Leseprobe
~ Wurstaufholen ~
Mann, wie lange ist
es her, dass ich zuletzt durch meinen Hunger geweckt wurde?
Ich richte mich
hastig auf, werfe einen Blick zum Wecker und verharre perplex, weil mir klar wird,
dass es bereits acht Uhr morgens sein muss.
Ich habe Kilian mit
meinen schnellen Bewegungen geweckt.
„Hey, was ist
los?“, fragt er und ich wende den Kopf zu ihm.
„Entschuldige, Löwenherz,
ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin voll hungrig und grad ziemlich
abrupt aufgewacht. Guten Morgen.“ Ich lächle ihn an und schiebe danach die
Beine vom Bett.
„Guten Morgen, Wölfchen. Hunger nennst du das? Bei mir heißt so was Kohldampf. Ich weiß gar nicht warum, aber aus irgendeinem Grund ist das Abendessen ausgefallen.“ Sein breites Grinsen verleitet mich beinahe dazu, wieder aufs Bett zu krabbeln und ihn ohnmächtig zu knutschen, aber die Natur ruft mich vehement in Richtung Badezimmer.
Ich schaffe es
nicht einmal, nach der Erledigung gewisser Geschäfte wieder zu ihm zu gehen, da
er mir in der offenen Badezimmertür gegenübersteht.
„Oh! Ich wollte
dich grade vernaschen kommen“, albere ich.
Er lacht fröhlich.
„Mir war, als hättest du das gestern sehr gründlich getan“, erwidert er und
schiebt mich sacht beiseite, um ins Bad zu gehen.
„Ich zieh mir was
über, dann mache ich Frühstück!“, erkläre ich noch, bevor er die Tür schließt
und ich mich trolle.
Minuten später habe
ich den Tisch bereits gedeckt, Aufstriche und Beläge dazugestellt, und die
Brötchen in den Ofen geschoben.
Nun belohne ich
mich mit einem Becher Kaffee und meiner Morgenzigarette auf der Terrasse.
Kilian kommt dazu
und zieht mich erst mal zu einem anständigen Guten-Morgen-Kuss an sich, bevor
er seinen Kaffeebecher nimmt und einen großen Schluck trinkt.
„Heute ist
Wurstaufholen“, erinnert er mich.
„Oh, stimmt ja!“
Ich grinse. „Ich glaube, seitdem wir aus Weidenhaus weggezogen waren, habe ich
das Lied nie wieder gesungen. Eigentlich schade.“
Er nickt. „Ich
spreche ja nun auch sehr wenig Weidenhäuser Platt, aber dieses Lied muss
einfach sein, vor allem, wenn man sich beim Wurstaufholen nicht blamieren
will.“
„Du machst mir
Mut …“, befinde ich halbernst.
„Ach, nach
spätestens zwei Stationen hast du es wieder im Kopf“, versucht er mich zu
beruhigen.
Der Kurzzeitwecker
für die Brötchen piept.
„Los, ich hab
mordsmäßigen Hunger, wenn ich nicht gleich was zu beißen bekomme, falle ich tot
um!“, verkünde ich und stehe auf, sobald ich mich aus Kilians Arm und der
Flauschdecke gewunden habe.
Beim Frühstück
entscheiden wir, dass wir unter den Häkelwesten unseres Karnevalkostüms dicke
Fleece-Pullover anziehen, damit wir nicht erfrieren.
Es sind zwar keine
Minusgrade mehr, aber wirklich warm geht anders.
Entsprechend
verkleidet fahren wir gegen zehn Uhr mit den Fahrrädern zum Treffpunkt. Unsere
erste Station ist das Haus von Konstantin und Joél in der Weberstraße.
Laut Kilian dauert
das Sammeln aller Cliquenmitglieder immer bis elf Uhr, so dass wir bei unseren
Freunden erst mal unsere Räder parken und in der Wohnküche der zwei auf ein
paar andere Gestalten treffen.
Alle sind
verkleidet und wir werden mit lautem Hallo begrüßt – na gut, am heutigen Tag
begrüßt man jeden mit ‚Helau!‘.
