Leseprobe
~ Gedankensalat ~
Wahnsinn, wie schnell ich mich daran gewöhnt habe, wieder
mehr Zeit mit Kilian zu verbringen, und vor allem daran, ihm jeden Morgen noch
vor der Arbeit oder Therapie die Hunde vorbeizubringen.
Shadow hat ihre Ressentiments gegenüber Kilian endgültig
abgelegt und sieht mich nicht mehr jedes Mal fragend an, bevor sie zu ihm geht.
Bei Gogo war das ja sowieso nie ein Problem, der kleine
Draufgänger mit dem Übertreibungsnamen hatte sich von Anfang an Kilian
ausgesucht, nicht mich.
Mittlerweile hört er sogar noch besser als sonst. Kilian
muss viel mit ihm geübt haben, aber dazu hatte er ja auch allerhand Zeit in den
letzten sieben Tagen …
Ich kichere leise und bin gespannt, ob Gogo demnächst auch meine Klamotten klauen wird, um sich daraufzulegen. Bisher macht er das nur bei Kilian, was ja irgendwie noch mal die erste Wahl des kleinen Kerlchens unterstreicht.
Ich schätze, wenn es nach ihm ginge, wäre es am besten, wenn
wir alle vier irgendwo zusammen lebten.
Tja … Ich verziehe den Mund. Die Wunde in mir schreit
kreischend auf und lässt mich zusammengekrümmt zurück.
Ich frage mich, ob das jemals besser werden wird …
Gerade eben habe ich meine Racker wieder bei Kilian abgeliefert.
Ihn jeden Tag zu sehen, ist verrückt und toll und so irrsinnig schmerzhaft
zugleich.
Ich reiße mich wieder zusammen und fahre zur
Gemeinschaftspraxis, in der Doktor Pförtner vormittags ausgewählte Patienten
übernimmt.
Wann werde ich endlich kapiert haben, dass ich Kilian trauen
kann? Dass sein Wegrennen in Hamburg eine vollkommen nachvollziehbare Handlung
war? Dass es mich eher hätte wundern sollen, wenn er geblieben wäre, nachdem er
erfahren hat, wer und was ich früher war?
Ich seufze, weil mir klar wird, dass nicht sein Weggang in Hamburg,
sondern sein Weggang wenig später in Weidenhaus der Auslöser für mein
Misstrauen war.
Die Trennung.
Mit ihr hat er mich in die Hölle geschickt.
Ohne Gebrüll, ohne Streit, ohne eine echte
Auseinandersetzung!
Hm, diese zorngeprägten Konfrontationen hat er jetzt
woanders …
Mir macht seine Unausgeglichenheit große Sorgen, ich habe
Angst, dass er sich noch in eine massive Schlägerei verwickeln lässt, nur weil er
dringend eine gänzlich andere Behandlung benötigt.
Sie mag durchaus Schläge beinhalten, nein, sie mag nicht, sie muss, wenn ich bedenke, wie er derzeit drauf ist …
Ob er überhaupt begriffen hat, dass die Not, die er gerade
erleidet, zu meinem gegebenen Versprechen gehört?
Ich kann sie lindern, ihm wieder inneren Frieden schenken,
und das sollte ich auch sehr bald machen, selbst wenn er nicht von sich aus
danach fragt.
Kilian braucht diese körperliche und sexuelle Unterwerfung
so dringend, dass es mir wehtut, ihn in diesem Zustand vollkommenen Chaos’ zu
sehen.
Vielleicht sollte ich das Dilemma, in dem er sich befindet,
einfach durch eine von mir angeordnete Session beenden?
Ich will es nicht bestimmen müssen und hoffe immer noch,
dass er von sich aus danach fragen wird.
Aber ich weiß genau, er will mir das nicht aufbürden, dabei
denke ich, komme ich damit deutlich besser zurecht als er.
Davon abgesehen …
Nein, bevor ich das weiter zerdenke oder mich meiner eigenen
Sehnsucht nach Sex oder körperlicher Nähe endgültig hingebe, muss ich mich auf
etwas anderes konzentrieren.
Am besten auf die Therapie!
~*~
Als ich knappe zehn Minuten mit dem Doc in der Gesprächsecke
sitze und – wieder einmal – über meine Ängste bezüglich Kilian rede, lässt er
einen Löffel auf den Tisch fallen.
Das Scheppern erschreckt mich halb zu Tode und ich fasse mir
reflexartig an die Brust, während mein Kopf zu ihm hochfährt. Normalerweise
starre ich beim Reden eher in meinen Kaffeebecher oder auf meine Füße.
Er sieht mich lauernd an, seine schwarzen Augen glühen
förmlich.
„Was … ist?“, frage ich, weil er sich nicht für den
Schreckmoment entschuldigt, sondern einfach dasitzt und abwartet.
Ich werde den Verdacht nicht los, dass er mich aus der
Fassung bringen wollte!
„Herr Moss, wir sitzen hier seit sechs Monaten dreimal in
jeder Woche und reden über Ihre Probleme. Dabei stelle ich fest, dass sich
nichts, absolut gar nichts an Ihrem Verhalten oder Ihrer Herangehensweise
geändert hat. Sie sind nach wie vor festgefahren in Ihren Vorstellungen, gefangen
in Ihren Ängsten und Nöten. Erklären Sie mir das bitte mal.“
Seine Stimme, die so tief und voll klingt, hat einen
grollenden, regelrecht bedrohlichen Unterton angenommen.
Ich schlucke trocken. „Was meinen Sie?“, frage ich
verständnislos.
„Ich meine“, setzt er an und grollt wieder so unheimlich,
„dass Sie auch nach all diesen Stunden in diesem Raum noch nicht einmal
vollständig mit der Wahrheit herausgerückt sein können. Was wir besprechen,
sind Beziehungsprobleme, deren Ursprung ganz sicher nicht in der Trennung zu
Ostern begründet liegt. Es gab ein Vorspiel und jede Menge Dinge, die bereits
lange davor stattgefunden haben müssen.“
Ich schlucke erneut, weiß nicht, was ich darauf erwidern
soll.
„Wir sind hier, weil Sie verarbeiten wollen, was immer geschehen
ist. Ich weiß von den Überfällen, von Ihrem Leben als Callboy und Dom in
Hamburg, aber ich weiß nicht, wieso der letzte Überfall und alles danach Ihnen
offensichtlich diskussionswürdiger ist, als die Dinge, die dahin geführt haben.
Sie belügen sich selbst, Sie belügen mich. Und ehrlich, meine Zeit ist knapp
und kostbar, es gibt Patienten, die meine Hilfe nicht nur wollen, sondern auch
annehmen und nutzen. Diese Menschen vertrauen darauf, dass ich ihnen helfen
kann. Sie dagegen wollen einfach festgefahren das ewig Gleiche diskutieren und
kommen dabei keinen Millimeter von der Stelle. Ich im Übrigen auch nicht, was
mich mittlerweile enorm frustriert.“
Ich seufze und nicke zögerlich. „Es tut mir leid“, sage ich
und meide seinen Blick. „Es gibt da tatsächlich einiges, aber es erscheint mir
so viel einfacher, mich um aktuelle Probleme zu sorgen, anstatt um Dinge, die
längst geschehen und vorbei sind.“
„So. Sind sie das? Vorbei?“, fragt er mit einem so wissenden
Ton, dass ich ihn doch ansehen muss.
Meine Schultern heben sich, fallen kraftlos herab. Scheiße,
er hat mich regelrecht eingeschüchtert mit seinem Wissen über mich!
„Ich hatte es zumindest gehofft.“
Er schnaubt missbilligend. „Wie wäre es, wenn Sie jetzt
endlich mal vorn anfangen?“
Ich trinke einen Schluck Kaffee und nicke ergeben. „Kann ich
machen.“
„Ich bitte darum!“ Nein, seine Worte sind keine Bitte. Aber
das ist wohl in Ordnung so, schließlich will er mir ja helfen.
