Berührungen, seinem Stöhnen und den festen Griffen seiner Hände in meinen Seiten.

Fahrige Finger wandern über meine Haut, streichen über meine Brust, necken beinahe schmerzhaft meine Nippel und bringen mich dazu, mich dichter an seinen erhitzten Leib zu drängen.

Für den Bruchteil einer Sekunde katapultiert mich diese Behandlung, dieses allgemein unsagbar gute Gefühl in die Vergangenheit, dann in die Gegenwart und diesen absolut erfüllenden Orgasmus, der mich mit seinen Wellen überrollt und von den Füßen fegen will.

Ich habe große Mühe, mich an irgendetwas festzuklammern.

Eine wild in meinen Schläfen pochende Schwärze übermannt mich, lässt meine Knie einknicken, ohne dass ich noch reagieren könnte.

Meine Hände gleiten von der glatten Wand ab, umklammern den einzigen Halt, den ich wahrnehme, als meine Sicht sich klärt und die Schwärze endlich weicht.

Arme, die mich umfangen. Mich halten und meinen Sturz sofort gebremst haben müssen, da ich keineswegs auf dem Boden liege.

„Hey, alles okay?“, raunt eine aufgeregte Stimme.

Ich blinzle in das Halbdunkel, muss mich orientieren.

„Hey, rede mit mir!“ Noch einmal diese sanfte, weiche Stimme.

Klingt besorgt und irgendwie … halbwegs vertraut.

Mühsam versuche ich, mich aufzurappeln, drehe den Kopf und begreife erst jetzt, dass jemand meinen Rücken fest an seine Brust presst.

„Bitte, sag was!“

„Ich …“ Ein kläglicher Ton

„Oh Mann, Gott sei Dank! Ich hatte schon Angst, du wärest bewusstlos!“

Ich schlucke hart und schaffe es, mich wieder aufzurichten.

„Geht schon“, sage ich, auch wenn ich gar nicht weiß, ob es das wirklich tut.

Sehr langsam wird der schraubstockartige Griff um meinen Oberkörper lockerer, ich kann mich zu ihm umdrehen.

„Wer …?“, frage ich blöde, bis mir in den Kopf kommt, wo ich mich befinde. Mit wem.

„Komisch, mein Name hat dich in den vergangenen Wochen nie interessiert“, erklärt er und lächelt mich schief an.

Ich muss wie immer zu ihm hochsehen, er ist ganz sicher einen Kopf größer als ich, knappe zwei Meter dürfte er messen, zudem ist er breitschultrig und irgendwie massig, ohne dick zu sein.

Ich kichere innerlich, vielleicht, weil mich meine eigenen Gedanken so verwirren.

Dick, so ein Unsinn, an dieses Wort kann man im Zusammenhang mit ihm nun wirklich nicht denken.

Bevor ich es selbst schaffe, richtet er meine Kleidung und ich mustere ihn perplex.


 

Satan

„D-danke“, stottert er und sieht in meine Augen.

Habe ich vorher schon mal so viel Zeit gehabt, ihn zu mustern?

Klar, bei unserem ersten Aufeinandertreffen, das in einem Baumarkt stattgefunden hat, konnte ich sehen, dass er unglaublich schöne, wenn auch sehr traurige Augen hat.

Wenn ich allerdings sagen sollte, welche Farbe sie haben, müsste ich passen.

Da liegt zu viel Trauer, zu viel Düsternis in seinen Iriden, als dass noch Platz für eine der klassischen Farben geblieben wäre.

Er hat vor diesen mittlerweile sechs oder sieben Wochen – Blödsinn, es sind exakt sechs Wochen und drei Tage vergangen– in derselben Regalreihe gestanden wie ich.

Für ein neues Bauprojekt in meiner Wohnung benötigte ich lange Schrauben, er wanderte ziemlich ratlos an den zig kleinen Verpackungen mit Nieten, Schrauben, Dübeln, Nägeln, Türbeschlägen und allem anderen Kram aus der Metallwarenabteilung auf und ab und drehte dabei eine einzelne, verzinkte Schraube zwischen Daumen und Zeigefinger.

Die Erinnerung an diese Situation lässt mich breiter lächeln und ich nicke vor mich hin.

„Ich heiße Sebastian, aber meine Freunde nennen mich Satan.“

Was würde ich darum geben, sein Gesicht jetzt vernünftig sehen zu können?!