Die ersten Schnäpse
und Bierflaschen werden verteilt.
Da Joél frei hat,
haben Konstantin und er beschlossen, die erste Station zu bilden, damit sie
anschließend mitgehen können.
Der große
Bollerwagen, an dem Luftballons, Luftschlangengirlanden und an einem dicken,
festgebundenen Pfosten auch ein Schild mit der Aufschrift ‚Wurstaufholen 2020‘
befestigt sind, ist bereits mit mehreren Kisten Bier und einer Kühlbox voller
Likörflaschen bestückt. Becher und Pinnchen sehe ich auch in dem Vehikel.
„Wer soll dieses
Monster eigentlich nachher ziehen?“, erkundige ich mich ahnungslos und ernte
Lachen aus mehreren Richtungen.
„Wir wechseln uns
ab, aber meistens ziehen zwei zusammen. Der Griff ist breit genug und jeder hat
eine Hand frei für sein Bier“, erklärt Konstantin fröhlich, während er seine
quietschgrüne Perücke noch einmal geraderückt.
Er und Joél sind
als Joker aus Batman verkleidet, beide in der verwaschen geschminkten Version
von Heath Ledger.
Sie sehen ziemlich
cool aus!
Gegen halb zwölf
sind wir endlich unterwegs. Ich bin schon jetzt sehr dankbar für das ausgiebige
Frühstück, das Kilian und ich noch in Ruhe genießen konnten.
Sonst wäre ich
vermutlich bereits hackestramm, um es vornehm auszudrücken.
Die Schlagzahl in
Sachen Bierflaschen lässt auf den Fußwegen zwischen den Stationen etwas nach,
aber da wir an jedem Haus, das zu unserer diesjährigen Tour gehört, einen neuen
Bierkasten bekommen – zusätzlich natürlich das, weshalb man diese Tradition
‚Wurstaufholen‘ nennt – ist die Gefahr eines Vollrausches durchaus gegeben.
Wir sind gerade bei
den Eltern von Miriam angekommen, und trällern erneut das traditionelle Lied
auf Weidenhäuser Platt.
Aus allen Kehlen
erklingt:
„Frao, goa noan
Schostien, dor hang de lange Woste,
geev mei de lange,
un lott de korte moar hange!
Frao geev mei dit,
Frao, geev mei dat,
Frao, geev mei ’n Stück
van denn Puggenstatt!“
Irgendwie brechen
wir danach ab, obwohl es eigentlich noch zwei weitere Strophen gibt.
Miris Mutter Geli
lässt sich darauf aber nicht ein.
„Was denn? Seid ihr
schon fertig?“, fragt sie auffordernd und wir lachen, bevor wir weitersingen.
„Frao, goa noat Eiernüst,
dor legg de Eier sesse,
geev mei de fieve
un lott dat eene moar blieve!
Frao, geev mei dit,
Frao, geev mei dat,
Frao, geev mei ’n
Stück van denn Puggenstatt!
Lot mei nee so lange stoon,
ik mut no ’n Hüsken
wieder goon.
Frao, geev mei dit,
Frao, geev mei dat,
Frao geev mei ’n
Stück van denn Puggenstatt!“
Nun ist sie
zufrieden, und ich könnte mich noch immer über diesen herrlich seltsamen Text
kaputtlachen.
Frau, geh zum Schornstein, da hängen die
langen Würste,
Gib mir die lange und lass die kurze mal
hängen.
Frau, gib mir dies, Frau, gib mir das,
Frau, gib mir ’n Stück vom Schweineschwanz
Frau, geh zum Hühnernest, da liegen der Eier
sechse,
gib mir die fünfe und lass das eine mal
bleiben.
Frau, gib mir dies, Frau, gib mir das,
Frau gib mir ’n Stück, von dem
Schweineschwanz.
Lass mich nicht so lange stehn,
ich muss noch ein Häuschen weiter gehn,
Frau, gib mir dies, Frau, gib mir das,
Frau, gib mir ’n Stück, von dem Schweineschwanz.