„Die Anfänge kennen Sie, und ich habe Anfang des Jahres
alles aufgeschrieben, was seit meinem Umzug nach Hamburg passiert ist. Nicht
haarklein, aber doch die wichtigen Eckpunkte, habe dabei versucht, alles zu
reflektieren. Nicht nur aufgeschrieben, sondern auch drüber nachgedacht, mich
und mein Handeln hinterfragt.“
„Und?“, erkundigt er sich neugierig.
„Na ja, ich war in den vergangenen zwölf Jahren irgendwie
eine Art gefühlloses Monster …“, beginne ich und erkläre, erzähle,
schildere … bis er mich unterbricht.
Die ersten Jahre sind abgehandelt, mittlerweile habe ich
meine erste Dienstwohnung, bessere Kundschaft, habe Stefan kennengelernt und
befinde mich in der Ausbildung in Sachen BDSM.
„In Ordnung, lassen Sie uns da einmal einhaken. Sie sprechen
davon, im Alter von 22 Jahren bereits einmal überfallen worden zu sein.“
„Ja. Der Typ war verliebt in mich und weil ich ihn nicht
wollte, hat er sich genommen, was er
wollte.“
„Sie drücken das so herrlich neutral aus“, sagt er und
klingt ironisch-anerkennend. „Schon mal darüber nachgedacht, dass nicht nur
Ihre Höhenangst, sondern auch Ihre massive Angst vor Emotionen eine Folge
dessen war?“
Ich stutze. „Aber …? Ich bin doch verliebt!“
Er lächelt schief und nickt. „Ich weiß, aber die Blockade,
die Sie seit damals in sich tragen, weil Sie gesehen haben, wie ein verliebter
Mensch vollkommen absurd und unkontrollierbar reagieren kann, sitzt noch immer
tief in Ihnen. Sie haben es verdrängt, aber niemals verarbeitet oder gar
überwunden, so behandelt worden zu sein, nur weil jemand Sie geliebt hat.“
Ich atme tief durch. „Meinen Sie? Ich dachte immer, ich
hätte daraus gelernt, dass Gefühle nichts bringen, dass sie mir das Geschäft
versauen und mich einschränken könnten. Ich wollte nie eine Beziehung, weil ich
Kontrolle und Grenzen für meine Freiheit befürchtet habe.“
„Klingt, als wäre alles ineinander verzahnt. Sie haben die
eine Seite gesehen, die andere nicht. Das ist ein sehr menschliches Denken, das
ich Ihnen auch sicher nicht verübeln werde. Aber es ist etwas, an dem wir
arbeiten sollten.“
Ich fasse mir ein Herz und erzähle ihm von dem Diebstahl der
Datei und der Veröffentlichung des Buches.
Seine Augen werden immer größer, dann lodern sie wieder und
ich habe schon Angst, dass er gleich Rauchwolken aus Nasenlöchern und Ohren
ausstößt.
„Hölle noch eins, Sie haben aber auch wirklich Pech, wenn es
um diese Sache geht!“, entfährt es ihm.
„Allerdings. Aber die Sache läuft schon seit einer Weile.
Ich habe meine Arbeitskollegin angezeigt und die Kripo hat alle nötigen Beweise
bei ihr gefunden. Das Buch ist ziemlich erfolgreich. Ich weiß gar nicht, ob ich
wissen will, wie viel Kohle sie mit meinem verkorksten Leben gemacht
hat …“
„Nun ja, das Geld wird Ihnen letztlich zustehen. Was würden
Sie damit tun, wenn Sie es hätten?“
„Keine Ahnung, vielleicht verbrennen“, zische ich im ersten Reflex.
Bisher habe ich darüber nicht nachgedacht, auch wenn Lasse da eine klare Idee
hatte. „Nein, ich schätze, ich würde es spenden oder einfach weglegen. Ich habe
mit Sicherheit immer eine gewisse Geldgier besessen, aber der Gedanke, dass
mein Leben derart viel einbringen kann, nur weil mir schlimme Dinge passiert
sind, ist irgendwie morbide.“
„Das kann ich nachvollziehen. Aber ich möchte Ihnen raten,
sich genau zu überlegen, was damit geschehen soll. Letztlich ist es Ihre Geschichte,
Sie haben sie verfasst, dafür bezahlt zu werden, ist sicherlich zunächst nichts
Schlechtes. Ganz unabhängig vom Wahrheitsgehalt.“
„Hm“, mache ich. „Aktuell interessiert mich das nicht. Ich
weiß nur immer noch nicht, ob ich will, dass es vom Markt genommen wird.“
„Wenn alle Namen geändert sind, besteht wohl keine akute
Gefahr für Sie, zumal ja nicht Ihr Wohnsitz als Adresse im Impressum steht, wie
Sie sagen.“
„Stimmt.“
Wir reden noch fünf Minuten, dann ist die Therapiestunde
vorbei und ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein soll, weil er mich so angemeckert
hat, oder wütend auf mich, weil ich mich offensichtlich mit den falschen
Baustellen beschäftigt habe.
~*~
Im Büro ist es ungewöhnlich still, als ich ankomme, und mir
fällt auf den ersten Blick auf, woran das liegt.
Linda muss hier gewesen sein, denn ihr Schreibtisch sieht
jetzt, abgesehen von Tastatur und Maus, absolut ungenutzt aus.
Keine Bilderrahmen mehr, keine Tüte mit Lutschbonbons, keine
Taschentuchbox.
Irgendwie stört es mich, aber ein Teil von mir hat auch
ziemlich hämische Gedanken. Eine Mischung von Erleichterung und Wehmut erfüllt
mich. Ich mochte Linda immer sehr gern, und auch heute hasse ich meine frühere
Kollegin sicher nicht, aber ich kann auch nach wie vor nicht gutheißen, was sie
getan hat.
„Hat sie irgendwas gesagt?“, frage ich Bernhardine und
Hilke, sobald ich einen Kaffee vor mir stehen habe.
Bernhardine seufzt. „Sie hat geheult und gesagt, wie leid
ihr alles tut.“
Ich schnaube bösartig weil mein Zorn über Lindas Handeln nun
doch überwiegt. „Ach, echt? Das hätte sie sich vielleicht vorher überlegen
sollen“, schimpfe ich.
„Ja, hätte sie“, klinkt sich Hilke in das Gespräch und kommt
sogar aus ihrem Büro.
Ich mustere sie, meine Chefin sieht wirklich nicht glücklich
aus.
„Es tut mir leid, dass du deshalb nun so viel Zusatzstress
hast, Hilke. So war das ganz sicher nie beabsichtigt“, sage ich leise.
Sie lächelt schief. „Du konntest doch nicht ahnen, dass sie
so was machen würde. Ich hätte niemals damit gerechnet, immerhin kenne ich sie
seit Jahren!“
„Ich frage mich die ganze Zeit, wieso sie es nach dem Klauen
und Lesen unbedingt noch veröffentlichen musste. Ich meine, sie konnte nicht
ahnen, dass es so ein Bestseller wird, oder?“, sinniere ich.
„Ich schätze, sie war selbst davon überrascht. Haben dir die
Kommissarin oder ihr Kollege nichts gesagt? Bei denen müsste sie doch längst
alle Aussagen gemacht haben.“ Bernhardines Einwurf lässt mich aufsehen.
„Ich bekomme nur wenig Info. Die ermitteln wohl noch
irgendetwas“, erwidere ich und seufze frustriert. „Vielleicht muss ich da mal
anrufen?“
„Na los, schnapp dir das Telefon und frag nach“, verlangt
Hilke.