Eindeutig – wir müssen raus aus dem Darkroom, aber dann wird er sich verziehen und ich habe keine Chance mehr, mit ihm zu reden, mehr über ihn zu erfahren!

Zwickmühlen sind wirklich nicht mein Ding, aber welche Wahl habe ich schon?

Ich kann ihn schließlich nicht in dieser dämlichen Kabine anketten, nur damit er sich nicht gleich vom Nächsten anquatschen und durchnehmen lässt.

„Satan?“, hakt er nach und kraust die Brauen, das immerhin kann ich erkennen, und meine Fantasie erledigt den Rest.

Ich habe mir sein schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem markanten Kinn sehr genau eingeprägt.

Noch ein Nicken. „Ist ein Nickname aus ’nem Chat.“

„Verstehe.“

Leider verrät er mir nicht, wie er heißt, und es ist mir gerade auch zu plump, danach zu fragen.

Ich meine, hey, wir stehen noch immer direkt voreinander in einem echt schäbigen Darkroom und ich habe ihn und mich gerade erst wieder angezogen …

„Trinkst du noch ein Bier mit mir?“, wage ich mich vor, obwohl ich bereits weiß, dass er ablehnen wird.

Sein Kopf neigt sich zur Seite. „Ein Bier? Wirklich nur eines?“

„Ja“, krächze ich, weil mich seine Gegenfrage irgendwie überrumpelt.

Voll peinlich, aber was soll ich machen?

Der Stalker-Schrägstrich-Spanner in mir jubelt, weil ich es so vielleicht schaffen kann, die merkwürdige Ebene unserer Bekanntschaft in ein normaleres Fahrwasser zu bringen.

„Ja, ein Bier“, bestätige ich und greife nach seinem Handgelenk, damit er mir auf dem Weg zwischen Fickkabine und Theke nicht abhandenkommen kann.

Möglicherweise ahne ich, dass ein weiterer Kerl, der ihn fickt, mich nicht mehr so kalt lassen würde …


Oliver

Ich vergesse, noch weiter darüber nachzudenken, und nicke einfach.

„In Ordnung“, sage ich verständlich und begreife zeitgleich, dass ich mir das auch hätte sparen können.

Immerhin schleppt er mich bereits zum Tresen, an dem er mich vorhin aufgegabelt hat.

„Zwei Bier!“, ordert er und lässt mich erst nach einem prüfenden, endlos langen Blick los, als wir nebeneinander Halt machen.

Ich grüble ernsthaft, was hinter seiner Stirn vor sich geht.

„Sag mal, haben wir uns schon mal außerhalb gesehen?“, frage ich, weil ein mildes Wiedererkennen in meinen Kopf schleicht.

Er nickt. „Einmal. Ist ein paar Wochen her. Im Baumarkt.“

Stirnrunzelnd lasse ich meinen Blick an seiner gesamten Länge entlanggleiten und versuche, den Typen aus dem Heimwerkerladen mit ihm in Einklang zu bringen. Es gab da lediglich eine Person, abgesehen von der Kassiererin, mit der ich auch nur einen Blick getauscht habe.

Heute trägt er Lederhosen, schwere Boots, ein hautenges, pechschwarzes Shirt mit angeschnittenen Ärmeln, das mir deutlich zeigt, wie trainiert und muskulös er ist.

Ich seufze. So war ich auch mal.

Trainiert, ansehnlich, vernünftig ernährt und mit Idealgewicht.

Davon bin ich heute wohl weiter entfernt als irgendwann sonst in meinem Leben.

Scheint ihn jedoch nicht zu stören, wenn ich bedenke, dass ich ihn seit ein paar Wochen immer wieder hier getroffen habe und er mich jedes Mal flachgelegt hat.

Ich habe Schwierigkeiten, diesen Halbgott mit dem genervt und abgehetzt aussehenden Kerl aus dem Baumarkt in seinen blauen Arbeitshosen und dem Flanellhemd überein zu bringen.

„Du warst das?“, hake ich blöde nach.

„Japp. Schuldig im Sinne der Anklage“, albert er zu meinem Erstaunen und legt seine Handfläche auf sein Brustbein. „Haben die Schrauben eigentlich gepasst?“

„Ja, haben sie. Die Scharniere halten wieder. Danke noch mal.“

Der Barkeeper schiebt uns die Gläser zu und Sebastian greift nach beiden, um mir anschließend eines hinzuhalten.

„Gern geschehen …“, gibt er zurück und wir stoßen an, bevor wir beide beherzt trinken.