Wer pinkeln muss,
nutzt die Gelegenheit jeweils an der aktuellen Station, und wir bekommen, wie
es sich gehört, immer mehrere luftgetrocknete Mettwürstchen und meistens einen
Zehnerkarton mit hartgekochten Eiern.
Es macht mir einen
Heidenspaß, so durch halb Weidenhaus zu streifen. Vor allem, weil wir in
ständig wechselnden Grüppchen ganz in Ruhe beim Gehen quasseln, uns erzählen,
wie die gestrigen unterschiedlichen Partys waren, von den verrückten Kostümen
berichten, die wir so gesehen haben, und natürlich reden wir auch über unseren
morgigen Cliquenausflug zum Rosenmontagszug.
Gegen 18 Uhr
trudeln wir vollkommen erledigt wieder bei Konstantin und Joél an der
Weberstraße ein, wo zu meinem Erstaunen kein dunkel daliegendes Haus, sondern
ein hell erleuchteter Garten auf uns wartet.
Verblüfft sehe ich Kilian
an, der, seit unserem Rückweg von Birtes Eltern hierher, konstant meine Hand
gehalten hat.
„Wer hat denn hier
alles vorbereitet?“, frage ich, kaum dass wir durch das Tor im Zaun zum
jenseitigen Teil des Hauses gegangen sind.
Konstantin, der
meinen Ausruf offensichtlich gehört hat, kichert. „Joéls und meine Familie. Sie
haben hoffentlich auch schon den Grill angeworfen.“
Das haben sie
tatsächlich, denn nur wenig später zieht der Duft von Fleisch und gegrilltem
Gemüse durch den Garten.
Ein Zelt, das
hinter einem großen, ausladenden Kirschbaum steht, nimmt uns alle auf. Es ist
wärmer darin, als ich vermutet hätte.
„Die zwei haben
einen ultraschönen Garten“, verrät Kilian mir und nickt zur hinteren Zeltwand.
„Da gibt es einen riesigen Schwimmteich, an dem sich im Sommer gern mal die
halbe Clique tummelt.“
„Echt? Das ist ja
cool! Dann müsst ihr nicht ins Freibad?“, hake ich nach. Mir ist durchaus
bewusst, dass so ein privater Pool deutlich angenehmer für all diejenigen sein
dürfte, die gleichgeschlechtlich orientiert sind. Immerhin ist hier nicht mit
Anfeindungen zu rechnen.
„Nope, müssen wir
nicht. Du auch nicht!“, versichert Joél mir grinsend, als er sich zu uns setzt
und einen Teller mit aufgeschnittener Mettwurst vor uns abstellt.
„Darf ich mir den Garten
mal ansehen?“, frage ich und er nickt sofort.
„Klar darfst du! Die
ersten Sachen vom Grill sind gleich fertig, so langsam brauche ich ein wenig
mehr Grundlage, auch wenn ich keinen Tropfen Alkohol hatte.“
Verwundert sehe ich
Joél an, dann die Flasche Radler in seiner Hand. Erst jetzt wird mir bewusst,
dass ‚Alkoholfrei‘ darauf steht, und er den gesamten Tag über weder Schnaps
noch anderes Bier getrunken hat.
„Du trinkst nicht?“,
hake ich nach.
Er lächelt auf eine
irgendwie traurige Art und ich bemerke, dass Kilian sich neben mir verspannt.
Was habe ich
verpasst?!
„Mein Freund und
mein bester Freund sind vor einigen Jahren bei einem Verkehrsunfall unter
Alkoholeinfluss gestorben“, sagt Joél ruhig und ich spüre augenblicklich, wie
kalt meine Wangen werden.
„Oh, shit! Tut mir leid!“,
bringe ich hervor und schlucke trocken.
„Alles gut, Wolf.
Dank Konstantin hab ich es überwunden, aber Alkohol bleibt für mich ein No-Go.
Vielleicht auch, weil ich ständig Leute zusammenflicke, die wegen der Sauferei in
Schwierigkeiten geraten sind.“ Er legt mir eine Hand auf die Schulter und
drückt beruhigend zu.