Ich nicke mechanisch, nehme aber mein Handy und das Headset.
Nur eine Minute später lege ich wieder auf.
Frau Sommers ist in einer Besprechung, wurde mir mitgeteilt.
Sie meldet sich, wenn sie Zeit hat.
In der Mittagspause telefoniere ich kurz mit Stefan, damit
er weiß, dass ich okay bin.
Anschließend rufe ich Allen an und erkläre ihm, dass ich,
irgendwann in der kommenden Woche nach dem Kürbisfest, kurzfristig einen Salon
im Club brauchen werde.
Er fragt natürlich, wieso, aber ich behalte meine Pläne
vorerst für mich, was er glücklicherweise akzeptiert und mir zudem zusichert,
dass jederzeit irgendein Salon frei sein wird. Wie er sagt, im Zweifelsfall die
Suite, die normalerweise nur Ryan und er nutzen.
Ich vermute sogar, er ahnt, was ich im Schilde führe. Allen
hat ein Gespür dafür, um das ich ihn hin und wieder wirklich beneide.
Vielleicht hat er es entwickelt, weil er als Besitzer des
Clubs noch mal mehr Verantwortung trägt als ein ‚normaler‘ Dom?
Unwichtig, jedenfalls bewundere ich ihn für diesen Weitblick
und seine schnelle Auffassungsgabe, wenn es um die Befindlichkeiten seiner
Mitmenschen geht.
Nach dem Feierabend, der sich freitags auf 15 Uhr verschoben
hat, hole ich die Hunde bei Kilian ab und mache mich auf den Heimweg, ohne dass
wir noch eine gemeinsame Runde um den Aasee drehen.
Ich muss zusehen, dass ich nach Sporken komme, um beim
Aufbau für das morgen startende Kürbisfest zu helfen!
~*~
Die Hunde bleiben im Garten, während ich zum Dorfplatz gehe
und mich den anderen Helfern anschließe. Da Frau Sommers sich bisher nicht
gemeldet hat, habe ich den Stecker im Ohr, um ihren Anruf mitzubekommen.
Lasse, Dion, Siggy und ich stapeln, nachdem Joshua, Clemens
und Raphael mit verschiedenen Traktoren große runde und eckige Strohballen
platziert haben, die in Körben und Holzkisten bereitstehenden Kürbisse
möglichst dekorativ auf und an den Stroh-Kunstwerken.
Da gibt es etliche Figuren aus zwei liegenden und einem darauf
stehenden runden Ballen. Die Dorfjugend verschönert die Gebilde, die auch an
allen Ortseingängen auf den an die Straße grenzenden Wiesen stehen, mit Gesichtern
und Kleidung aus unterschiedlich gefärbten Folien.
Wir sind im gesamten Dorf unterwegs, um überall mit
anzupacken, aber letztlich bleibt unsere Hauptaufgabe das Drapieren der
Kürbisse auf den eckigen Strohpyramiden, die den Dorfplatz schmücken sollen.
Dion macht sich gerade auf den Weg, die Figuren an den
Ortseingängen zu knipsen, deshalb hieven Lasse und ich nun mehr oder minder
allein die Flaschenkürbisse aus der vor uns stehenden Holzkiste.
„Hast du dir überlegt, was du wegen des Buches machst?“,
fragt er leise und sieht sich immer wieder absichernd um.
Ich hebe die Schultern und lasse sie sinken. „Ich weiß es
nicht. Denkst du, man erkennt mich oder gar Weidenhaus aus dem Text?“
„Nein, ganz sicher nicht“, behauptet er. „Und … ich
habe lange drüber nachgedacht, ob ich mich so weit einmischen darf, aber …
ich habe beschlossen, es dir auf jeden Fall zu sagen.“
„Was denn?“, frage ich neugierig.
„Na, dass du das Ding auf keinen Fall vom Markt nehmen
lassen darfst!“
„Aha? Und wieso nicht?“
Er lächelt schief und reicht mir den nächsten Kürbis, den
ich verblödet festhalte, ohne mich weiter zu bewegen. Wie kommt er denn
plötzlich darauf?
„Das Buch hat aktuell eine Bekanntheit, die sich überwiegend
auf die bisherige Leserschaft erstreckt. Natürlich empfehlen es viele weiter,
habe ich ja auch gemacht, aber es bleibt eben bei einem eingeschränkten
Personenkreis, da Nicht-Leser wohl nicht so viel davon mitbekommen. Wenn du nun
aber hergehst und es vom Markt nehmen lässt, gerichtlich oder polizeilich ist dabei
schon egal, werden sich die Medien drauf stürzen und Fragen stellen. Bislang
ist es eine Biografie, von der niemand weiß, ob sie wirklich echt sein kann.
Aber in dem Moment, in dem du sie aus dem Verkauf nehmen lässt, wird die Sache
noch mal viel interessanter für alle.“
„Du meinst, gewisse Zeitungen und so würden sich darauf
stürzen?“, hake ich nach.
Er nickt heftig. „Glaub mir, wenn das Buch, das seit Wochen
die Ranglisten beherrscht, plötzlich verschwindet, wird jeder glauben, es hat
einen sehr wahren Kern. Und durch die Magazine und Tageszeitungen wird ganz
sicher ein Riesenhype daraus. Jeder wird es haben wollen, um selbst
herauszufinden, was daran wahr sein könnte. Und dabei könnten eben auch diese
Mistschweine aus Hamburg darauf aufmerksam werden. Selbst wenn sie sonst nicht
lesen. Um gewisse Blättchen kommt man ja nicht einmal beim Bäcker herum.“
„Hm“, mache ich. „Du dürftest recht haben. Den Verkauf
abrupt einstellen zu lassen, würde echt mehr Aufmerksamkeit und vor allem
Neugierde wecken.“
„Ja, eben! Glaub mir, du willst nicht, dass der
investigative Journalismus sich an die wenigen Spuren heftet. Der
Impressumsdienst unterliegt nicht gerade einer Schweigepflicht, wenn du
verstehst …“
„Scheiße, Mann. Du kannst dir nicht vorstellen, wie gern ich
dieses Buch loswerden würde, aber was du sagst, ist logisch. Ich darf auf
keinen Fall riskieren, dass meine Freunde oder meine Familie doch noch da mit
reingezogen werden.“
Lasses Einblicke, die er mir bietet, ergeben tatsächlich
sehr viel Sinn. Die Vorstellung, dass sich plötzlich noch weitere Teile der
Bevölkerung für das Buch interessieren, lässt mich schaudern und ich muss die
aufsteigende Panik mit ein paar zwanghaft tiefen Atemzügen niederkämpfen.
Was, wenn durch eine Löschung des Buches auch die Leute rund
um Peter Danic aufmerksam werden? Er mag der Kopf der vier sein, aber er ist
ein kleines Licht im Vergleich zu jenen, die im Hintergrund die Fäden ziehen
und mich unter Druck setzen wollten.
Wir arbeiten schweigend weiter, weil ich echt nachdenken muss.
Als Frau Sommers um 18 Uhr endlich anruft, klingt sie
müde und abgeschlagen.
„Herr Moss, ich glaube, es wäre gut, wenn Sie am Montag im
Revier vorbeikämen. Wir müssen diese Dinge in Persona besprechen“, sagt sie,
als ich mich nach dem Ermittlungsstand erkundige.
„Ist in Ordnung, wie spät soll ich da sein?“, frage ich.
„So gegen Mittag?“, schlägt sie vor und ich stimme zu.
Nachdem wir das Gespräch beendet haben, frage ich mich,
wieso sie mir nichts sagen wollte und beschließe, einfach bis Montag zu warten.
Kommt meiner Vogel-Strauß-Mentalität ganz gelegen, muss ich
zugeben.