Fasziniert beobachte ich, wie er den kleinen Schaumrest an seiner Oberlippe mit der Zunge einfängt und muss hart schlucken.

Er ist sexy, unbestritten. Ich bezeichne niemanden als Halbgott, der nicht wirklich so aussieht.

Was er wohl an mir findet?

Ich schnaube abfällig über mich selbst.

Was soll er schon finden? Einen Gestörten, der sich wahllos durchficken lässt, der eher tot als lebendig aussieht und dessen Augen jeglichen Glanz verloren haben.

Ich bin eine hässliche, abgemagerte Vogelscheuche!

„Wieso kommst du hierher?“ Seine Frage überrumpelt mich und ich starre ihn sekundenlang einfach nur an, mitten in sein schön geschnittenes, markantes Gesicht, sogar kurz in seine grünbraunen Augen.

„Weil ich es muss.“

Seine Augenbrauen, die ebenso schwarz sind wie sein Haar, heben sich synchron in seine Stirn, sorgen für zwei Dackelfalten, die mich reflexartig dazu bringen wollen, die Hand zu heben und sie wieder glatt zu streicheln.

Hastig weiche ich einen Schritt zurück, stoße dabei fast einen besetzten Barhocker um, und stolpere haltlos.

Bevor ich am Boden ankommen und mir den Rest meines Bieres über die Klamotten kippen kann, hat Sebastian mich geschnappt und stellt mich mühelos wieder auf die Füße.

Klar, ich wiege aktuell etwa fünfzig Kilo, das dürfte für jemanden seines Kalibers keine nennenswerte Schwierigkeit darstellen, aber seine Geschwindigkeit überrascht mich dennoch.

Blinzelnd sehe ich zu ihm hoch, als er mich, an sich gezogen, einfach festhält. Mein Bierglas noch zwischen uns.

„Womit habe ich dich so erschreckt?“, will er leise wissen und gibt mich frei, als ich ein wenig herumzapple.

Mein Glas landet auf der Theke und ich murmele: „Nicht du. Ich habe mich selbst erschreckt.“

Mein Bekenntnis lässt ihn leise auflachen. „Das klingt schräg, weißt du das?“

Umgehend nicke ich, weil ich das sehr wohl begriffen habe. „Tut mir leid, ich glaube, ich sollte gehen.“

Nein, verdammt! Das will ich gar nicht, ich will noch mal in den Darkroom, brauche noch mehr, will erneut diese schwerelose Reise in die Erinnerung antreten!

Moment mal …

Ich verharre und blicke von schräg unten wieder in sein Gesicht. Der letzte Orgasmus war anders.

Ich meine, anders ist gut, der Kerl hat mich ausgeknockt.


 

Satan

Die Art, wie er mich ansieht, löst in mir verschiedene Reaktionen aus. Ich will ihn wieder an mich ziehen, ihm diese Unsicherheit wegküssen, will, dass er seine Angst und alle Zweifel, die sich so überdeutlich in seinem schmalen Gesicht abzeichnen, wegstreicheln.

Tja, nichts davon geht. Er hat von Anfang an Küsse jeglicher Art abgelehnt und mir rigoros mitgeteilt, dass er keine will.

Ich muss mich zwingen, nicht wieder nach ihm zu greifen, nehme stattdessen mein eben noch so hastig abgestelltes Glas wieder auf und leere es.

„Du willst gehen?“, frage ich, weil das Schweigen mich am Ende doch noch dazu treiben könnte, ihn wie ein Neandertaler über meine Schulter zu werfen, ‚Uga! Uga!‘ zu brüllen und ihn wegzuschleppen – in meine Höhle, versteht sich.

Er sieht mich nur weiter so an und macht keine Anstalten, zu reagieren.

„Was ist los?“, frage ich, nun selbst unsicher geworden.

Verdammt, wo sind meine Coolness und meine schon fast pathologische Selbstsicherheit eigentlich hin, seitdem ich ihm begegnet bin?

„Ich heiße Oliver“, sagt er schließlich und es dauert, bis ich es kapiere.

Meine Fragen beantwortet er trotzdem nicht.

„Hallo Oliver, freut mich“, sage ich mehr aus einem Reflex heraus, dabei freut es mich wirklich!

Ich lächle ihn an, er erwidert.

„Tut mir leid, ich bin … Ich muss jetzt wirklich gehen.“

Seine eigene Verwirrung ob dieser erneuten Fluchtidee lässt mich eilig meine Möglichkeiten abwägen und ich sage: „Soll ich dich nach Hause bringen?“

Er sieht mich überrascht an.

