Leseprobe
~ Traumlos ~
Seitdem ich auf der Welt bin, nein, eigentlich erst, seit
ich im Kindergarten versucht habe, mir das Wort ‚Traum‘ erklären zu lassen,
weiß ich, dass ich noch niemals geträumt habe.
Bis heute nicht, was bedeutet, dass seit meiner kindlichen
Neugier ganze 33 Jahre vergangen sind.
Inzwischen bin ich 37 und noch immer absolut traumlos.
Zumindest, was eigene Träume angeht …
„Tamino, hättest du die Güte, dich zwei Minuten zu
konzentrieren?“ Die herrische Stimme meiner Mutter Fioretta lässt mich mit den Augen
rollen, dennoch gehorche ich und sehe sie interessiert an.
Oh nein, ich bin kein Muttersöhnchen, es ist mehr so, dass meine gesamte Familie sich dazu bemüßigt fühlt, mir möglichst oft und möglichst intensiv ins Leben zu pfuschen.
Ein wenig ungerecht ist diese Behauptung schon, aber
irgendwie auch wahr.
Jeder hier auf dem Landsitz der Familie Pförtner von der
Hölle ist neugierig auf den neuesten Tamino-Klatsch, bevormundend, wenn es um
mein – dem Teufel sei Dank außerhalb dieses monströsen Hauses stattfindendes –
Leben geht, oder einfach nur unglaublich selbstgefällig-weise.
Ich kann gar nicht genug Anführungszeichen an das ‚weise‘
denken!
Jeder will mir helfen, mit klugen Ratschlägen und allem, was
man in meinem Leben so verderben könnte.
Jeder, das bedeutet im Einzelnen meine Mutter, meine Großeltern,
ein paar Onkel und Tanten und vereinzelte Cousinen.
Die Familienmitglieder meiner Generation ziehen es
größtenteils vor, möglichst weit weg zu leben.
Ich kann sie verstehen, aber weiter, als bis in die
Stadtwohnung, in der ich wohne, habe ich es nach dem Studium nicht geschafft.
Muss ich erwähnen, dass ich am liebsten abtauchen und nie
wieder zurückkommen würde?
Nein, das würde nichts bringen, abgesehen von jeder Menge
Ärger.
Ich lebe tatsächlich ganz gut damit, dass meine Familie mich
als ihren Mittelpunkt ansieht, auch wenn ich für dieses zweifelhafte Privileg zwei
mir wahnsinnig wichtige Dinge meines bisherigen Lebens aufgeben musste.
Zum einen meinen Vater Rex, der vor vier Monaten gestorben
ist, zum anderen meine Praxis.
Ich habe studiert, bin Doktor der Medizin mit Facharztausbildung
als Psychiater und Psychotherapeut und einer Zusatzausbildung im neuen Fachbereich
der Somnologie.
Da ich die Praxis schweren Herzens vor zwei Monaten
geschlossen habe, nutze ich mein durch das Studium gewonnenes Wissen heute
ausschließlich auf andere Art.
Wie heißt es doch so treffend?
Sei deinen Freunden nah, aber deinen Feinden näher.
„Was ist denn noch?“, frage ich wenig höflich, was
zugegebenermaßen in meinem Naturell liegt.
In meinen Augen ist Takt nur der heuchlerische Versuch, die
Wahrheit hinter als Höflichkeit getarnten Lügen zu verbergen.
„Christoph hat angerufen, du sollst zur Gegenzeichnung von
zwei Schriftstücken erscheinen.“
Mein Großcousin Christoph, der Familienanwalt also. Dann
handelt es sich bei den Dokumenten sicherlich um mein Testament und notarielle
Verfügungen bezüglich meines mittlerweile einzigen Jobs.
Ich bin nicht sterbenskrank oder Ähnliches, aber ich lebe relativ
gefährlich.
„Ja, ich kümmere mich darum“, gebe ich zurück. „Auch wenn
ich mich ernsthaft frage, wofür ich ein Testament brauche. Ich habe schließlich
keine Nachkommen!“
Diesen Nachsatz kann ich mir nicht verkneifen.
„Ich will dich nicht verlieren, Mino! Christoph besteht auf
einem Testament …“, erklärt meine Mutter in deutlich versöhnlicherem Ton,
und kommt mit wenigen, schnellen Schritten zu mir.
Ich sitze auf einem Diwan im grünen Salon, dem klassischen
Wohnzimmer meiner uralten Familie.
Sie tritt dicht heran und nur Augenblicke später hat sie
ihre kühlen Hände an meine Wangen gelegt.
Ich sehe sie an, bemerke wie immer die tiefsitzende
Melancholie in ihrem Blick und muss hart schlucken. „Er fehlt mir auch, Mama.“
„Dein Vater wäre sehr stolz auf dich, Tamino. Das war er
immer.“
Ich muss blinzeln, als ich erkenne, dass ihre hellgrauen
Augen feuchter werden. Wie ist aus diesem doch recht dienstlichen Gespräch nun
das hier geworden? Eine schmerzhafte und vernichtende Erinnerung an meinen
Vater?