~ Schmerztarif ~
Das erste Kapitel macht seinem Namen alle Ehre.
Ich will Spaß!
Dieser Ty Balton ist mir ja ein nettes Früchtchen. Zieht mit
sechzehn Jahren wegen seiner Ausbildung nach Berlin und hat nichts Besseres zu
tun, als möglichst schnell alles, was einen Schwanz hat und nicht bei drei auf
dem Baum sitzt, zu vernaschen.
Klar will man in diesem Alter seinen Spaß haben, vor allem,
wenn niemand da ist, dem man Rechenschaft über sein Verhalten ablegen muss. Aber
dieser Ty lässt wirklich gar nichts anbrennen.
Wenn man der Beschreibung seines Äußeren Glauben schenken
darf, sieht er verdammt lecker aus, was ihm die Sache natürlich erleichtert.
Aber er entwickelt bereits nach kurzer Zeit eine Kaltschnäuzigkeit, die ich
nicht nachvollziehen kann. Auch wenn er sich manchmal toppen lässt, investiert
er kein bisschen Gefühl. Ihm geht es um die reine Triebbefriedigung.
Als er dann auch noch diesem Falko begegnet, der ihn auf den
Trichter bringt, sich den Spaß bezahlen zu lassen, wird sein Benehmen immer
arroganter. Er ist unglaublich von sich überzeugt, hält sich praktisch für ein
Geschenk Gottes an die Männerwelt.
Sein gutes Aussehen verschafft ihm diverse Jobs als Model,
die er seinen Eltern gegenüber als Ausrede nutzt, wieso er sich ein teures Auto
und extravagante Klamotten leisten kann.
Bereits mit zwanzig hatte er einen festen Kundenstamm, der
es ihm finanziell ermöglichte, sich eine ‚Dienstwohnung‘ zuzulegen. Dadurch konnte
er seiner Kundschaft wesentlich mehr Anonymität bieten, was ihn in die
gehobeneren Kreise aufsteigen ließ. Er hatte es nicht mehr nötig, jeden, in
seinen Augen dahergelaufenen Freier, zu bedienen.
Inzwischen zählten Richter, Staatsanwälte, Firmeninhaber und
Manager zu seinen Kunden.
Ich brauche erst mal einen frischen Kaffee. Hennes hat
recht, das Buch ist wirklich nicht schlecht, aber der Autor schafft mich. Wenn
das wirklich eine Biografie ist, kann ich nur sagen, als Mensch finde ich den
Typen unsympathisch.
Arrogant, selbstherrlich, absolut furchtlos und streitsüchtig.
Sobald ihm jemand in die Quere kommt, kauft er sich diese Person und macht sie
verbal platt.
Ty ist für mich ein selbstverliebter, überheblicher Arsch,
dazu noch unglaublich geldgeil.
Da es Zeit fürs Abendessen ist, ich aber unbedingt
weiterlesen will, mache ich mir nur einen Naturjoghurt mit frischen Apfelstückchen
fertig. Mit Kaffee, meinem Futter und einer neuen Schachtel Kippen setze ich
mich an den Tisch im Wintergarten.
Der nächste Kapiteltitel löst ein komisches Gefühl in mir
aus.
Der Verliebte und der
Kran
Wie schlimm es war,
wenn sich ein Freier in mich verliebte, habe ich anfangs nicht begriffen.
Zumindest nicht sofort, weil ich einfach Null Plan von dieser ominösen Sache
namens ‚Liebe‘ hatte.
Klar wusste ich, wie
verliebt meine Eltern miteinander umgingen, aber ich persönlich hatte bis dahin
so gut wie keine Erfahrungen auf dem Gebiet.
Wollte ich auch nicht,
schließlich hätte ein fester Freund oder eine Beziehung immer meinem Zweitjob
im Weg gestanden.
Als der verliebte
Bauunternehmer zu aufdringlich, zu nervig wurde, habe ich den Kontakt zu ihm
beendet und ihm gesagt, dass ich nicht mehr zur Verfügung stehe.
Wie konnte der Mann sich erdreisten! Ungläubig schüttle ich
den Kopf. Nicht zu fassen, warum hat er mit dem Armen nicht geredet und ihm
freundlich erklärt, dass das Gefühl nicht auf Gegenseitigkeit beruht? Hätte ich
auf jeden Fall netter gefunden, als ihn eiskalt abzuservieren.
Er nahm es ganz gut
auf – dachte ich.
Bis zu der Nacht, in
der ich splitterfasernackt aufwachte und nicht wusste, wo ich war.
Mir war kalt, es war
windig.
Ich stand auf und sah
mich um – eine Scheißidee. Ich war noch viel zu benommen.
Das änderte sich
schlagartig, als ich begriff, wo ich mich befand.
In luftiger Höhe, die
leider schwankte und mich hart gegen das halbhohe Geländer eines eiskalten Metallkorbes
warf.
Irgendwie habe ich es
fertiggebracht, mich festzuklammern, sonst wäre ich einfach in die Tiefe
gestürzt – was dem Plan desjenigen, der mich hierher gebracht hatte, wohl am
nächsten gekommen wäre.
Den Löffel Joghurt, den ich mir gerade in den Mund geschoben
habe, spucke ich zurück in die Schale und schiebe sie weit von mir.
Das ist jetzt …
Nein, das kann nicht sein!
Ich wische mir den Mund ab und lese nervös weiter.
So hockte ich zitternd
in einer Ecke des Krankorbes, in dem man mich entsorgt hatte. Ich fand meine
Kleidung in der Dunkelheit und zog sie mühevoll an, während der Kran durch den
herrschenden Wind immer wieder heftig durchgeschüttelt wurde.
Gibt es solche Zufälle?
Ich schüttle den Kopf, reibe mir über die Augen, lese den Absatz
noch mal. Meine Magenschmerzen machen sich vehement bemerkbar. Ich kann es
nicht glauben, will es auch nicht.
Vielleicht irre ich mich ja, also weiter.
Es dauerte schier
ewig, bis mir klar wurde, dass ich von dort wegkommen musste. Irgendwie.
Also richtete ich mich
vorsichtig wieder auf und sah mich erneut um.
Der Korb war an vier
Stahlseilen befestigt, die sich, eine knappe Armlänge über mir, in der Schlaufe
eines einzelnen anderen Stahlseiles vereinten. Ich konnte die Schlaufe
erreichen und mich hochziehen, keine zwei Meter darüber befand sich das
stählerne Gestell des Auslegers und nachdem sich meine Augen endlich an die
diffuse Dunkelheit der Berliner Nacht gewöhnt hatten, entdeckte ich auch den
Kranturm, der glücklicherweise nur ein paar Meter weit weg war.
Ich musste klettern,
mich über den Ausleger hangeln, am Turm entlang nach unten kommen. Irgendwie.
In der ganzen Zeit
dachte ich nicht eine Sekunde darüber nach, wie ich dorthin gekommen war, wer
mir das angetan hatte.
Ich kletterte und
kletterte, klammerte mich bei Windböen an allem fest, was ich zu fassen bekam,
und schaffte es glücklicherweise mit sehr wackeligen Knien, unten anzukommen.
Wo war ich? Ich lief
auf die nächstgelegene Reihe Straßenlaternen zu, stolperte über Sandhügel und
Kieshaufen, bis ich herausfand, dass ich am Westhafen war.
Ich hatte erwartet,
ich konnte nicht genau sagen wieso, auf einer Baustelle gewesen zu sein.
Erst später fand ich
heraus, wieso ich so dachte.
Der Heimweg kam einer
Flucht gleich. Ich hatte kein Geld und keine Papiere bei mir, meine schicke
Jacke, die ich eigentlich am Abend angezogen hatte, war auch nicht wieder
aufgetaucht, und mir blieb nichts anderes, als nach Hause zu laufen.