„Mit dem Taxi, meine ich“, setze ich hinzu.

„Denkst du, ein Taxifahrer schafft es nicht allein, mich an meinem Haus abzusetzen?“, fragt er ironisch und auch ein wenig lauernd.

Das entlockt mir ein weiteres gutmütiges Lachen.

„Nein, das kann nur ein Profi wie ich“, erwidere ich, um einen echt ernsten Ton bemüht, während ich meine Mundwinkel nicht im Griff habe.

Seine Augen weiten sich. „Oh? Dann bist du kein wilder Hengst, sondern ein professioneller Kerle-Heimbringer?“

Er kichert.

Klingt wirklich schön …

Oh klar, Satan, Weichspüler brauchst du für die nächsten Jahre nicht mehr zu kaufen!

Ich nicke gewichtig. „Aber hallo!“

Er lacht nun richtig und ich werde wieder ruhig. „Hey, ganz ernsthaft, ich würde dich nur abliefern und weiterfahren.“

„… und wüsstest dann meine Adresse …“, setzt er hinzu.

Die weiß ich eh schon, aber das sollte ich ihm vielleicht nicht ausgerechnet jetzt auf die Nase binden.

„Ja, wüsste ich. Hast du Angst?“

„Es gibt nichts, wovor ich mich noch fürchten müsste“, erwidert er unerwartet hart und kalt.

Seine Worte schockieren mich mehr als sein bisheriges Verhalten.

„Dann gibt es auch nichts, wofür es sich für dich zu leben lohnt?“

Mann, müssen wir dieses Gespräch jetzt wirklich führen? Noch dazu hier? In diesem Bumsschuppen?!

„Doch, Sex.“

Seine Antwort lässt mich ungläubig aufschnauben, dabei demonstriert er das doch mit seinem Verhalten seit Wochen!

„Okay …“, sage ich gedehnt und weiß nicht, was ich sonst noch dazu bemerken soll.

„Schockiert dich das etwa?“, fragt er provokant.

„Nein, ich sehe es ja.“

„Du ermöglichst es mir sogar.“

„Weißt du, wenn es dir nur darum geht, möglichst viel Sex zu haben, gäbe es andere Möglichkeiten als diesen furchtbaren Laden“, sage ich, weil ich selbst wirklich sehr ungern hier bin.

„Schon klar, aber dann ende ich jedes Mal biertrinkend und redend mit den Kerlen.“ Sein spöttischer Ton gefällt mir.

„So wie jetzt?“

Er nickt. „Nicht unbedingt meine bevorzugte Tätigkeit.“

„Bist du nur freitags hier?“

„Ja. Wieso fragst du?“

„Weil ich verstehen will, wieso du dich jeden Freitag von keine Ahnung wie vielen Kerlen durchnehmen lässt, aber im Rest der Woche offenbar nicht.“ Meine Erklärung bringt ihn dazu, den Kopf schräg zu legen und mich noch genauer zu mustern.

„Und?“ Sein Ton ist herausfordernd.

„Nichts und, ich will es nur kapieren.“

„Was gibt es daran denn zu kapieren? Ich mache es halt so“, sagt er schnippisch.

Ob ihn mein Interesse wirklich so sehr nervt?

„Also gibt es keinen echten Grund dafür, dich an den anderen Tagen nicht ficken zu lassen?“, hake ich nach und weiß sehr genau, dass ich den Bogen damit echt überspannen könnte.

„Nein. Gibt es nicht. Was spielt das denn für eine Rolle?“

Ich hebe die Schultern. „Sag du es mir. Ich bin nur neugierig.“

Er schnaubt verächtlich. „Niemand hindert dich daran, aber das bedeutet nicht, dass ich irgendwas von mir erzähle.“

Oh, damit hat er mir die Tür eiskalt vor der Nase zugeknallt.

„Schon okay“, sage ich und hebe abwehrend die Hände. „Niemand zwingt dich.“

Es wird Zeit, abzuhauen, alles andere ergibt keinen Sinn.

„Ich weiß“, schnappt er.

Nickend stehe ich vor ihm. „Alles klar, man sieht sich“, sage ich möglichst kalt und mache kehrt, um den miesen Schuppen endlich zu verlassen.

Ich weiß genau, dass ich, wenn ich mich nicht sehr gut ablenke, nächsten Freitag wieder hier sein werde, um ihn zu beobachten, nach Möglichkeit auch zu ficken.