Rex Pförtner von der Hölle, der Mann, dem ich alles
verdanke, wirklich alles.
Nicht nur das Gute!
Dennoch benötige ich nicht den Anblick der Trauer meiner
Mutter, um selbst das Bedauern über den Verlust zu verspüren.
Mein Vater war alles für mich. Hilfe, Stütze, Lehrmeister,
Vorbild, Tröster und Waffenbruder.
Er hat mir alles beigebracht, was ich zum Überleben wissen
muss. Hat mir jeden Trick und Kniff gezeigt, um meine Lebensaufgabe ausführen
zu können. Immer wieder. Nacht für Nacht.
Wobei …
Meine Tätigkeit hängt weniger von der Tageszeit ab, denn von
den Gewohnheiten derer, um die es geht.
Seit ein paar Monaten stehe ich allein vor der Aufgabe, die
mir meine Geburt in diese Familie nebst meinem Geschlecht eingebracht hat.
„Ich fühle mich so allein ohne ihn“, quetsche ich an dem
dicken Kloß in meinem Hals vorbei.
„Ich weiß, Junge! Der Teufel weiß, ich würde es dir gern
ersparen! Aber du weißt so gut wie jeder von uns, dass wir ohne dich in ernste
Schwierigkeiten geraten werden.“ Die Eindringlichkeit, mit der meine Mutter
diese tränenerstickten Worte sagt, lässt mich schaudern und ihre Hände
ergreifen, die noch immer an meinem Gesicht liegen.
Wir leiden beide sehr darunter, dass Rex nicht mehr da ist.
Das tun alle Familienmitglieder.
Aber im Gegensatz zu meiner Mutter, die in jeglicher Form
unschuldig an seinem Ableben ist, wird mein Gewissen stark davon belastet.
Es ist meine Schuld.
Vielleicht habe ich deshalb gar kein Recht, um ihn zu
trauern?
Ich weiß es nicht. Aber ich kann die Gefühle auch nicht
abstellen. Weder die guten noch die schlechten.
Ich drücke die Hände meiner Mutter sacht und stehe auf, um
sie in eine enge Umarmung zu ziehen.
„Es tut mir so leid, dass ich ihn nicht davor bewahren
konnte!“, wispere ich.
„Das weiß ich! Ich denke aber auch, dass du es nicht hättest
verhindern können!“
Redet sie das sich oder mir ein? Ich weiß es nicht und
beschließe, es dabei bewenden zu lassen.
Zu oft schon hat ein Gespräch über unsere Trauer diese
Wendung genommen.
„Vielleicht hast du recht“, erwidere ich deshalb nur und
drücke sie noch einmal an mich, bevor ich sie auf Abstand bringe.
Sie wischt hastig die Tränen fort, und ihre Gestalt strafft
sich.
Meine Mutter verbirgt wie vorhin wieder ihre Gefühle hinter
einem geraden Rücken und festem Auftreten.
Sie ist eine starke Frau, auch wenn das aufgrund ihrer
zierlichen Figur niemand vermuten würde.
Seit dem Tod meines Vaters trägt sie ausschließlich schwarze
Kleidung, heute einen knielangen Rock und eine einfache, taillierte Bluse.
Ihr von grauen Strähnen durchzogenes, etwa kinnlanges Haar
frisiert sie immer zu einem akkurat liegenden Bob.
Durch meine Umarmung ist alles etwas durcheinandergeraten,
weshalb ich die Hand hebe, um die widerspenstigen Strähnen glattzustreichen.
Sie zwingt sich zu einem tapferen Lächeln, doch ich weiß so
gut wie sie, dass es ihre Augen niemals wieder erreichen wird.
Sie hat gelebt für meinen Vater und mich, nein, für unsere
gesamte Sippe. Doch was vor vier Monaten geschehen ist, hat uns alle aus der
Bahn geworfen.
Seitdem verkriecht sich meine Mutter stets hier im Landsitz.
Früher kam sie öfters [f1] in
der Stadt vorbei, hat mich besucht, ging mit mir shoppen …
Ich habe zu meinen Eltern das beste nur mögliche Verhältnis.
Nun ja, zu meiner Mutter. Aber das zu Rex war genauso, bis es folgenschwer
endete.
Sie wendet sich geschäftig ab, streicht in einer schon
hilflos anmutenden Geste ihren perfekt sitzenden Rock glatt, und tut mir
einfach wahnsinnig leid.
Immer wieder ertappe ich mich dabei, dass ich mir wünsche,
nicht mein Vater, sondern ich wäre in jener Nacht gestorben, doch weiß ich
auch, dass es für meine Mutter kaum etwas geändert hätte.
Verlust der engsten Familie ist niemals leicht zu ertragen.
Ich atme tief durch und zwinge meine Gedanken in eine andere
Richtung.
„Weiß Liliana schon, was es wird?“, frage ich und versuche,
mir meine bange Ahnung nicht anhören zu lassen.
„Ein Mädchen“, flüstert meine Mutter und fährt herum, als
ich erleichtert „Dem Teufel sei Dank!“, sage.