Unterwegs wurde mir
schlecht, ich übergab mich, musste pausieren, und wählte schließlich einen
anderen Weg, um in eine Klinik zu gelangen.
Wolfs Schilderung des ersten Überfalls hatte fast den
gleichen Wortlaut. Spinne ich? So was gibt’s doch nicht, zwei identische
Vorfälle. Ich brauche mehr Info.
Dort angekommen,
erzählte ich, was ich wusste.
Ich wurde sofort
untersucht und man stellte fest, dass ich neben der starken Unterkühlung auch
mehrere Prellungen und vor allem Verletzungen am Anus aufwies.
Ich versuchte, mich zu
erinnern, aber alles, was mir einfiel, war mein abendlicher Besuch in einem
Privatclub, in dem ich regelmäßig neue Kunden fand und hin und wieder auch mit
Stammkunden etwas trank.
Der Filmriss, den ich
offenbar hatte, ließ sich nicht durch Alkohol erklären, denn ich wusste genau,
wie viel ich vertrug.
Der Bluttest im
Krankenhaus ergab Reste von GHB, auch bekannt als Liquid Ecstasy, und geringe
Mengen Alkohol.
Nein! Bitte nicht!
Damit stand fest,
irgendjemand hatte mich unter Drogen gesetzt und vergewaltigt.
Ich hatte nur keine
Ahnung, wer!
Da ich die restliche
Nacht und zwei weitere Tage im Krankenhaus bleiben musste, brachte Falko mir
Wäsche und Toilettenkram, und wir versuchten gemeinsam zu rekonstruieren, was
geschehen war.
Ich hatte den
Verliebten in jenem Privatclub getroffen, wir hatten zusammen etwas getrunken
und dann … wusste ich nichts mehr.
Mein Körper hat sich
dagegen an alles erinnert.
An zahlreiche Schläge,
Bisse, den unfreiwilligen Sex.
Falko wollte, dass ich
Anzeige erstatte – ich wollte es einfach nur vergessen.
Das fiel mir nicht so
leicht, wie ich es gern gehabt hätte, denn auch wenn ich weitere Treffen mit
dem Bauunternehmer tunlichst vermied, blieb etwas zurück, das mich stets an
mein Erwachen im Krankorb erinnerte.
Ich konnte nicht
einmal mehr auf einen Stuhl steigen, weil mir sofort schwindelig wurde und ich
das Gefühl hatte, in eine bodenlose Tiefe stürzen zu müssen. Höhe war absolut
tabu geworden.
Früher liebte ich
Karussells, je höher, desto besser. Heute macht mir ein Mäuerchen an einem
Vorgarten schon Angst.
Dieses Gefühl
verstärkte sich, wenn Kälte hinzukam, so dass ich im Winter noch größere
Probleme hatte als sonst.
Fassungslos starre ich auf meinen Kindle. Höhenangst. GHB.
Die Verletzungen. Hennes hat gesagt, dieser Ty wäre auch ein Pay-Dom.
Ist dieses Buch die Lebensgeschichte von Wolf?
Quatsch! Kann nicht sein. Er hat mir immer wieder gesagt, es
wäre viel zu gefährlich, wenn irgendjemand erfahren würde, was in Hamburg
passiert ist. Dann ist er doch nicht so dämlich, ein Buch darüber zu schreiben.
Mein Kopf spielt mir da einfach einen Streich, weil es in
dieser Krangeschichte zu viele Übereinstimmungen gibt.
Wirklich nur in dieser Szene?
Der kleine Teufel in meinem Hirn legt schon wieder Feuer,
aber er hat recht.
Wolf ist auch mit sechzehn von zu Hause weggegangen. Sein
Pick-up hat ein kleines Vermögen gekostet und sein Lebensstil zeigt deutlich,
dass er nicht allein von dem Gehalt lebt, das er im Schreibbüro verdient.
Bevor ich allerdings erneut anfange, ihm Dinge zu
unterstellen, die sich später als Irrtum erweisen, lese ich lieber weiter.
Die nächsten Kapitel beinhalten die Ausbildung des Autors zum
Dom. Freunde haben ihm alles beigebracht, was er wissen musste und haben ihn
auch den Umgang mit den unterschiedlichen Gerätschaften und Spielzeugen gelehrt.
Mir fallen ständig neue Parallelen zu Wolf auf. Schließlich
hat er mir auf mein Nachfragen erzählt, dass Stefan und Lukas seine Neugier in
Sachen BDSM gestillt und ihm einiges beigebracht haben.
Das Einzige, was überhaupt nicht zu Wolf passt, ist der
Charakter dieses Ty.
Seine Gedankengänge, wenn er die Sehnsüchte eines Subs
stillt, sind dermaßen kalt und höhnisch, dass mir leicht übel wird. Für ihn
sind die Kunden nur Mittel zum Zweck. Er erfüllt ihre Wünsche ohne die
geringsten emotionalen Regungen. Benutzt ihr Bedürfnis nach Hingabe und
Unterwerfung, um seine Macht zur Schau zu stellen und seine finanzielle Gier zu
befriedigen.
Eins muss man ihm lassen, er erledigt seinen Job vorbildlich,
verletzt niemanden, fängt seine Kunden nach der Session auch auf, aber eben
völlig leidenschaftslos.
So habe ich mein Wölfchen nie erlebt. Egal, ob es um
Situationen im Alltag oder eine Session ging, er war nie herablassend oder
gönnerhaft. Im Gegenteil, ich kenne niemanden, der so körperbetont und
kuschelwütig ist wie er.
Ty beschreibt auch Begegnungen mit Sexpartnern, die er sich
selbst ausgesucht hat und mit denen er ohne Bezahlung in die Kiste hüpft.
Ich habe erwartet, dass er dabei mehr empfindet – weit
gefehlt. Ihm geht es rein um die Befriedigung seiner Lust.
Selbst die expliziten Beschreibungen dieser sexuellen Akte
rufen in mir nicht die geringste Erregung hervor.
Ist es wirklich möglich auf diese Art Erfüllung zu finden?
Ich kann und will mir das gar nicht vorstellen. Für mich wäre es ein Ding der
Unmöglichkeit und ich mag nicht glauben, dass Wolf es irgendwann mal konnte.
Ich brauche eine Pause. Am Tisch zu essen ist ja ganz
bequem, aber wenn ich zu lange unbeweglich hier sitze, wird es ungemütlich. Ich
nehme die Schale mit dem Joghurtrest und meinen Kaffeebecher mit in die Küche.
Während die Maschine einen frischen Muntermacher produziert, nutze ich die
Gelegenheit, kurz im Bad zu verschwinden.
Anschließend haue ich mich mit allem, was ich brauche, auf
die Sonneninsel und widme mich erneut dem Buch.
Die Überschrift ‚Anfang
vom Ende‘ impliziert, dass es jetzt spannend wird.
Nach der Beschreibung einer Session geht Ty nach Hause und
macht sich ausgehfein, um seinen Freund in dessen Club zu besuchen. Auf dem Weg
dorthin wird er Zeuge eines brutalen Überfalls. Vor seinen Augen wird ein Mann
zusammengeschlagen. Brutal, ohne einen Funken Mitleid. Man bricht diesem
Menschen mehrere Knochen, tritt ihm mit schweren Stiefeln gegen den Kopf.
Ty kann sich nicht rühren, obwohl er weiß, wie gefährlich es
für ihn werden kann, wenn die Täter seine Anwesenheit bemerken. Er ruft die Polizei,
um den Überfall zu melden.
Tief im Innern befürchtet er, dass das Opfer, falls es überleben
sollte, für immer ein Krüppel sein wird.
