Samstag, 6. November 2021

[Leseprobe] Gefühlsbaustelle

Leseprobe

Kapitel 1

Joél

Schon seit der sechsten Klasse sind Ulrich, Jörg und ich die besten Freunde. Wir haben uns durch eine Projektwoche kennengelernt, bei der wir unsere gemeinsame Leidenschaft – Pen and Paper Rollenspiele – ausleben durften.

Eigentlich nicht sonderlich spektakulär, aber irgendwie sind wir drei danach aufeinander hocken geblieben.

Der Gedanke lässt mich grinsen.

Ulrich und ich sind seit der elften Klasse ein Paar, was für Jörg nie ein Problem war, jedenfalls gehe ich davon aus, da er nichts entsprechendes gesagt hat.

Mittlerweile haben wir das Abi hinter uns und gehen unserer Wege, was in Jörgs Fall bedeutet, dass er in Mainz studiert, während Ulrich bei einem lokalen Textilverarbeitungsunternehmen ein Koop-Studium absolviert und ich vor einem halben Jahr meine Ausbildung zum Rettungsassistenten abgeschlossen habe.

Wir, das heißt, Ulrich und ich, sehen Jörg nur noch am Wochenende, aber das hat unserer Freundschaft keinen Abbruch getan. Im Gegenteil, wir verbringen jedes bisschen Zeit zusammen und besuchen ihn auch hin und wieder in seiner Studenten-WG in Mainz. Wenn mein Dienst es einmal nicht zulässt, fährt Ulrich auch hin und wieder allein hin.

Das hat mich nie gestört, ich vertraue beiden, sind schließlich meine besten Freunde, auch wenn Ulrich zusätzlich weit mehr als das ist.

Wieder muss ich grinsen, diesmal eindeutig dreckig.

Beim Gedanken an meinen Freund kriege ich regelmäßig feuchte Hände, einen Steifen und ein dazugehöriges, äußerst farbenfrohes Kopfkino.

Ich liebe Ulrich!

Seine schlanken Hände, seinen knackigen Arsch, seine vollen Lippen und die braunen Augen, die so gar nicht zu seinem beinahe weißblonden Haar passen wollen.

Vielleicht macht das den Reiz aus?

Immerhin ist Braun weltweit betrachtet die häufigste Augenfarbe, also nicht sonderlich spektakulär.

Bei Ulrich ist aber irgendwie alles spektakulär, zumindest für mich.

Bevor ich jetzt, auf dem Beifahrersitz des Rettungswagens, weiter darüber nachdenke, was ich gern mit gewissen Körperteilen von Ulrich anstellen wollen würde, konzentriere ich mich lieber auf die Funksprüche der Zentrale. Es ist Samstagabend, eine Schicht mit Garantie für haufenweise Einsätze.

Wir, mein Kollege Kees van Plateren, und ich, haben erst vor zehn Minuten einen Notfall im Krankenhaus abgeliefert. Starke Bauchschmerzen nach Alkohol-Intoxikation.

So etwas lieben wir, aber was ändert es?

Wer Hilfe braucht, bekommt sie, ungeachtet dessen, was zu der aktuellen Notfallsituation geführt hat.

Was das angeht, sind wir ähnlich gelagert wie die Halbgötter in Weiß mit ihrem hippokratischen Eid.

Das Funkgerät knistert, dann kommt der Ruf: „Florian Bocholt RTW 3, bitte kommen.“

„Hier Florian Bocholt RTW 3, wir hören.“

„Einsatz Grafenstraße 15, Treppensturz. Anrufer war Frau Bielen, der Verunfallte ist ihr Mann.“

„Verstanden, Zentrale. Grafenstraße 15. Bielen.“

Ich hänge das Funkgerät wieder in seine Haltevorrichtung am Armaturenbrett und seufze. „Na dann mal los.“

Kees nickt und biegt ab, um uns auf die richtige Route zu bringen. Der Verkehr ist mäßig, deshalb schaltet er zum Blaulicht auch das Einsatzhorn ein.

Ich sehe einen Fahrradfahrer am Straßenrand zusammenzucken und werfe ihm einen mitleidigen Blick zu. So gedämpft das schrille Geräusch, das manche boshaft mit „Zu spät, schon tot!“ in Worte fassen, für uns innerhalb des Wagens ist, so laut hören es alle um uns herum.

Ist ja schließlich auch Sinn und Zweck dieser Einrichtung.

Die Wagen vor uns machen Platz, Kees flucht über einen PKW-Fahrer, der anstatt nach rechts nach links ausschert, und uns zu einer abrupten Bremsung nötigt, danach setzen wir unseren Weg ohne weitere Zwischenfälle fort und kümmern uns um den Auftrag.

Frau Bielen steht in der weit geöffneten Haustür eines Einfamilienhauses und winkt uns hektisch heran, als wir aus dem Fahrzeug steigen.

Ich gehe nach hinten, hole den Notfallrucksack, während Kees das Einsatzhorn abschaltet und mir folgt.

„Guten Abend!“, grüße ich, und folge der aufgelösten Frau Ende 60 ins Haus.

Der Hausflur ist L-förmig und am hinteren Ende liegt Herr Bielen am Boden auf den Fliesen.

Seine Frau muss ihm eine Wolldecke gebracht haben, jedenfalls muss ich das dicke Ding erst einmal von ihm nehmen, um mir ein Bild über den Allgemeinzustand zu verschaffen.