„Tamino!“, weist sie mich zurecht, wie es wohl nur Mütter
können, denn ungeachtet meines Alters zucke ich ob ihres peitschenartigen
Tonfalls zusammen.
„Ich weiß, was du sagen willst“, beginne ich und hebe
beschwichtigend die Hände. „Aber du wirst mich nicht daran hindern können, mich
zu freuen, wenn keine weiteren Jungs in unserer Familie geboren werden.“
Sie seufzt tief und geht zu dem bereitstehenden
Kaffeetablett, um mir und sich eine Tasse einzuschenken.
Irgendeiner der zahlreichen Hausgeister muss es eben
gebracht haben, vermutlich, als Mutter und ich uns umarmt haben.
Ich gehe zu ihr, nehme die Tasse aus feinem, dünnwandigem
Porzellan entgegen, rühre einen Löffel Zucker hinein und nippe von meinem
Kaffee.
„Ich mag es nicht, wenn du das tust, das weißt du.“
Ich nicke. „Natürlich, aber denkst du wirklich, ich will,
dass noch jemand aus unserer Familie dieses, mein!, Schicksal teilen muss?“
Ihr nachsichtiges Lächeln zeigt mir, dass sie sich endgültig
gefangen hat.
Nur Augenblicke später setzen wir uns wieder und die beinahe
deckenhohe Flügeltür zum Foyer des Hauses springt auf.
Mich irritiert, dass ich das Getrappel der Kinderfüße ebenso
wenig gehört habe wie das laute Geschrei.
Nach den drei Wirbelwinden, die ins Zimmer rauschen und sich
als meine Nichten entpuppen, tritt gemessenen Schrittes auch meine jüngere
Schwester ein.
Man sieht Liliana die vierte Schwangerschaft noch nicht an,
aber wir alle wissen bereits davon.
Ich bin so froh, dass ihr Ungeborenes erneut ein Mädchen
sein wird!
Meine Tasse habe ich schon bei ihrem Erscheinen vor den drei
wilden Hummeln in Sicherheit gebracht, die mich mit „Onkel Tami!“ begrüßt haben.
Nun schiebe ich die Süßen von mir und erhebe mich, um meine Schwester zu
umarmen.
Liliana ist 34 Jahre alt und ich danke dem Teufel an jedem
Tag, dass sie ein Mädchen ist.
Unsere Familie hat bereits genug Verluste erlitten, das
wusste ich schon in jüngster Kindheit.
Manche der männlichen Familienmitglieder tragen ein
besonderes Gen in sich. Wir mögen nicht mehr alles in jeder Einzelheit wissen,
doch diese Erbanlage kennen wir genau.
Wir sind Diener des Teufels. Luzifer persönlich hat uns die
Gene gegeben, die uns zu Traumjägern machen.
Noch heute sind wir, was unser Name sagt.
Pförtner der Hölle.
Ich habe viele Cousinen, Tanten, angeheiratete Onkel und
süße kleine Nichten, aber niemand aus der gesamten Sippschaft trägt noch das
gleiche Gen wie ich.
Übertragen wird es ausschließlich durch die weibliche
Blutlinie.
Ein – höchst unwahrscheinliches! – Kind von mir wird nicht
‚infiziert‘ sein, solange ich es nicht mit einem weiblichen Familienmitglied
zeuge. Beispielsweise einer entfernten Cousine.
Meine Eltern sind ein solcher Fall.
Wäre meine Mutter nicht Fioretta Pförtner von der Hölle, die
Großcousine meines Vaters, hätte ich auch als Junge die Chance gehabt, anders
zu leben.
Normal. Langweilig. Ungefährlich.
„Schön, dich zu sehen“, sagt meine Schwester, als ich sie an
mich ziehe.
„Dito“, erwidere ich und drücke ihr einen Kuss auf die
Stirn. Sie ist zwar größer als meine Mutter, reicht mir aber dennoch nur bis an
die Schulter.
Vielleicht ist es keine große Kunst, kleiner zu sein als
ich, da ich mit meinen einssechsundneunzig sowieso die Mehrheit der Menschen
überrage.
Meine Schwester begrüßt auch meine Mutter, dann setzt sie
sich zu uns und bekommt statt des Kaffees einen Tee.
Sie liebt Tee und trinkt niemals Kaffee, es gibt somit
keinen Zusammenhang zu ihrer Schwangerschaft.
Zwei meiner Nichten haben beschlossen, dass es ihnen im
Salon zu langweilig ist, und sind wieder hinausgestürmt, um nach den Hunden zu
suchen.
Schon immer gibt es in diesem Haus ein ganzes Rudel Hunde,
die man nicht unbedingt als Schoß- oder Haushunde ansehen würde.
Soweit ich weiß, sind es momentan sechs vierbeinige Freunde
des Menschen, die dieses gewaltige Herrenhaus nebst Gartenpark ihr Revier
nennen.
Da eine der Hündinnen trächtig ist, wird sich diese Zahl in
absehbarer Zeit stark verändern – Dobermänner haben oftmals große Würfe von
acht bis zehn Jungen.