Während er mit dem Mann in der Notrufzentrale spricht,
erkennt er einen der Schläger im Licht einer Straßenlaterne und es ist für ihn
zu spät. Man hat ihn entdeckt. Er rennt um sein Leben. Nach der erfolgreichen
Flucht wirft er sich vor, dämlich und größenwahnsinnig gewesen zu sein.
Wow! Ich liebe blutige Krimis und Thriller, dabei handelt es
sich aber um Fiktionen. Solch eine Situation live mitzuerleben, ist ’ne ganz
andere Nummer.
Mein Bauchgefühl will mich davon abhalten, weiterzulesen,
aber das kann ich nicht zulassen. Ich muss wissen, ob der leise Verdacht, der
sich in meinem Hinterstübchen einnistet, wirklich richtig ist.
Außerdem interessiert mich, wie die Täter sich Ty gegenüber
verhalten. Er ist schließlich ein unliebsamer Augenzeuge.
Hochmut kommt vor dem
Fall
Keine Woche später
standen zwei von ihnen vor dem Portal des Hauses, in dem sich meine inzwischen
dritte, äußerst exklusive Dienstwohnung befand. An dem Portier in der
Eingangshalle wären sie nicht vorbeigekommen, ohne dass der Mann die Polizei
gerufen hätte.
Ich schätze, allein
meine Freundschaft zu Stephen hat mir in dem Moment den Arsch gerettet.
Zumindest beinahe,
denn anstatt sich mein Schweigen auf irgendeine Art zu erkaufen, setzten sie
mich unter Druck.
Sie forderten, das
muss man sich mal vorstellen!, meine komplette Kundenkartei!
Ich weiß noch genau,
ich habe sie ausgelacht. Habe ihnen erklärt, dass ich genau wüsste, was sie
getan hatten, und sie sehr vorsichtig sein sollten, wem sie drohen und wen sie
erpressen wollten.
Bilde ich mir das nur ein, oder ist das jetzt das Vorspiel
zu einem Überfall?
Zu einem Überfall, von dem ich schon gehört habe und dessen
Auslöser ein gefährliches Geheimnis birgt?
Mit zittrigem Finger wische ich zur nächsten Seite.
Drei Monate lang
versuchten sie es immer wieder. Bei einem ihrer letzten Besuche brachten sie
einen mir unbekannten Kerl mit, der mir befahl, Videos meiner Kunden
aufzunehmen, natürlich in eindeutigen Situationen.
Obwohl er mir
unmissverständlich zu verstehen gab, dass ich mich im Falle einer Weigerung mit
sehr mächtigen Leuten anlegen würde, die absolut keinen Spaß verstünden, lachte
ich ihn ebenfalls aus, wies ihn darauf hin, dass ich Verbindungen zu den
höchsten Regierungskreisen hätte, die solche Vögel wie ihn und seine Bosse
schnell aus dem Verkehr ziehen könnten.
Mein Standing in
Berlin war eindeutig zu gut, als dass sie etwas hätten riskieren können –
dachte ich.
Ich dachte es bis zum
sechsten September des vergangenen Jahres.
„Nein!“, schreie ich und pfeffere den Reader in die nächste
Ecke.
Schmerzhaft wird mir mit einem Schlag klar, dass alles, was
ich bisher nicht wahrhaben wollte, jetzt zu absoluter Gewissheit geworden ist.
Es ist Wolfs
Lebensgeschichte. Nachdem er mir gesagt hat, wie lange es her ist, dass man ihn
überfallen und missbraucht hat, habe ich das genaue Datum errechnet.
Jetzt kann ich keine Ausreden mehr finden, muss akzeptieren,
was er war.
Callboy, Pay-Dom und eine Person, die mir absolut fremd ist.
Mir tut alles weh und ich krümme mich auf der Liege
zusammen.
Liebe ich einen Mann, der noch perfider vorgeht, als Paul es
je getan hat?
Ich kann und darf das nicht glauben, nicht, ohne mit Wolf
gesprochen zu haben. Es ist unmöglich, dass er sich so verstellen kann. Außerdem
hat ihm die Beziehung zu mir doch keinerlei Vorteile gebracht, noch nicht mal
einen finanziellen – worauf Ty ja immer fixiert war.
Überhaupt … Ty Balton – mit meinem jetzigen Wissen
dauert es nur noch Sekunden, ehe es mir wie Schuppen von den Augen fällt.
Wolfs dritter Vorname ist Tybalt, daher stammt die Ableitung
des Autorennamens.
Hat er wirklich alles gefickt, was ihm vor die Flinte kam?
Wieso stelle ich mir so eine dämliche Frage?
Die Bestätigung habe ich schließlich schwarz auf weiß vor
der Nase. Außerdem habe ich ihn als jemanden kennengelernt, den ich nicht groß
zu einer heißen Nummer überreden musste. Dazu brauche ich mir nur unseren
ersten Fick ins Gedächtnis zu rufen.
Wenn ich genauer darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich damals
seine heftigen Anfeuerungen ziemlich merkwürdig fand. Jetzt erklären sie sich
von selbst.
Aber der Wolf, den ich kenne und liebe, hat absolut nichts
mit Ty Balton gemein. Ich habe echt keinen Schimmer, wie ich diese so
widersprüchlichen Individuen unter einen Hut bringen soll.
Mühsam rapple ich mich hoch, gehe ins Bad und werfe mir
kaltes Wasser ins Gesicht. Nur mit äußerster Anstrengung kann ich mich davon
abhalten, meinem blassen, verstört wirkenden Abbild im Spiegel in die Fresse zu
schlagen. Meine innere Unausgeglichenheit macht sich mit voller Wucht
bemerkbar, raubt mir für einen Moment den Atem.
Statt Kaffee sollte ich mir lieber Baldrian intravenös
zuführen, damit ich den Rest dieses Buches noch überstehe.
Buch! Allein dieser Gedanke reicht, um mich noch wütender zu
machen.
Warum konnte er mir nicht sagen, was diese Wichser von ihm
wollten, wenn er es jetzt der halben Welt erzählt? Angeblich wollte er durch
sein Schweigen doch jeden schützen, den er liebt, weil es für alle zu
gefährlich wäre, die Wahrheit zu kennen.
Ich will schreien, zu Wolf fahren, ihn schütteln, bis er mir
den ganzen Scheiß erklärt. Eigentlich habe ich gedacht, ich kenne ihn, aber das
war wohl ein großer Irrtum.
Ein Blick auf meine Armbanduhr sagt mir, dass es noch viel
zu früh ist, um nach Sporken zu fahren. Erst fünf Uhr.
Verdammt, dann ziehe ich mir eben noch den Rest rein, ehe
ich Wolf umbringe.
Ich krabble auf allen vieren auf dem Boden rum, bis ich
meinen Kindle finde und mich damit an den Tisch setze.
Während sie mich
quälten, mich mit Schmerz konditionierten, erhielt ich die Drohungen, die ich auch
heute bis ins Mark fürchte.
Sie erzählten mir von
einem Kollegen, Kevin, von dem ich wusste, dass er schlimm verstümmelt und
beinahe umgebracht worden war, von dessen Lebenspartner, der sich ‚erhängt‘
hatte, von seiner Großmutter, die in ihrer Wohnung überfallen worden war …
Jeden seiner sozialen Kontakte hatten sie auf die eine oder andere Art bedroht,
verletzt oder getötet, um Kevin zum Schweigen zu bringen.
Ich weiß nicht, was
aus ihm wurde, aber ich weiß, dass er nie zu den Bullen gegangen ist.
Manchmal denke ich, er
hätte es tun sollen, aber dann wieder frage ich mich, wieso ich selbst es nicht
getan habe, und mir wird bewusst, dass die Unversehrtheit meiner Familie und
Freunde mir zu wichtig war – und noch ist.
Niemals werde ich die
tatsächlichen Geschehnisse irgendjemandem verraten.