Albernes Verhalten, schon klar, aber wie soll ich denn gegen diesen Sog ankommen, in dem ich seinetwegen stecke?


 

Oliver

Da geht er hin, und ich kann nicht sagen, dass es mir leidtut.

Bullshit, natürlich finde ich es schade, weil seine Verabschiedung durchaus danach klang, als würde ich ihn vorerst nicht wiedersehen.

Ist vielleicht auch besser so, aber deshalb muss es mir nicht gefallen.

Dabei bin ich echt genervt von seiner Neugierde, seinen Nachfragen.

Was geht es ihn denn an, wieso ich was mache?

Ich bin alt genug, um das alles für mich selbst zu entscheiden und niemand hat mir da reinzureden!

Schon gar nicht so ein dahergelaufener Wicht, der nach ein paar unverbindlichen Ficks plötzlich anfängt, derart zutraulich zu werden!

Eindeutig, es ist besser, dass er gegangen ist.

Ich wende mich zur Theke und bestelle ein weiteres Bier, das ich schnell austrinke, um mir anschließend den nächsten Kerl zu suchen.

Der eben noch so deutliche Drang, das La Bouche zu verlassen, nach Hause zu gehen, ist weg.

Eindeutig, ich brauche Sex, jetzt sofort!

Auf dem Weg zur Tanzfläche fängt mich ein Typ ab, den ich schon oft hier gesehen habe. Immerhin gehe ich seit einem halben Jahr jeden Freitag hierher.

Bisher hat er mich nicht angesprochen oder sich auch nur genähert.

Als seine Finger sich um mein Handgelenk schließen, bleibe ich stehen und lächle ihn an.

Er ist etwa so groß wie ich, dunkles Haar, der Rest spielt keine Rolle, solange er Top ist und über brauchbare Ficktechniken verfügt – und was das angeht, bin ich echt nicht wählerisch!

Wir verschwinden ohne viel Aufsehen im Darkroom und haben ganz sicher keine zwei Worte gewechselt, als er in mich eindringt und mich mit langen, harten Stößen durchfickt.

Ich genieße den Rhythmus, gebe mich ihm hin, spüre irgendwann nur noch den heftigen Druck, der sich zu einem weiteren Orgasmus aufbaut.

In Erwartung dessen, weshalb ich diesen ganzen Scheiß überhaupt mache, schließe ich die Augen und gebe mich dem Gefühl hin, das mich wegschwemmen und erinnern kann.

Es dauert nur Sekunden, dann verliert sich alles, was meinen Kopf so leicht und frei machen sollte, in einer dumpfen Leere.

Enttäuscht schnaube ich auf – und sende damit prompt das falsche Signal an den Kerl hinter mir, der sich schwer atmend von dem Gummi befreit und anzieht.

Meine folgenden, halblauten Flüche sind auch nicht hilfreich …

„Was ist los?“, fragt er und klingt irgendwie angepisst.

„Nichts, nichts!“, beeile ich mich zu sagen, weil ich keinen Ärger will. Er ist definitiv fitter als ich und könnte mich vermutlich mit einem Schlag ausknocken, wenn ich jetzt was Blödes sage und ihn damit provoziere.

Misstrauisch sucht er meinen Blick. „Ach? Nichts also? Und weshalb fluchst du dann vor dich hin?“

Er klingt drohend, wirkt plötzlich so viel größer und präsenter, als er eigentlich dürfte. Ich weiche, mit dem Rücken zur Wand gedreht, zurück, bis er mich zwischen seinem harten Körper und dem glatten, lackierten Putz der Kabine einklemmt.

Sein Blick hypnotisiert mich auf eine widerliche Art, seine neben mir an die Wand gelehnten Hände versperren auch den seitlichen Rückzug.

„Ich …! Ehrlich, alles gut, das war ziemlich geil!“, stammele ich und schaffe es einfach nicht, den Blick zu senken.

„Dann überleg dir beim nächsten Mal lieber, ob Flüche der richtige Dank für einen Fick sind!“, zischt er und Sekunden später sinke ich keuchend an der Wand herab, weil ich einen Faustschlag in den Magen und einen widerlich harten Hieb ins Gesicht abbekommen habe.

Mein nackter Arsch landet auf den Bodenfliesen und ich zucke kurz, dann überrollt mich der brennende Schmerz an meinem rechten Auge und irgendetwas trübt meine Sicht.

