Leseprobe
Kapitel 1
Joél
Schon seit der
sechsten Klasse sind Ulrich, Jörg und ich die besten Freunde. Wir haben uns
durch eine Projektwoche kennengelernt, bei der wir unsere gemeinsame
Leidenschaft – Pen and Paper Rollenspiele – ausleben durften.
Eigentlich nicht
sonderlich spektakulär, aber irgendwie sind wir drei danach aufeinander hocken
geblieben.
Der Gedanke lässt
mich grinsen.
Ulrich und ich sind
seit der elften Klasse ein Paar, was für Jörg nie ein Problem war, jedenfalls
gehe ich davon aus, da er nichts entsprechendes gesagt hat.
Mittlerweile haben
wir das Abi hinter uns und gehen unserer Wege, was in Jörgs Fall bedeutet, dass
er in Mainz studiert, während Ulrich bei einem lokalen
Textilverarbeitungsunternehmen ein Koop-Studium absolviert und ich vor einem
halben Jahr meine Ausbildung zum Rettungsassistenten abgeschlossen habe.
Wir, das heißt, Ulrich und ich, sehen Jörg nur noch am Wochenende, aber das hat unserer Freundschaft keinen Abbruch getan. Im Gegenteil, wir verbringen jedes bisschen Zeit zusammen und besuchen ihn auch hin und wieder in seiner Studenten-WG in Mainz. Wenn mein Dienst es einmal nicht zulässt, fährt Ulrich auch hin und wieder allein hin.
Das hat mich nie
gestört, ich vertraue beiden, sind schließlich meine besten Freunde, auch wenn
Ulrich zusätzlich weit mehr als das ist.
Wieder muss ich
grinsen, diesmal eindeutig dreckig.
Beim Gedanken an
meinen Freund kriege ich regelmäßig feuchte Hände, einen Steifen und ein
dazugehöriges, äußerst farbenfrohes Kopfkino.
Ich liebe Ulrich!
Seine schlanken
Hände, seinen knackigen Arsch, seine vollen Lippen und die braunen Augen, die
so gar nicht zu seinem beinahe weißblonden Haar passen wollen.
Vielleicht macht
das den Reiz aus?
Immerhin ist Braun
weltweit betrachtet die häufigste Augenfarbe, also nicht sonderlich
spektakulär.
Bei Ulrich ist aber
irgendwie alles spektakulär, zumindest für mich.
Bevor ich jetzt,
auf dem Beifahrersitz des Rettungswagens, weiter darüber nachdenke, was ich
gern mit gewissen Körperteilen von Ulrich anstellen wollen würde, konzentriere
ich mich lieber auf die Funksprüche der Zentrale. Es ist Samstagabend, eine
Schicht mit Garantie für haufenweise Einsätze.
Wir, mein Kollege Kees
van Plateren, und ich, haben erst vor zehn Minuten einen Notfall im Krankenhaus
abgeliefert. Starke Bauchschmerzen nach Alkohol-Intoxikation.
So etwas lieben
wir, aber was ändert es?
Wer Hilfe braucht,
bekommt sie, ungeachtet dessen, was zu der aktuellen Notfallsituation geführt
hat.
Was das angeht,
sind wir ähnlich gelagert wie die Halbgötter in Weiß mit ihrem hippokratischen
Eid.
Das Funkgerät knistert,
dann kommt der Ruf: „Florian Bocholt RTW 3, bitte kommen.“
„Hier Florian
Bocholt RTW 3, wir hören.“
„Einsatz
Grafenstraße 15, Treppensturz. Anrufer war Frau Bielen, der Verunfallte ist ihr
Mann.“
„Verstanden,
Zentrale. Grafenstraße 15. Bielen.“
Ich hänge das
Funkgerät wieder in seine Haltevorrichtung am Armaturenbrett und seufze. „Na
dann mal los.“
Kees nickt und
biegt ab, um uns auf die richtige Route zu bringen. Der Verkehr ist mäßig,
deshalb schaltet er zum Blaulicht auch das Einsatzhorn ein.
Ich sehe einen
Fahrradfahrer am Straßenrand zusammenzucken und werfe ihm einen mitleidigen
Blick zu. So gedämpft das schrille Geräusch, das manche boshaft mit „Zu spät,
schon tot!“ in Worte fassen, für uns innerhalb des Wagens ist, so laut hören es
alle um uns herum.
Ist ja schließlich
auch Sinn und Zweck dieser Einrichtung.
Die Wagen vor uns
machen Platz, Kees flucht über einen PKW-Fahrer, der anstatt nach rechts nach
links ausschert, und uns zu einer abrupten Bremsung nötigt, danach setzen wir
unseren Weg ohne weitere Zwischenfälle fort und kümmern uns um den Auftrag.
Frau Bielen steht
in der weit geöffneten Haustür eines Einfamilienhauses und winkt uns hektisch
heran, als wir aus dem Fahrzeug steigen.
Ich gehe nach
hinten, hole den Notfallrucksack, während Kees das Einsatzhorn abschaltet und
mir folgt.
„Guten Abend!“,
grüße ich, und folge der aufgelösten Frau Ende 60 ins Haus.
Der Hausflur ist
L-förmig und am hinteren Ende liegt Herr Bielen am Boden auf den Fliesen.
Seine Frau muss ihm
eine Wolldecke gebracht haben, jedenfalls muss ich das dicke Ding erst einmal
von ihm nehmen, um mir ein Bild über den Allgemeinzustand zu verschaffen.