„Guten Abend, Herr Bielen! Mein Name ist Joél. Können Sie mich gut verstehen?“

Er sieht mich an, nickt sogar vorsichtig, doch insgesamt wirkt er benommen und schläfrig auf mich.

Ich gebe Kees ein Zeichen, er nickt verstehend und geht hinaus, um den Notarzt zu bestellen. Auf dem Rückweg wird er, den räumlichen Gegebenheiten entsprechend – die Rolltrage mitbringen, auf der wir unseren Patienten hinausbringen werden.

Ich fühle Puls und messe Blutdruck, spreche kontinuierlich mit dem Mann, frage auch nach seinem Alter und seinen Hobbys.

Das habe ich so gelernt. Ich kann Informationen vom Patienten bekommen, während ich ihn mit meinen Worten von seiner Angst ablenke.

Niemand, der Retter vor sich stehen hat, ist frei von Angst.

Der eine oder andere mag auch erleichtert sein, doch die ungewisse Angst, was mit einem los ist, beherrscht alles – und kann uns die Arbeit sehr erschweren.

Herr Bielen spricht leise, aber erstaunlich klar.

Die Augen reagieren auf den Lichtreflextest und mit meiner Hilfe kann er sich sogar vorsichtig bewegen.

Da ich so jung bin und auch so aussehe, muss ich schon immer besonders kompetent wirken. Dass ich es auch sein muss, steht außer Frage, aber jeder weiß, dass man dazu neigt, eher Menschen mit großem Erfahrungsschatz zu vertrauen als Jungspunden wie mir.

In den meisten Fällen hilft mir allein schon die quietschorange-gelbe Uniform dabei, den Rest mache ich durch Fachwissen und vor allem meine Ruhe.

Kees kehrt mit der Trage zurück, als ich gerade den vorgeschriebenen Infusionsbeutel mit Vollelektrolytlösung angehängt habe.

Dafür muss ich nicht auf einen Notarzt warten.

Frau Bielen benötigt auch einiges an Beruhigung.

Der Fahrer des Notarztes, ein Rettungsdienstler namens Hannes, erledigt das auf seine charmante, unnachahmliche Art.

Er bittet die Ehefrau, alle Tabletten ihres Mannes zu suchen, eine Tasche für die Übernachtung zu packen, und beruhigt sie, indem er ihr reale Dinge zu tun gibt.

Auch fragt er nach den Kindern der beiden, nach vorhandenen Enkeln … Im Grunde treibt er meine Ablenkungstaktik auf die Spitze, was ich als sehr hilfreich empfinde.

Nichts ist schlimmer als ein ständig dazwischenfragender Angehöriger, der mit seiner Nervosität den Patienten ansteckt.

Nur zu sagen „Wir sind jetzt da, alles wird gut!“, reicht eben nicht, wir müssen es demonstrieren, um ein Gefühl der Sicherheit zu erschaffen.

Übrigens vollkommen egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit.

Der Notarzt hat bereits übernommen, stellt Fragen, die zum Teil ich, zum Teil Herr Bielen beantwortet, anschließend geht’s auf nach draußen, zum Wagen und zur Klinik.

Eventuelle Knochenbrüche durch den Sturz hat der Notarzt abgecheckt, danach dürfen wir Herrn Bielen endlich von den kalten Fliesen auf die Trage hieven.

Der Abend ist mit einer Uhrzeit von 22:30 Uhr noch recht jung, wir werden sehen, ob wir gleich den nächsten Einsatz bekommen. Bis es soweit ist, machen Kees und ich uns mit unserem RTW auf den Weg zur Feuerwache, wo wir standardmäßig auf unsere Einsätze warten.

Ein schnelles Abendbrot, dann geht’s weiter.

Insgesamt fahren wir in dieser Nacht fünfzehn Einsätze. Nach der Intox und dem Treppensturz geht es weiter mit drei Alkohol-Intoxikationen, einer Kneipenschlägerei, zu der uns die Polizei hinzuruft, bis hin zu einem häuslichen Notfall aufgrund einer diabetesbedingten Hypoglykämie.

Letzterer in den frühen Morgenstunden, es ist auch einer der längsten Einsätze, da es ewig dauert, den Mann zu stabilisieren, um ihn ins Krankenhaus zu bringen.

Als wir um 5:30 Uhr wieder in der Feuerwache ankommen, sind unsere Ablösungen bereits anwesend. Wir haben Glück – bis zum Schichtende um 6 Uhr bleibt es ruhig und ich weiß jetzt schon, dass ich zuhause wie ein Stein ins Bett fallen werde.

Ich schwinge mich in meinen Wagen und düse heim. Mit etwas Glück kann ich schnell duschen und mich noch ein wenig an Ulrich kuscheln, ohne ihn aufzuwecken.

Er hat heute Nacht für seine Prüfungen gelernt, entsprechend finde ich auf dem Küchentisch eine Notiz, dass er erst nach vier Uhr ins Bett gegangen ist.

Meine Chancen steigen, ebenso meine Laune.

Nach der Dusche schlüpfe ich unter die Decke und rutsche vorsichtig näher an ihn, bis er mich, vermutlich in einem Reflex, umarmt und leise brummt.

Ich dämmere grinsend in den Schlaf.


 © Nathan Jaeger

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