Unsere Rasselbande, die mit Hängeöhrchen und langen Ruten
ausgestattet ist, wie es sich von Natur aus gehört, ist ein bunter Haufen von
braun-braunen und schwarz-braunen Gesellen.
Meistens halten sie sich jetzt im Sommer in einer der
kühlen, schattigen Ecken des Parks auf.
Das gesamte Grundstück ist von einer beinahe vier Meter
hohen Mauer eingefriedet. Lediglich über das gigantische, zweiflügelige Haupttor
und über zwei Nebentore auf der Rück- und der Westseite der Einfriedung, kann
man das Grundstück betreten.
Niemand wird freiwillig einen Fuß auf das Gelände setzen,
solange er der Familie – und damit den Hunden – nicht bekannt ist.
„Onkel Tami?“ Der bettelnde Ton meiner zweitältesten Nichte
Larissa sichert ihr meine ungeteilte Aufmerksamkeit.
„Ja, Larissa?“
„Kommst du mi-hit?“
Ich grinse und ignoriere die leisen, sehnsüchtigen Seufzer
meiner weiblichen Anverwandten, die die kleine Szene beobachten, als gäbe es
nichts Interessanteres auf der Welt. Ich meine, ich und Kinder, das ist mehr
als unwahrscheinlich, angesichts der Tatsache, dass ich stockschwul bin, aber Lily
und Mama sehen das offenbar noch immer mit Wehmut.
Dabei sollte es doch wirklich ausreichen, dass ich meine
Nichten in allem unterstütze und sie liebe, oder?
„Wohin denn?“, frage ich mit großen Augen und ziehe die
Siebenjährige auf meinen Schoß.
Sie trägt genau wie ihre Schwestern fast nie Kleidchen oder
Röcke.
Heute haben alle drei kurze Hosen und T-Shirts mit
Aufdrucken an.
Auf Larissas steht ‚Volle Kanne!‘ und ich weiß nur zu genau,
dass das ihr Motto ist.
Quirlig, aufgedreht, zu jedem Spaß und jeder Schandtat
bereit, mussten der eine oder andere Hausgeist, wahlweise ihr Vater, ihr Opa
oder ich sie schon aus einem Baum, von einem Gartenhausdach oder aus einem
Graben retten.
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt behaupten,
dass sie jenes grausame Gen in sich trägt. Sie ist in ihrem zarten Alter schon
ein echter Adrenalin-Junkie.
Während ihre Schwestern Silvia und Mathilda zwar wild, aber
doch auch ein wenig ängstlich sind, ist Larissa das furchtloseste Wesen, das
ich kenne – und ich kenne eine Menge, von denen andere nicht einmal eine Ahnung
haben!
„Zu den Hunden! Oder dürfen wir heute zu den Pferden?“,
erklärt die Kleine mir, und ich schürze nachdenklich die Lippen.
„Aber kein Ausritt!“, stelle ich sofort klar und erhebe mich
mit dem Bündel Mädchen im Arm, das sich kichernd windet.
„Viel Spaß! Und passt auf die Pferdebremsen auf!“, ruft uns
Liliana nach.
„Wir werden ihnen kein Haar krümmen“, gebe ich kichernd zurück.
Im Foyer setze ich Larissa ab und wir gehen Hand in Hand
durch den Wirtschaftsteil des Hauses in den Nebenflügel, von wo aus wir ohne Umwege
in den Abstellraum gelangen.
Hier stehen die Reitstiefel aller Familienmitglieder,
außerdem sind auch Reithosen vorrätig.
Ich krame für meine Nichte eine wirklich alte Reithose von
Liliana heraus, halte sie ihr prüfend an, und scheuche das Kind hinter den
Vorhang in der Ecke, der als Umkleidekabine dient.
Minuten später steht sie in Socken und Reithose wieder vor
mir und sieht mit ihren dürren Spargelbeinchen aus, als wolle sie einen Storch
imitieren.
„Zieh die Stiefel an, Schatz. Ich muss mich auch umziehen.“
Mir meine sauteuren, hellen Jeans im Pferdestall zu
versauen, widerstrebt mir.
Auch wenn nicht ich, sondern Larissa reiten wird, muss ich
das Pferd führen und ihr Hilfen geben.
Noch lernt sie schließlich.
„Ich sag schon mal im Stall Bescheid!“, kräht sie aufgeregt
und ist weg, bevor ich auch nur in die Reithose geschlüpft bin.
Schließlich folge ich ihr und gehe über den gepflasterten
Hof zum Stall.
Hier stehen nicht wahnsinnig viele Pferde, nur zehn, aber
die reichen auch, wenn es darum geht, wie viel Arbeit sie machen.
Zwei Stallburschen kümmern sich um sie, sofern die Familie
keine Zeit hat, den Beritt selbst zu übernehmen.
„Na? Wen hast du dir ausgesucht? Fritzchen?“, erkundige ich
mich, als ich in die schattige Stallgasse trete.
Fehlanzeige, auf dem Putzplatz unweit des Eingangs steht
keineswegs das Islandpferd Fritzchen, sondern eines der größten aus dem Stall.