„Dann muss es ja
furchtbar für dich sein, uns alle trinken zu sehen“, murmele ich noch immer
betroffen.
„Er trägt es mit
Fassung“, erklärt Konstantin, der sich neben Joél auf die Bank sinken lässt.
Beruhigt mich das?
Ich sehe auf meine Bierflasche und es fühlt sich seltsam an, in Gegenwart von
Joél davon zu trinken.
Er scheint das zu
bemerken, denn er sagt: „Wehe du hörst deshalb jetzt auf!“
Da er und
Konstantin ebenso grinsen wie Kilian, entspanne ich mich ein wenig.
„Aber lass dich
nicht erwischen, dass du wegen einer Alkoholvergiftung gerettet werden musst“,
setzt Joél schalkhaft hinterher und sein Lachen steckt mich an.
„Okay, dann … würde
ich jetzt gern den Rest vom Garten sehen und den Grill überfallen.“
Kilian erhebt sich,
ich folge ihm und stehe Augenblicke später mit riesigen Augen vor der geilen
Poollandschaft von Konstantin und Joél.
„Das ist ja der
Wahnsinn!“, sage ich und deute zu dem Wasserfall, der aktuell für die einzigen
Wasserbewegungen sorgt.
„Ich hätte gedacht,
dass im Winter kein Wasser darin ist“, überlege ich laut.
„Der Whirlpool ist
leer, aber das Becken selbst muss weiterlaufen, weil der Filterteich oben neben
dem Haus sonst nicht arbeiten kann“, erklärt mein Freund und ich mustere ihn
erstaunt.
„Woher weißt du so
was?“
Er grinst ertappt.
„Ich habe vor etwa zwei Jahren die gleiche Frage gestellt, und mich aufklären
lassen.“
„So, so!“, erwidere
ich und lehne mich in seinen Arm. „Dann danke ich dir für die erhellenden
Worte.“
Ich strecke mich,
um ihn zu küssen.
Nach dem folgenden,
sehr ausgiebigen Kuss gehen wir Hand in Hand zum Grill und dem dort stehenden
Hünen.
„Na, Jungs?
Knutschen macht hungrig, was?“
Kilian lacht laut
auf. „Klar, dass du das wieder spitzgekriegt hast, Henning!“
Ah, nun weiß ich
immerhin schon mal, wie der Schrank heißt und grinse frech zurück.
„Na, was? Knutschen
ist auch eines von Petras und meinen Hobbys, sei dir sicher!“, erläutert er und
lacht ebenfalls.
„Wolf, das ist
Henning, der beinahe unangefochtene Grillmeister von Joéls Familie.“
„Nur beinahe?“,
frage ich und strecke ihm die Hand hin. „Hallo, freut mich!“
Henning nickt,
ergreift meine Hand und blickt mich leidend an. Der Schalk blitzt aus seinen
Augen. „Wenn Joéls Vater oder mein Bruder Robin es darauf anlegen, müssen wir
um den Platz hier kämpfen, aber die zwei haben es heute vorgezogen, mir das
Feld zu überlassen.“
„Na, dann lass mal
sehen, was du für unsere leeren Mägen zu bieten hast“, sagt Kilian und wenig
später kehren wir mit Würstchen, Steak und Salaten auf unseren Tellern zurück
ins Zelt.
Die Salate haben
wir uns aus der Küche geholt, in der ein nettes Büffet errichtet worden ist.
Dort habe ich auch
andere Verwandtschaft von Joél und Konstantin getroffen, und fühle mich seit langem
zum ersten Mal richtig sauwohl und vor allem sicher, obwohl ich nicht in
Kilians Armen liege.
Klar, auch bei
Holtkamps ist es toll, aber das Haus von Kilians Freunden scheint mit der
großen, total lieben Familie eine Art Refugium für Schwule zu sein.
Vor allem, wenn ich
bedenke, dass wir aktuell immer wieder von beschissenen, feigen Übergriffen auf
Schwule in Weidenhaus hören.
Im Laufe des Abends
essen, trinken, lachen und albern wir mit unserer sagenhaft tollen Clique und
haben endlos viel Spaß.