Mein Kopf rauscht, pulsiert, mir wird speiübel und ich rappele mich mühevoll auf, damit ich mir nicht selbst auf die Hosen kotze, falls es soweit kommen sollte.

Anziehen, raus hier.

Ganz raus.

Jede Ansprache ignorierend, schwanke ich weiter.

Das La Bouche fällt taumelnd hinter mir zurück.

Ich wickele mich in meine Jacke und friere zum Gotterbarmen, hastige Atemzüge begleiten meine unsicheren Schritte durch das Industriegebiet, in dem der Club liegt.

Ich muss nach Hause, mir ansehen, was dieser Arsch mit meinem Gesicht angestellt hat!

Mein Magen beruhigt sich mit jedem Zug frischer Luft, aber das stetig neu aufbrandende Schwindelgefühl in meinem Kopf, bringt mich fast um den Verstand.

Ich traue mich nicht, noch einmal an mein Auge oder auch nur die rechte Gesichtshälfte zu fassen, obwohl ich gegen die Nachtkälte deutlich spüren kann, wie warmes Blut darüber rinnt.

~*~

Kaum zu glauben, dass ein simpler Fausthieb gegen meine Schläfe eine solche Verwüstung in meinem Gesicht fabrizieren konnte, aber ich sehe das Resultat, am Spiegel im Badezimmer stehend, sehr deutlich.

Alles ist geschwollen, besonders die Augenlider des rechten Auges. Ich traue mich auch mit dem eiskalten, nassen Waschlappen kaum daran, um das angetrocknete Blut abzuwischen.

Eine knappe Stunde war ich unterwegs, um nach Hause zu gelangen.

So wollte ich auf keinen Fall in ein Taxi steigen, wobei mich vermutlich auch kaum ein Taxifahrer mitgenommen hätte.

Ich seufze schmerzerfüllt und beiße die Zähne aufeinander.

Au!

Verdammt, seine Faust muss mich richtig großflächig erwischt haben, denn die Zähne der oberen Reihe schreien gepeinigt auf.

Na gut, also ohne zusammengebissene Zähne saubermachen …

Es dauert eine weitere Stunde, bis ich die Blutreste so weit entfernt habe, dass ich mich umziehen kann.

Nun zieren zwei Steri-Strips meine Augenbraue, weil sie einen kleinen, aber tiefen Cut abbekommen hat.

Erleichtert und in kuscheligen Klamotten sinke ich mit einem frischen Kaffee auf einen Küchenstuhl und stütze mich auf der Tischplatte ab.

Was ist heute Abend passiert? Wieso konnte ich nicht aufhören, über den kurzen Rausch zu fluchen?

Hätte ich mich nicht besser beherrschen müssen?

Der Schmerz meiner rechten Gesichtshälfte verkündet mir, um wie vieles besser ich mich jetzt fühlen würde, wenn ich meine Wut und Enttäuschung nicht geäußert hätte.

Tja, hätte, wäre …

Müßiges Thema, denn ich habe.

Nun bleibt mir nur, meine Wunden zu ertragen und mir für die Zukunft vorzunehmen, nicht noch einmal derart größenwahnsinnig zu sein.

Trotzdem bin ich auch sauer auf diesen Mistkerl!

Wie soll ich am Montag erklären, was mir passiert ist, ohne mit der Wahrheit herauszurücken?

Mein äußerst geschätztes und sehr besorgtes Personal wird mit Fragen zu meinem Aussehen ganz sicher nicht sparen, und vermutlich kann ich von Glück sagen, wenn mich Anika, Ida und Madlen nicht sofort zu einem Kollegen schicken.

Das wollen sie sowieso seit Monaten, aber bislang habe ich mich rausgeredet, wenn sie mir erklärt haben, dass ein krank aussehender Arzt auf seine Patienten nicht unbedingt vertrauenerweckend wirkt.

Ich sehe es vor mir, wie sie sich mit meiner Laborassistentin Claudia verbrüdern, um mir gemeinschaftlich noch vor Öffnung der Praxis den Marsch zu blasen …

Der Kaffee schmeckt bitter – ich habe den Süßstoff vergessen.

Mist.

Unter gequältem Stöhnen stehe ich erneut auf und kehre müde und niedergeschlagen zurück zum Tisch.

Es ist nach drei Uhr in der Nacht. Ich sollte machen, dass ich ins Bett komme.

Aber vorher muss ich die geschwollene Gesichtshälfte erst mal kühlen.

© Nathan Jaeger

 

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