Ich schnaube leise und tausche einen Blick mit Silas, dem
Stallburschen, der gerade dabei ist, Nibelungenring zu satteln.
„Dein Pferd!“, erklärt Larissa stolz und grinst mich an.
„Sie sagte, dass du gleich kommst, sonst hätte sie ihn nie
bekommen“, erklärt Silas fröhlich.
„So? Du meinst, du darfst einfach so meinen Dicken reiten?“
„Ja!“
Ich grinse zurück und strecke die Arme nach ihr aus. „Komm
her, wilde Hummel!“
Sie springt in meine Arme und ich hebe sie hoch, zeige ihr,
wie weit oben sie gleich sitzen wird, wenn sie schon unbedingt meinen
Oldenburger Wallach reiten muss.
Nibelungenring, den wir meistens nur ‚Dicker‘ oder ‚Ring‘ nennen,
hat ein Stockmaß von einsachtzig.
Ich weiß so gut wie jeder andere, dass es zwecklos ist,
Larissa von irgendetwas abzubringen.
Mir ist es auch deutlich lieber, dass sie Ring reitet, wenn
ich dabei bin, als dass sie mit kindlichem Charme auf eigene Faust versucht,
die Stallburschen auszutricksen.
Kaum ist Ring fertig, setze ich meine Nichte in den Sattel
und lasse die noch hochgezogenen Steigbügel, wo sie sind.
Die Lederriemen lassen sich zwar verkürzen, aber nicht so
weit, dass sie für Larissa taugen würden.
Da die Kleine meinen Dicken nicht strapazieren soll, wird er
nicht aufgetrenst, sondern hat weiterhin sein Stallhalfter und einen Führstrick
an.
Ich nehme Silas den Strick ab und führe den Wallach nach
draußen.
Auf dem Weg zu dem Sandplatz, der, von hohen Obstbäumen
umringt, im Schatten liegt, treffen wir Silvia und Mathilda, die die Hunde
gefunden haben.
Wir grüßen, wobei Larissa eine übertriebene Geste macht, bei
welcher ihr Reithelm fast ihr linkes Knie berührt, dann verschwinden wir zum
Platz.
~ Schlaflos ~
„Neiiiiiiiiiiiin!!!!“ Mein markerschütternder Schrei reißt
mich abrupt aus den Fesseln des Alptraums.
Schweißgebadet und zitternd rappele ich mich in eine
sitzende Position auf. Verdammt! Obwohl ich mit aller Kraft gegen den Schlaf gekämpft
habe, bin ich doch vor dem Fernseher eingenickt.
Ich rubble mir fest übers Gesicht und versuche, meinen
davongaloppierenden Herzschlag wieder einzufangen.
Ein rascher Blick zur Uhr. Es ist kurz vor Mitternacht, und
wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, ist heute Freitag. Ich kann es noch
riskieren, meine Schwester anzurufen, ohne sofort von ihr geschlachtet zu
werden.
Obwohl … wenn sie es tun würde, hätte ich mein
beschissenes Leben endlich hinter mir.
Umgehend verdränge ich diesen Gedanken in den hintersten
Winkel meines Gehirns. Lasse ich solche Überlegungen zu, ziehen sie mich
unweigerlich in den Abgrund und mein Traum nimmt noch unerträglichere Ausmaße
an.
Ich greife zum Handy, öffne die Kontaktliste und drücke auf
Bibianas Namen. Es ist mir zwar unangenehm, sie wieder mal mit meinem Scheiß zu
behelligen, aber ich brauche jetzt einen Menschen, der mein Problem kennt, in
meiner Nähe.
Das zweite Rufzeichen ist kaum verklungen, schon höre ich
Bibis atemlose Stimme: „Denno, was ist los? Geht es dir nicht gut?“
Ein tiefes Seufzen meinerseits sagt ihr alles, was sie
wissen muss.
„Ich komme rauf.“
Selbst wenn ich widersprechen wollte, hätte ich keine Chance,
Bibi hat bereits aufgelegt.
Ehe ich ins Bad verschwinde, um mir kaltes Wasser ins
Gesicht zu werfen, öffne ich die Wohnungstür. Bibi muss nur durchs Treppenhaus
in die erste Etage aufsteigen. Sie bewohnt mit ihrem Mann Tobias und den
Kindern Finn und Finja das Erdgeschoss unseres Elternhauses, während ich das
obere Stockwerk mein Eigen nenne.
Die Eingangstür fällt ins Schloss.
„Denno, wo steckst du?“
„Im Bad, gib mir noch einen Moment.“
Aus dem Spiegel starrt mir ein leichenblasses Gesicht mit
dunklen Augenrändern entgegen. Ich sehe fürchterlich aus.
Wenn das so weiter geht, kauft mir niemand mehr ab, dass ich
erst 34 Jahre alt bin. Erste graue Fäden ziehen sich durch mein
schokoladenfarbenes Haar. Die Falten in Augen- und Mundwinkeln lassen sich
durch mein verhärmtes Aussehen auch nicht als Lachfältchen deklarieren.
Seufzend streife ich mein Shirt ab, beuge mich über das
Waschbecken und spüle mir den inzwischen getrockneten Schweiß von Gesicht und Oberkörper.