Erst nach
Mitternacht machen Kilian und ich uns auf unseren Fahrrädern auf den Heimweg.
~*~
Ich sitze an meinem
Laptop im Esszimmer – das hat sich seit Kilians Malexzessen so eingebürgert –
und arbeite an meiner Datei.
Nachdem ich es
mühsam geschafft habe, auch den unschönen Rest zu lesen, ist mir aufgefallen,
dass ich trotz der Beschreibung des Umzugs hierher, noch nicht ganz mit der
Geschichte abschließen konnte.
Erst als ich
irgendwann abends auf dem Sofa an Kilian gekuschelt dalag, ist mir aufgegangen:
Kilian fehlte.
Alles, was ich seit
meinem Umzug erlebt habe, fehlte.
Das Glück, das ich
seitdem erfahren habe, fehlte.
Deshalb habe ich
die vergangenen Tage genutzt, und alles nachgetragen, was bis heute passiert
ist.
Natürlich nicht
minutiös jede Begebenheit – der letzte Eintrag ist der Rosenmontag mit unserer
Clique.
Das liegt nun eine
Woche zurück und momentan sitze ich hier, um noch einmal alles von vorn zu
lesen.
Irgendwie hat mich
beim Versuch der Wunsch gepackt, noch ein wenig mehr Struktur in die Sache zu
bringen, deshalb gibt es nun Titel für die einzelnen Abschnitte, die bisher nur
‚Kapitel‘ hießen.
Verrückt, mehr und
mehr wird mein Bericht zur Vergangenheitsbewältigung zu einer Art Buch …
Aber ich denke, so
langsam kann ich es auch gut sein lassen. Was ich noch erzählen müsste, weiß
ich beim besten Willen nicht. Deshalb erkläre ich die Datei für geschlossen,
sobald ich die Struktur ein letztes Mal überarbeitet habe.
Okay, nun also noch
mal auf den Kindle damit, und dann werde ich den heutigen Abend damit
verbringen, alles am Stück nachzulesen.
Hoffentlich hilft
es und hoffentlich ist das ganze leidige Thema dann vom Tisch!
Es widerstrebt mir
nämlich von Tag zu Tag mehr, mit irgendjemandem darüber zu reden.
Schon gar nicht mit
Kilian, der, durch die voranschreitenden Ermittlungen und unsere ziemlich
glückliche Beziehung, endlich etwas Aufwind zu erleben scheint.
Ich grinse verzückt
vor mich hin, nachdem ich den Laptop heruntergefahren habe.
Ein Blick zur Uhr,
in ein paar Minuten wird er hier sein, der Mann, der mein Leben so grundlegend
verändert hat.
Verrückt ist es
nach wie vor, teilweise sogar unglaublich, aber offensichtlich ist es dennoch
wahr.
Während ich mir
einen Hoodie schnappe, um draußen eine rauchen zu gehen, denke ich über die
neue Dimension dessen nach, was Kilian und ich in der Horizontalen so treiben.
Das schiefe
Grinsen, das sich sofort um meinen Mund legt, sagt im Grunde schon alles.
Es ist endlos geil,
mit ihm zu schlafen!
Nie hätte ich
erwartet, dass eine so oft, zu so unterschiedlichen Gelegenheiten ausgeführte
Tätigkeit, wie das Ficken eines Mannes, etwas so Außergewöhnliches sein könnte.
Ja, klingt
vollkommen verkitscht, aber so meine ich es nicht.
Was Kilian mir an
Hingabe, Vertrauen und Liebe entgegenbringt, wenn ich meinen Schwanz in ihn
schiebe, mich in ihm bewege, ihn um mich spüre und mich mit ihm gemeinsam immer
höher treibe, ist schlicht von einer nie dagewesenen Intensität.
Ich würde behaupten
wollen, dass die reine Handlung nicht mehr das Entscheidende ist, auch wenn sie
als Mittel zum Zweck dient.
Entscheidend ist
einzig und allein das Gefühl, das mich beherrscht, das Gefühl, das Kilian mir
von sich zeigt und gibt.