Viel zu gefährlich für
die, die ich liebe.
Ich will mir nicht
ausmalen, was es in mir auslösen könnte, wenn sie meine Mutter so erledigen
würden, wie sie es mit Kevins Freund getan haben.
Ich wusste immer, es
war keine Selbsttötung, sondern ein eiskalter, sehr gut getarnter Mord.
Sonst hätten die
Bullen doch besser ermittelt, oder nicht?
Nein, ich muss
bekennen, dass ich durch meine langjährige Tätigkeit sehr genau weiß, dass ich
den Behörden nicht trauen kann. Wie viele Anzeigen von Bekannten sind im Sande
verlaufen, weil nicht weiter ermittelt werden konnte?
Ich weiß es nicht
mehr, aber ich weiß, dass diese miesen Typen sehr gut organisiert sind, und es
fertigbringen, keine Spuren zu hinterlassen.
Was er hier schreibt, lässt mich nachvollziehen, warum er
niemandem von dieser furchtbaren Sache erzählt hat. Trotzdem erklärt sich mir
damit nicht das Erscheinen des Buches.
Weiter im Text. Mir wird mit einem Schaudern bewusst, dass
ich jetzt lesen muss, was man Wolf wirklich angetan hat.
Auf dem Weg von der Dienstwohnung nach Hause wurde er
überfallen, mit irgendwelchen Drogen gefügig gemacht und an einen
menschenleeren Ort geschleppt.
Dort wurde er brutal zusammengeschlagen und getreten. Als er
am Boden lag, hielt man ihm eine Waffe an die Schläfe und riss ihm die
Klamotten vom Leib. Während zwei dieser widerlichen Wichser ihn aufs Kreuz
geschmissen und seine Beine so in die Luft gezogen haben, dass ihn ein dritter
ficken konnte, hat der vierte ihm die Waffe in den Mund gesteckt und
abgedrückt. Der Typ hat was von ‚russischem Roulette‘ gefaselt und gehässig
gelacht.
Ich zucke heftig zusammen, kann nicht weiterlesen, meine
Tränen lassen den Text verschwimmen.
Als mich Pauls Helfershelfer misshandelt haben, bin ich vor
Angst fast gestorben, aber was Wolf durchgemacht hat, kann ich kaum
nachvollziehen. Was einem wohl durch den Kopf geht, wenn jemand eine Waffe
abdrückt?
Für mich unvorstellbar. Er muss durch die Hölle gegangen
sein.
Auf dem Tisch liegt eine Packung Papiertaschentücher. Ich
schnappe sie mir, wische mir die Augen trocken und lese weiter.
Die Kerle haben ihn der Reihe nach vergewaltigt, dabei hatte
er immer die Waffe im Mund, wartete darauf, dass wieder einer von den Irren
abdrückt. Nachdem sie ihn sich alle einmal vorgenommen hatten, war seine Tortur
noch nicht zu Ende. Mit einer Flasche, einem Besenstiel und einem Schlagstock
haben sie ihn abwechselnd weiter penetriert.
Er hatte wahnsinnige Schmerzen, nicht nur durch das brutale Eindringen
in seinen Körper, auch durch mehrere gebrochene Rippen, die ihn bei dieser
beschissenen Haltung kaum Luft holen ließen.
Irgendwann wurde den Scheißkerlen langweilig. Sie schlugen
und traten noch mal auf ihn ein und ließen ihn dann hilflos zurück. Erst im
Krankhaus wachte er wieder auf und erfuhr, dass Passanten ihn gefunden und
einen Krankenwagen gerufen hatten.
Die von dem behandelnden Arzt benachrichtigten Polizisten
mussten unverrichteter Dinge wieder gehen, da Wolf behauptete, hinterrücks überfallen
worden zu sein und die Gesichter seiner Peiniger auch später nicht erkannt zu
haben, da es zu dunkel war.
Mir ist kotzübel, ich zittere vor aufgestauter Wut, weiß
grad nicht, wohin mit mir. Ich springe auf und tigere durch die Wohnung, um
mich wieder in den Griff zu bekommen.
Wie konnte ich Wolf auf dem Frühlingsdom einfach mit diesen gefährlichen
Mistkerlen allein lassen? Er muss nach dieser Begegnung völlig fertig gewesen
sein. Auch wenn er seine Freunde um sich hatte – ich war nicht da, um ihn zu
trösten, um ihm durch eine Umarmung Sicherheit zu geben.
Das werde ich mir niemals verzeihen.
Für mich grenzt es inzwischen an ein Wunder, dass Wolf mir
eine zweite Chance gibt, obwohl ich ihn so schmählich im Stich gelassen habe.
Ticke ich noch ganz richtig? Ich freue mich immer noch über
unseren Neustart, obwohl ich im Laufe der Nacht erfahren habe, dass er mich,
was seine Vergangenheit betrifft, von vorne bis hinten belogen hat.
Hm, belogen hat er mich eigentlich nicht, er hat es schlicht
und ergreifend verschwiegen.
Ein albernes Kichern entkommt mir.
Ich war mit dem teuersten Callboy von Hamburg liiert, wenn
es stimmt, was er von sich behauptet. Ist das zu fassen? Ausgerechnet ich! Ein
Kerl, für den Treue und Vertrauen das Wichtigste überhaupt sind.
Na ja, die Vertrauensklamotte habe ich inzwischen revidiert
und an Wolfs Treue habe ich bisher keine Sekunde gezweifelt. Kann ich es mit
meinem jetzigen Wissen immer noch? Ich weiß es echt nicht. Das muss ich mir
überlegen, wenn ich mit ihm gesprochen habe.
Er kann sich darauf verlassen, dass ich mich nicht wieder
abwimmeln lasse. Wenn er jetzt nicht reinen Tisch macht, dann muss ich wirklich
versuchen, ohne ihn zu leben.
Dieser Gedanke ernüchtert mich und ich setze mich hin. Der
Reader sagt, ich habe noch mindestens zweieinhalb Stunden Lesezeit vor mir. Ich
bin gespannt, was noch kommt, da er ja kurz nach dem Überfall umgezogen ist.
Genau das schildert er jetzt.
Ab der Hälfte des Buches kam mir die Ausdrucksweise des
Autors streckenweise vertraut vor, doch jetzt bin ich absolut sicher, dass Wolf
der Erzähler ist.
Ty Baltons Gefühlsleben war mir fremd, doch je weiter dieses
Kapitel fortschreitet, desto klarer wird der Autor zu Wolf.
Seine Unsicherheit bei vielen Begebenheiten, seine Angst,
seine Schreckhaftigkeit kommen deutlich zum Vorschein. Selbst wenn er zu Anfang
noch arrogant wirkt, denkt er über seine Mitmenschen inzwischen viel mehr nach.
Mir bleibt die Spucke weg.
Unsere erste Begegnung auf der Kirmes. Seine Beschreibung
meines Äußeren lässt mich kurz kichern, da diese Person keinerlei Ähnlichkeit
mit mir aufweist. Kim, so nennt er mich, ist für ihn Sex auf zwei Beinen. Finde
ich höchst informativ, allerdings hadere ich mit dem Gedanken, in einem Buch
verwurstet zu werden.
Was mein mieses Gefühl sofort wieder wettmacht, sind seine
Überlegungen zu meiner Person, als wir zu unserem ersten Kirmesbummel
aufgebrochen sind. Obwohl ich mich wie ein Arsch benommen habe, sind seine
Gedanken über mich ganz anderer Natur.
Es ist ausgesprochen interessant zu verfolgen, wie er sich
gegen jede Gefühlsregung wehrt. Wie er alles falsch auslegt, was ihn zu mir
zieht. Aber von einem Mann, der nie verliebt war, darf man auch nichts anderes
erwarten.