Den fiesen Geschmack im Mund vertreibe ich mit ausgiebigem Zähneputzen.
Bevor ich mich dem kritischen Blick meiner großen Schwester
stelle, husche ich noch ins Schlafzimmer und schlüpfe in einen kuschlig warmen
Hoodie.
Der aromatische Duft frisch aufgebrühten Lavendeltees
empfängt mich, als ich das Wohnzimmer betrete. Bibi schwört auf dieses Zeug,
wenn man innerlich angespannt ist und nicht einschlafen kann.
Mein Problem liegt allerdings nicht darin, dass ich nicht
schlafen kann, sondern nicht schlafen will.
Das weiß außer mir niemand besser als sie, aber Bibi möchte
mir einfach etwas Gutes tun und mich ein wenig bemuttern.
Seit unsere Eltern vor zehn Jahren, als Pa in den Ruhestand
getreten ist, ihren Hauptwohnsitz in die Toscana verlegt haben, fühlt meine
Schwester sich berufen, Mutterstelle bei mir zu vertreten.
Quatsch! Sie tut es, solange ich denken kann.
Meine Mutter, wenn man sie überhaupt so nennen will, ist
keine besonders liebenswerte Frau. Sie hat ständig versucht, aus Bibi und mir
Vorzeigekinder zu machen und wenn wir nicht so funktionierten, wie sie es
wollte, konnte sie ziemlich bösartig reagieren.
Meist genieße ich es, von Bibi betüddelt zu werden, aber
manchmal geht es mir auch erbärmlich auf den Sack. So wie jetzt gerade.
„Denno, so geht das nicht weiter. Wann warst du eigentlich
das letzte Mal bei deinem Therapeuten? Jetzt setz dich endlich hin und trink
deinen Tee, er hat lange genug gezogen.“
Ohne Punkt und Komma redet sie auf mich ein. Mir ist es echt
ein Rätsel, wie sie das schafft, ohne zu ersticken.
Mit einem gezwungenen Lächeln lasse ich mich neben sie auf
das Sofa plumpsen und umarme sie kurz aber heftig.
„Lass gut sein, Schwesterchen. Du weißt genau, dass ich
nicht schlafen will und wegen des Therapeuten – der kann mir sowieso nicht
helfen.“
Bibi streckt sich zum Tisch und umgehend schwebt die
Teetasse direkt unter meiner Nase. Ein strafender Blick aus goldbraunen Augen
lässt mich ergeben nach dem Lavendelgesöff greifen und ich nippe vorsichtig
daran.
Innerlich schüttelt es mich. Ich liebe Lavendel – in Bibis
Garten und in meinen Blumenkästen auf der Terrasse, aber als Getränk finde ich
ihn widerlich, egal wie viel Zucker man hineinrührt.
„Süße, es ist sehr lieb, dass du sofort zu mir geeilt bist,
aber Tobias ist bestimmt nicht begeistert, an einem Freitagabend allein unten
zu sitzen.“
„Mein Schatz ist wie üblich mitten im Film eingeschlafen,
der merkt gar nicht, dass ich weg bin. Jetzt erzähl mir endlich von deinem Traum.
Ich höre dich seit Wochen fast jede Nacht schreien. Du kannst es abstreiten,
soviel du willst, es scheint doch immer schlimmer zu werden.“
Verdammte Axt! Verflucht seien die dünnen Wände dieses
Hauses.
Eigentlich bin ich alt genug, um meine Probleme allein zu
bewältigen, aber es tut gut, mit Bibi darüber zu reden. Ich weiß es, weil meine
Schwester seit frühester Jugend meine Vertraute ist.
Zu ihr bin ich ins Bett geflüchtet, als der Traum begann,
mich im Alter von vier Jahren heimzusuchen. Bibi ist sieben Jahre älter und hat
immer versucht, mich zu trösten und zu beschützen. Als Teenager hat sie
monatelang Bücher über die Ursprünge von Träumen und deren Auslegung gelesen.
Leider haben uns ihre daraus gewonnenen Erkenntnisse keinen Schritt
weitergebracht.
Nachdem ich volljährig geworden bin, hat sie mich zu allen
möglichen Leuten geschleppt – Ärzten, Heilpraktikern, dubiosen Gestalten, die
angeblich böse Träume vertreiben können. Selbst zu einem Priester hat sie mich
geschleift. Ich habe mich zwar mit Händen und Füßen gewehrt, da ich meinen
Glauben an Gott und das Gute in ihm schon als Kind verloren hatte. Als dieser
Schwachkopf mich einem Exorzismus unterziehen wollte, hat sie es aufgegeben,
mir durch Außenstehende helfen lassen zu wollen.
„Was soll ich dir großartig erzählen? Du kennst meinen Traum
doch seit Jahren. Ich habe ihn dir oft genug geschildert.“
„Das schon, aber du hast noch nie so schlecht ausgesehen,
wie in den letzten Wochen. Denno, du wirst immer dünner und hast du dein
Gesicht in letzter Zeit mal genau im Spiegel betrachtet? Brüderchen, ich mache
mir Sorgen und habe echt Angst um deine Gesundheit.“
Ich nicke. Schließlich erzählt sie mir nichts Neues. Erst
vor ein paar Minuten hat mir vor meinem Spiegelbild gegraut.