Es macht nicht
einfach Spaß, ihn zu nehmen, es ist pure, reine Erfüllung, es zu tun!
„In welchen Sphären
schwebst du, Wölfchen?“, dringt Kilians Stimme in meine Gedanken, und ich fahre
wieder mal heftig zusammen, bevor ich ihn ansehen und vor allem anlächeln kann.
„Löwenherz!“, rufe
ich aus, während er eilig zu mir kommt und einmal mehr so betroffen aussieht,
dass ich ein schlechtes Gewissen habe.
Hm, meine noch
immer vorhandene Schreckhaftigkeit macht mir ernste Sorgen.
Wenn ich das nicht
endlich in den Griff bekomme, habe ich ein Problem.
„Tut mir leid, ich
wollte dich wirklich nicht erschrecken“, murmelt er, bevor er mich küsst.
„Du kannst ja
nichts dafür“, versuche ich ihn zu beruhigen, als er sich zu mir setzt und sich
ebenfalls eine Zigarette anmacht.
„Wer hat dich denn
erschreckt, wenn nicht ich?“, fragt er mit ironischem Unterton.
„Ich habe über uns
nachgedacht und schwelgte tatsächlich in ziemlich erotischen Sphären. Da hätte
sich jeder erschreckt, sei dir sicher.“
„Oh? Kriegst du
etwa rote Ohren?“, neckt er mich und zieht mich lachend an sich.
„Hmmm“, brumme ich.
„Ich könnte in dich reinkriechen, ständig!“
Leider hat er mit
seiner Beobachtung wohl wirklich recht. Ich überlege, streng darauf bedacht,
nicht wieder abzudriften, was genau ich noch tun soll oder kann, um endlich
wieder vollkommen rückhaltlos vertrauen zu können.
Um mich sicher und
aufgehoben zu fühlen, selbst wenn ich allein zu Hause bin.
~*~
Eine Woche ist es
nun her, dass ich die Datei vollständig beendet habe. Auch mit dem zweiten
Lesen bin ich durch, doch hat sich an meiner Schreckhaftigkeit ebenso wenig
geändert wie an meiner hilflosen Panik, als ich jenes bestimmte Kapitel zum
dritten Mal gelesen habe.
Glücklicherweise
war Kilian im Fitnessstudio, als ich an der Stelle angekommen bin. Sonst hätte
er sich wieder endlose Sorgen zusätzlich gemacht.
Heute ist Dienstag,
und da Kilian wieder in der Muckibude sein wird, kann ich etwas tun, von dem
ich ernsthaft hoffe, dass es mir helfen wird.
Ich habe vorhin,
von der Arbeit aus, noch bei Allen angerufen und ihn um ein Treffen gebeten.
Deshalb parke ich
um kurz vor 20 Uhr am Club und gehe hinein.
Am Empfang steht diesmal
nicht Sammy, sondern eine Dragqueen, die ich bisher nicht kenne.
Wie es sich gehört,
stelle ich mich vor.
„Guten Abend. Ich
bin Valentine. Allen erwartet mich.“
„Ich bin Lydia,
guten Abend, Valentine. Der Boss sitzt in der Bar.“
„Vielen Dank“,
erwidere ich und gehe zunächst zur Garderobe, um meinen Mantel und den Schal
loszuwerden.
Es ist zwar nicht
mehr arschkalt, aber ‚frühlingshaft‘ würde ich das aktuelle Wetter trotzdem
nicht nennen.
Allen zu finden,
ist auch bei einer gut gefüllten Bar nicht schwer, heute jedoch ist kaum etwas
los. Unter der Woche und so früh am Abend haben die wenigsten Berufstätigen
Zeit, hierher zu kommen.
„Hallo Wolf“,
begrüßt Allen mich, kaum dass ich an der Sitzecke angekommen bin, in der sich
der Clubbesitzer gerade allein aufhält.
„Nabend Allen.