„Guten Abend, Herr
Bielen! Mein Name ist Joél. Können Sie mich gut verstehen?“
Er sieht mich an,
nickt sogar vorsichtig, doch insgesamt wirkt er benommen und schläfrig auf
mich.
Ich gebe Kees ein
Zeichen, er nickt verstehend und geht hinaus, um den Notarzt zu bestellen. Auf
dem Rückweg wird er, den räumlichen Gegebenheiten entsprechend – die Rolltrage
mitbringen, auf der wir unseren Patienten hinausbringen werden.
Ich fühle Puls und
messe Blutdruck, spreche kontinuierlich mit dem Mann, frage auch nach seinem
Alter und seinen Hobbys.
Das habe ich so
gelernt. Ich kann Informationen vom Patienten bekommen, während ich ihn mit
meinen Worten von seiner Angst ablenke.
Niemand, der Retter
vor sich stehen hat, ist frei von Angst.
Der eine oder
andere mag auch erleichtert sein, doch die ungewisse Angst, was mit einem los
ist, beherrscht alles – und kann uns die Arbeit sehr erschweren.
Herr Bielen spricht
leise, aber erstaunlich klar.
Die Augen reagieren
auf den Lichtreflextest und mit meiner Hilfe kann er sich sogar vorsichtig
bewegen.
Da ich so jung bin
und auch so aussehe, muss ich schon immer besonders kompetent wirken. Dass ich
es auch sein muss, steht außer Frage, aber jeder weiß, dass man dazu neigt,
eher Menschen mit großem Erfahrungsschatz zu vertrauen als Jungspunden wie mir.
In den meisten
Fällen hilft mir allein schon die quietschorange-gelbe Uniform dabei, den Rest
mache ich durch Fachwissen und vor allem meine Ruhe.
Kees kehrt mit der
Trage zurück, als ich gerade den vorgeschriebenen Infusionsbeutel mit Vollelektrolytlösung
angehängt habe.
Dafür muss ich
nicht auf einen Notarzt warten.
Frau Bielen
benötigt auch einiges an Beruhigung.
Der Fahrer des Notarztes,
ein Rettungsdienstler namens Hannes, erledigt das auf seine charmante,
unnachahmliche Art.
Er bittet die
Ehefrau, alle Tabletten ihres Mannes zu suchen, eine Tasche für die
Übernachtung zu packen, und beruhigt sie, indem er ihr reale Dinge zu tun gibt.
Auch fragt er nach
den Kindern der beiden, nach vorhandenen Enkeln … Im Grunde treibt er
meine Ablenkungstaktik auf die Spitze, was ich als sehr hilfreich empfinde.
Nichts ist
schlimmer als ein ständig dazwischenfragender Angehöriger, der mit seiner Nervosität
den Patienten ansteckt.
Nur zu sagen „Wir
sind jetzt da, alles wird gut!“, reicht eben nicht, wir müssen es
demonstrieren, um ein Gefühl der Sicherheit zu erschaffen.
Übrigens vollkommen
egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit.
Der Notarzt hat
bereits übernommen, stellt Fragen, die zum Teil ich, zum Teil Herr Bielen
beantwortet, anschließend geht’s auf nach draußen, zum Wagen und zur Klinik.
Eventuelle
Knochenbrüche durch den Sturz hat der Notarzt abgecheckt, danach dürfen wir Herrn
Bielen endlich von den kalten Fliesen auf die Trage hieven.
Der Abend ist mit
einer Uhrzeit von 22:30 Uhr noch recht jung, wir werden sehen, ob wir gleich
den nächsten Einsatz bekommen. Bis es soweit ist, machen Kees und ich uns mit
unserem RTW auf den Weg zur Feuerwache, wo wir standardmäßig auf unsere
Einsätze warten.
Ein schnelles
Abendbrot, dann geht’s weiter.
Insgesamt fahren
wir in dieser Nacht fünfzehn Einsätze. Nach der Intox und dem Treppensturz geht
es weiter mit drei Alkohol-Intoxikationen, einer Kneipenschlägerei, zu der uns
die Polizei hinzuruft, bis hin zu einem häuslichen Notfall aufgrund einer
diabetesbedingten Hypoglykämie.
Letzterer in den
frühen Morgenstunden, es ist auch einer der längsten Einsätze, da es ewig
dauert, den Mann zu stabilisieren, um ihn ins Krankenhaus zu bringen.
Als wir um 5:30 Uhr
wieder in der Feuerwache ankommen, sind unsere Ablösungen bereits anwesend. Wir
haben Glück – bis zum Schichtende um 6 Uhr bleibt es ruhig und ich weiß jetzt
schon, dass ich zuhause wie ein Stein ins Bett fallen werde.
Ich schwinge mich
in meinen Wagen und düse heim. Mit etwas Glück kann ich schnell duschen und
mich noch ein wenig an Ulrich kuscheln, ohne ihn aufzuwecken.
Er hat heute Nacht
für seine Prüfungen gelernt, entsprechend finde ich auf dem Küchentisch eine
Notiz, dass er erst nach vier Uhr ins Bett gegangen ist.
Meine Chancen
steigen, ebenso meine Laune.
Nach der Dusche
schlüpfe ich unter die Decke und rutsche vorsichtig näher an ihn, bis er mich,
vermutlich in einem Reflex, umarmt und leise brummt.
Ich dämmere
grinsend in den Schlaf.
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