„Naja, wie soll ich es sagen … Der Traum ist im Grunde
immer noch der Gleiche, wie vor 30 Jahren. Die Veränderungen sind eher subtil.“
„Versuch trotzdem, das Ganze in Worte zu fassen. Vielleicht
hilft es ja.“
„Bitte nicht jetzt. Du weißt, was der Psychoheini gesagt
hat. Ich soll mir das tagsüber in Erinnerung rufen, um die eingeschliffenen
Pfade zu verändern. Die Methode hat bei mir zwar nie gewirkt, aber es ist
einfacher für mich, es im Hellen zu beschreiben, sonst flippe ich nachher ganz
aus, falls ich erneut einschlafe.“
„Na gut. Morgen entkommst du mir jedoch nicht. Du hast
vormittags nur vier Fahrschüler, also kannst du gegen 14 Uhr bei mir
erscheinen. Tobi und die Kids wollen ins Freibad, somit haben wir viel Zeit, um
ungestört zu reden.“
Ich nicke zustimmend, auch wenn mir der Gedanke, den Horror
meiner Traumphasen zu beschreiben, schon jetzt eine Gänsehaut verursacht.
„Schlaf gut, kleine Schwester und danke für dein promptes
Erscheinen.“
Sie verpasst mir einen kräftigen Knuff in die Seite. Bibi
hasst es wie die Pest, wenn man sie ‚klein‘ nennt. Dabei ist sie genau das. Bei
einer Körpergröße von 1,62 m reicht sie mir gerade bis zur Brust.
„Frecher Kerl“, mault sie, wirft zickig den Kopf in den
Nacken und entschwindet.
„Ich liebe dich auch!“, rufe ich ihr schmunzelnd nach.
~*~
Meine erste Amtshandlung, nachdem Bibi die Wohnungstür
hinter sich geschlossen hat, ist, das Stövchen samt Teekanne in die Küche zu
tragen und das Lavendelgebräu zu entsorgen.
Ehe ich die kaum angerührte Teetasse ebenfalls aus dem
Wohnzimmer hole, stelle ich einen Becher unter den Kaffeeautomaten und drücke
den Knopf für einen doppelten Espresso.
Irgendwie werde ich verhindern, erneut unfreiwillig ins
Traumland zu stolpern, selbst wenn ich dafür meinen Blutdruck in
schwindelerregende Höhen treiben muss.
Mit der dampfenden schwarzen Brühe sinke ich in meinen
bequemen Sessel. Dort ist die Gefahr einzuschlafen nicht so groß, wie auf dem
Sofa.
Kopfhörer auf, eine Disturbed-CD
einlegen und die Lautstärke auf maximal.
Auch wenn ich mich voll auf den Text konzentriere, das
Wispern der ängstlichen Stimmen in meinem Kopf kann ich nicht ignorieren. Das
Gespräch mit Bibi hängt wie ein Damoklesschwert über meinem Haupt.
Ich drifte ab. Die Musik verkommt zu einem wilden Crescendo,
das die Empfindungen, die meine Alptraumwelt beherrschen, nur noch
unterstreicht.
Deutlich sehe ich den endlos langen Korridor vor mir, der
sich in der Ferne immer mehr zusammenzieht. Helles Licht am Ende des Ganges
verspricht Hilfe – Freiheit – Entkommen. Ich renne, gebe alles, was an Kraft
und Energie in mir steckt, trotzdem bleibt das ungute Gefühl, mich keinen
Millimeter von der Stelle zu bewegen.
‚Lauf, Denno, lauf!‘, brüllt es tief in mir. Meine Lunge
brennt, Adrenalin pumpt das Blut wie kochende Lava durch meine Adern. Mein Herz
rast, will vor Angst aus meiner Brust springen.
So weit, so schlecht. Dieses Szenario kenne ich, seit ich
zum ersten Mal mit diesem Traum konfrontiert wurde.
Als Kind bin ich nur gerannt, wusste nie, warum ich das tue,
wovor ich weglaufe.
Mit 14 ungefähr traten die ersten Veränderungen ein. Der
Korridor bekam Türen, aus denen undefinierbare Geräusche drangen, die mir die
schrecklichsten Bilder vorgaukelten, sollte ich es wagen, einen der
dahinterliegenden Räume zu betreten.
Nachdem ich mein Abi gemacht hatte, wandelte sich der Traum
erneut. Ich hörte das Stampfen schwerer Stiefel auf hartem Beton, die Türen
wiesen Sichtfenster auf. Wabernder Nebel, orangerote Flammen, absolute,
undurchdringliche Schwärze. Aus dem Nebel drang gequältes Stöhnen, das Prasseln
des Feuers wurde von schrillen Schmerzensschreien untermalt, die Dunkelheit
verströmte Panik, die meine Haut wie Peitschenhiebe durchdrang und sich in
meinem Kopf manifestierte.