Danke, dass du Zeit hast.“
Er schürzt nickend
die Lippen. „Gern, ich bin gespannt, worum es geht.“
Tja, nun wären wir
beim Eingemachten angekommen …
„Es geht darum,
dass ich den Eindruck habe, mit niemand anderem darüber sprechen zu können.“
„Hm“, macht er.
„Worüber genau?“
Eine Bedienung
steht urplötzlich und lautlos am Tisch, ich bestelle eine Cola, Allen nickt
nur, dann verschwindet sie wieder und wir sind erneut allein.
„Du weißt von Stefan,
wie ich ticke, und bestimmt auch, dass ich Pay-Dom war.“
Wieder nickt er.
„Okay, das ist
sicherlich nicht das Entscheidende, aber wichtig ist, dass ich sehr erfolgreich
war und ein echt gut laufendes Geschäft hatte, bis ich …“, ich atme durch
und setze fort, „von mehreren Typen überfallen und missbraucht wurde.“
Meine Eröffnung
lässt ihn harsch Luft holen und er sinkt verblüfft gegen die Rückenlehne der
Sitzbank.
„Du hast also was
ganz Ähnliches durch wie Kilian und ich“, murmelt er, bevor er sich wieder
aufrichtet und die Unterarme auf dem Tisch ablegt. „Hast du dir Hilfe geholt?
Therapeutische, meine ich?“
Ich schüttle den Kopf.
„Nein, ich habe innerhalb von wenigen Wochen alle Zelte abgebrochen und bin
nach Weidenhaus gezogen“, bekenne ich.
„Nicht gut“,
erwidert er ernst.
„Ich weiß, aber es
erschien mir im Herbst als die einzige Möglichkeit, um schnell und halbwegs
sicher aus dem Gefahrenbereich zu kommen.“
Seine Brauen ziehen
sich zusammen. „Du fürchtest, sie hätten das noch öfter getan?“
„Es war eine Art
Warnung“, gebe ich zurück. „Aber seitdem habe ich durch die Flucht hierher
wirklich Ruhe.“
Das muss ich
dazusagen, sonst fange ich auch hier an, mich hastig umzusehen.
„So wirklich
beruhigend scheint das für dich aber nicht zu sein.“ Allens Auffassungsgabe ist
schlicht bemerkenswert, aber was erwarte ich von einem guten Dom auch anderes?
„Nein. Der Punkt
ist, dass ich mit Kilian nicht darüber reden kann oder will. Such es dir aus.
Er darf auch niemals erfahren, dass ich Callboy war und noch viel weniger, dass
ich ein Pay-Dom war.“
„Aber wenn ich
drüber nachdenke, wie ihr an Karneval und auch sonst bei unseren Treffen drauf
wart, scheint die Frage, wer bei euch der Dominante ist, endgültig geklärt zu
sein. Kilian wirkte sehr ausgeglichen.“ Ein Kompliment, das weiß ich genau.
„Wir sind noch
meilenweit davon entfernt, dass er wieder er selbst ist, aber ja, er kann es
mir nun erlauben, ihn zu toppen. Daran war vor ein paar Monaten nicht zu
denken.“
So offen darüber zu
reden, funktioniert nur, weil ich weiß, dass Allen niemals mit jemandem darüber
sprechen würde. Nicht einmal Ryan wird er es sagen, zumindest nicht, wenn er
sich an den unausgesprochenen Dom-Kodex hält.
Jedenfalls vertraue
ich ihm.
„Das ist ein guter
Anfang, Wolf. Du solltest ruhig ein bisschen stolz darauf sein.“
„Das würde mir aber
nichts nutzen. Stolz ist nichts, wodurch sich irgendetwas verbessert. Aber
darum geht es ja auch nicht. Ich will, dass Kilian sich wohl fühlt, nichts
anderes zählt.“ Ich seufze. „Nur, dass mein Gemütszustand nicht gerade
einwandfrei ist und ich ihm Sorgen bereite, die er sich schlicht nicht machen
müssen sollte.“
Ich erzähle von
meiner Schreckhaftigkeit und davon, dass ich auch ihm, Allen, nicht von
Angesicht zu Angesicht sagen können werde, was wirklich geschehen ist.