Speziell wenn wir Sex hatten, wurde seine Wesensänderung
deutlich sichtbar. Obwohl er immer versucht hat, mich als Kunden oder einfachen
One-Night-Stand zu sehen, haben ihm seine Empfindungen einen Strich durch die
Rechnung gemacht.
Es gab nicht eine Gelegenheit, bei der er abwertend über
mich gedacht hat, im Gegenteil.
Mich überläuft urplötzlich ein Schauer, weil mir etwas
auffällt, das einfach unglaublich ist.
Wolf hat mich immer wieder in seine Wohnung gelassen, ohne
mich groß zu kennen. Wir hatten unglaublich harten, ruppigen Sex. Auch wenn ich
ihn manchmal mit zu schnellen Bewegungen erschreckt habe, hatte er nie wirklich
Angst vor mir. Was mich allerdings restlos erschüttert, ist, dass er sich mir
nach seinen grauenhaften Erlebnissen überhaupt hingeben konnte.
Immerhin habe ich ihn dominiert, Gehorsam verlangt und ihn oft
ganz schön hart rangenommen.
Ich muss wissen, ob er das auch aufgeschrieben hat und wie
er sich dabei gefühlt hat.
Es ist fast schmerzhaft zu lesen, wie sehr er mir vertraut
hat, dass er in keiner Sekunde etwas Negatives über mich gedacht hat. Im
Gegenteil, er erwähnt immer wieder, wie geborgen er sich in meinen Armen
fühlte, wie dringend er das brauchte.
Dazwischen spricht er immer wieder davon, für mich nicht gut
genug zu sein, bezeichnet sich selbst als hässlich, zumindest innerlich.
Sicher, Ty, der Callboy, war kein wirklich liebenswerter
Zeitgenosse, aber Wolf Moss ist es zu hundert Prozent. Wobei Ty kein schlechter
Mensch war, er besaß ein großes Unrechtsbewusstsein und war seinen Freunden
gegenüber absolut loyal und hilfsbereit. Trotzdem will ich diese Seite von Wolf
niemals kennenlernen.
Ich lese lieber weiter. Wenn ich schon die Gelegenheit
bekomme, in Wolfs Kopf zu gucken, dann nutze ich sie auch dreist.
Muss ich mich für meine Neugier schämen? Ich finde nicht,
immerhin hat er dieses Buch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Er
hätte damit rechnen müssen, dass ich es irgendwann entdecke.
Die intimen Einblicke, die ich erhalte, lösen sehr
zwiespältige Gefühle in mir aus. Einerseits will ich vor Liebe vergehen, weil
seine Gedanken und Überlegungen seine tiefe Zuneigung zu mir bezeugen, bereits
zu Zeiten, als er sie sich selbst noch nicht eingestehen konnte. Andererseits
bin ich sauer, weil er so viel über unser Privatleben ausplaudert. Dinge, die
ich selbst Nik niemals erzählen würde, weil sie einfach nicht für fremde Ohren
bestimmt sind.
Trotzdem versöhnen mich die nächsten Passagen wieder. Wie viele
Gedanken er sich gemacht hat, um mir geben zu können, was ich brauche. Er hat
mich unglaublich einfühlsam und geduldig ans Ziel geführt. Seine Spiele waren
immer darauf ausgerichtet, mein Vertrauen in ihn zu stärken, damit ich mich am
Ende ohne Angst fallenlassen konnte.
Was ich hier lese, besagt eindeutig, dass er nie
Hintergedanken hatte, er wollte immer nur, dass es mir gut geht. Ich habe schon
wieder einen Grund, mich bei ihm zu entschuldigen, weil ich ihm in Gedanken so
oft unrecht getan habe.
Die folgenden Kapitel enthalten nur noch Szenen, die ich
miterlebt habe. Sie allerdings aus seinem Blickwinkel zu betrachten, macht sie
unsagbar spannend.
Von Tys Kaltschnäuzigkeit findet sich keine Spur mehr. Auch
während unserer Sessions existiert nur noch mein liebevolles Wölfchen, selbst
wenn er harsche Befehle erteilt. Er genießt es, Macht über mich zu haben, aber seine
Liebe ist in jedem Wort, jeder Handlung und ganz besonders in seinen Gedanken
spürbar.
Im letzten Kapitel stoße ich auf einen Absatz, der mir
erneut die Tränen in die Augen treibt.
Nie hätte ich
erwartet, dass eine so oft, zu so unterschiedlichen Gelegenheiten ausgeführte
Tätigkeit, wie das Ficken eines Mannes, etwas so Außergewöhnliches sein könnte.
Ja, klingt vollkommen
verkitscht, aber so meine ich es nicht.
Was Kim mir an
Hingabe, Vertrauen und Liebe entgegenbrachte, wenn ich meinen Schwanz in ihn
schob, mich in ihm bewegte, ihn um mich spürte und mich mit ihm gemeinsam immer
höher trieb, war schlicht von einer nie dagewesenen Intensität.
Ich würde behaupten
wollen, dass die reine Handlung nicht mehr das Entscheidende war, auch wenn sie
als Mittel zum Zweck diente.
Entscheidend war
einzig und allein das Gefühl, das mich beherrschte, das Gefühl, das Kim mir von
sich zeigte und gab.
Es machte nicht
einfach Spaß, ihn zu nehmen, es war pure, reine Erfüllung, es zu tun!
Keine Ahnung, wie lange ich hier sitze und es immer wieder
lese. Eigentlich brauche ich den Text nicht mehr, ich kann ihn bereits
auswendig. Mit jedem Wort dehnt sich mein Herz weiter aus, zerschmettert den
Stahlpanzer in winzig kleine Atome.
Ich will jubeln, weil ich denke, dass es doch noch ein WIR
für uns geben kann. Lange hält dieser Überschwang nicht an, da sich der fiese
Teufel wieder zu Wort meldet.
Was ist mit Ty? Gibt es ihn nicht mehr oder taucht er eines
Tages wieder auf?
Was ist mit all den Sachen, die er verschwiegen hat?
Was ist mit diesen Gangstern, die ihm auf den Fersen sind?
Eines weiß ich mit hundertprozentiger Sicherheit, den Ty aus
Hamburg will ich nicht kennenlernen. Ich kann ihn nicht leiden, diesen
arroganten Arsch.
Wie ich damit umgehen soll, dass Wolf ein Callboy und
Pay-Dom war, weiß ich echt nicht. Klar, es ist seine Vergangenheit, die kann er
nicht ungeschehen machen, aber wird es auch Vergangenheit bleiben? Vielleicht
stellt er irgendwann fest, dass ich ihm nicht genüge, dass er Abwechslung
braucht.
Ich frage mich auch, was passieren wird, wenn ihn seine
Verfolger eines Tages finden. Bringen sie ihn um? Bringen sie uns vielleicht
alle um?
Seine Freunde, seine Familie, mich.
Angedroht haben sie es ihm.
Dieses Buch fordert solch ein Szenario doch förmlich heraus.
Auch wenn sämtliche Orte und Namen geändert sind, bleiben die Drohungen und der
Überfall unverändert.
Verdammt! Was hat der Kerl sich nur dabei gedacht, sein
Leben so in Gefahr zu bringen?
Ich muss zu ihm.
Wolf muss es mir erklären und dann werde ich ihn zu Micha
schleppen, damit er Anzeige gegen diese Flachwichser erstattet. Mich hat er
schließlich auch so lange bearbeitet, bis ich es getan habe.
Schneller als der Schall bin ich im Bad. Duschen, Zähne
putzen, rasieren. Ab in irgendwelche Klamotten, Kippen, Brieftasche,
Autoschlüssel und los.
Es ist kurz vor zehn, als ich vor Wolfs Haustür stehe und
Sturm schelle.
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