Vereinzelte Sichtfenster gaben den Blick auf Treppenhäuser
frei, deren Stufen wahlweise nach oben oder in die Tiefe führten.
Irgendwann nahm ich allen Mut zusammen, riss eine Tür auf
und folgte dem Weg nach unten. Meine Hoffnung, dort einen Ausgang aus dem
gruseligen Gebäude zu finden, erstarb schlagartig. Genau, wie der endlose Gang
mich zu keinem Ziel führte – die Stufen brachten mich ebenfalls nicht weiter.
Ein hastiger Blick über das Treppengeländer bestätigte meine
Horrorvision – das Treppenhaus führte ins Nichts, die Stufen verschwanden in
für das Auge undurchdringlichen Schatten.
Viele Wochen später versuchte ich mein Glück in die andere
Richtung – nach oben. Doch der Effekt blieb der gleiche. Keine Abzweigung,
keine Tür, die mich auf eine neue Etage führte.
Bis vor drei Wochen blieb alles beim Alten. Ich floh weiter
den Gang entlang, hörte die polternden Schritte meiner Verfolger und fürchtete
mich halbtot.
In einer folgenschweren Sonntagnacht, ich war nach ein paar
Gläsern Wodka-Cola vor dem Fernseher eingeschlafen, änderte sich mein Alptraum
zu einem echten Szenario des Schreckens.
Mit pfeifenden Lungen rannte ich den Korridor entlang. In meinem
Kopf manifestierte sich der Eindruck, dass das Stampfen der schweren Stiefel
näher kam.
Sollte ich? Sollte ich nicht? Ich brauchte Gewissheit.
Anhalten – den Kopf wenden – einen hastigen Blick riskieren.
Großer Fehler!!!!!
Panisch stolperte ich weiter. Eine graue Substanz bewegte
sich auf mich zu, in der sich Umrisse nur schemenhaft ausmachen ließen. Fünf
oder sechs Gestalten, genau konnte ich es nicht erkennen. Sie waren nur noch
ein paar Dutzend Schritte entfernt.
Doch es wurde noch schlimmer!
Hinter dem grauen Nebel erhob sich eine schwarze
undurchdringliche Masse.
In meinem Kopf erklang eine Stimme. Falsch. ‚Stimme‘ konnte
man das Geräusch nicht nennen.
Es hörte sich an, als ziehe jemand seine Fingernägel über
eine Schiefertafel. Es schüttelte mich, Gänsehaut kroch über meinen Körper,
nicht nur wegen des ekelhaften Kreischens. Aus dem Schrillen wurden Worte, die
mich dazu brachten, all meine Kraftreserven zu mobilisieren, um wieder mehr
Abstand zwischen die graue Masse und mich zu bringen.
‚Bald habe ich dich.
Du wirst sterben. Ich werde in deinem Blut baden.‘
Entsetzt springe ich aus dem Sessel.
Ich habe nicht geschlafen. Warum fühlt es sich trotzdem so
an, als wären die Sätze gerade real gesprochen worden?
Panisch drehe ich mich um meine eigene Achse, scanne jede
Zimmerecke und reiße mir hastig die Kopfhörer runter.
Nichts!
Erleichterung will sich allerdings nicht einstellen, im
Gegenteil.
Zunächst haste ich durch alle Räume und schalte überall die
Deckenbeleuchtung ein. Das grelle Licht schenkt mir ein wenig Sicherheit.
Während ich in der Küche darauf warte, dass ein frischer
Espresso in meine Tasse läuft, denke ich über meinen Geisteszustand nach.
Verliere ich den Verstand? Soweit ich weiß, gab und gibt es
in meiner Familie keinen Fall von Geisteskrankheit.
Hm, vielleicht bin ich ja der Erste? Als normal gehe ich wohl
kaum noch durch, wenn mein Alptraum mich jetzt schon im Wachzustand heimsucht.
Vielleicht könnte ich diesen Traum besser wegstecken, wenn
ich hin und wieder etwas Normales oder Schönes träumen würde. Aber Nacht für
Nacht das gleiche Szenario zu erleben, besser gesagt zu erleiden, ist nach dreißig
Jahren einfach nur zermürbend.
Ich bin das alles so leid. Mein Leben kotzt mich einfach nur
noch an. Einzig das Wissen, welchen Schmerz ich meinen Eltern und Bibi samt
Familie zufügen würde, hält mich davon ab, meine elende Existenz auszulöschen.
Seufzend schnappe ich meine Tasse und lasse mich erneut im
Sessel nieder. Naja, wenn ich es mir recht überlege, muss ich gar nicht selbst
Hand anlegen, ich muss einfach nur abwarten. Auf Dauer wird mich der
Schlafmangel schon umbringen.
Wie lange kann ein Mensch ohne Schlaf überleben? Ich hab
keine Ahnung, sollte ich bei Gelegenheit mal googeln.
Morgen, bei meinem Gespräch mit Bibi, muss ich extrem
vorsichtig sein, damit mir nicht unabsichtlich solch eine Bemerkung entwischt.
© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR
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