Schließlich berichte
ich ihm von meinem schriftlichen Versuch.
„… aufgeschrieben
und es reicht nicht aus, leider. Ich meine, die Panik ist noch da, aber ich
denke, wenn ich mein Wissen um alles mit jemandem teilen könnte, würde es mir
vielleicht endlich einen Teil der Belastung nehmen.“
„Und dieser jemand
soll ich sein?“, hakt er verständig nach.
„Ja, es wäre toll,
wenn ich dir einen Ausdruck der Datei geben könnte und ich meine Erlebnisse loswerden
kann, ohne noch mal drüber reden zu müssen.“
Allen nickt und
mustert mich nachdenklich. „Wenn du das möchtest, werde ich sehr gern
versuchen, dir auf diese Art zu helfen. Allerdings kann ich dir nur dazu raten,
dir auch professionelle Hilfe zu suchen. Ich habe damals mit einem Therapeuten
gemeinsam erarbeitet, was ich brauchte, verloren hatte und wiederfinden
musste.“
„Klingt schrecklich,
ganz ehrlich. Ich war ziemlich platt, als ich deine Andeutung in Richtung
Kilian mitbekommen habe.“
„Das Schlimmste
daran war, dass ich meine Beziehung zu Ryan damit beinahe zerstört hätte, weil
ich ihn aus all meinen Problemen heraushalten wollte.“
Seine Eröffnung lässt
mich hart schlucken. „Ernsthaft? Aber Ryan ist psychisch nicht angeschlagen
gewesen, oder? Ich meine, er hat nicht erlebt, was wir durchhaben.“
Allen schüttelt den
Kopf. „Nein, glücklicherweise ist ihm so etwas nie passiert. Aber die Tatsache,
dass er ernsthaft überlegt hatte, sich zu trennen, damit ich wieder zu mir
kommen kann, war mir auch im Nachhinein noch eine Lehre. Ich würde nie wieder
auf die Idee kommen, ihn vor irgendetwas, das mich belastet, zu beschützen.
Mach nicht den Fehler, den ich gemacht habe, Wolf.“
„Denkst du
ernsthaft, dass Kilian mit all dem Scheiß den ich hinter mir habe, zurecht
käme?“
„Auf jeden Fall
besser als mit der Ungewissheit. Du sagst doch selbst, dass du ständig ein
schlechtes Gewissen hast, wenn er dich wieder schreckhaft erlebt hat.“
„Hm“, mache ich
nachdenklich. „Kilian weiß, dass ich überfallen wurde. Er weiß sogar von beiden
Malen. Für ihn wäre es wohl sehr viel schlimmer, dass ich seit langen Jahren
eben doch Dom bin, wenn auch nicht in einer festen Beziehung.“
„Da magst du recht
haben.“
„Okay, ich
verspreche, wenn es mir nicht hilft, dir alles zum Lesen gegeben zu haben,
werde ich mich wegen einer Therapie schlaumachen.“
„Willst du mit mir
darüber reden, wenn ich es gelesen habe?“
Die Frage lässt
mich stocken, weil ich darüber bislang nicht nachgedacht habe.
„Wäre wohl besser,
oder? Ich meine, wie soll es mir sonst helfen?“
Er grinst. „Du
hattest ursprünglich nicht vor, jemals wieder ein Wort darüber zu verlieren,
stimmt’s?“
Ich nicke beschämt.
„Ja, wenn ich ehrlich bin, wollte ich es abhaken.“
„Das wirst du nicht
schaffen, Wolf. Versuch es erst gar nicht.“
Ich seufze tief.
„Ist in Ordnung. Ich will es ja auf eine Art loswerden, die mir meine alte
Freiheit zurückgibt.“
„Dann bring mir den
Ausdruck die Tage vorbei, und ich melde mich, wenn ich alles gelesen habe.
Okay?“
„Ja, klingt gut.
Danke!“ Erleichtert sehe ich ihn an.
Interessant! Selbst
dieses Gespräch hat, obwohl ich noch gar nicht viel erzählen musste, schon für
Erleichterung gesorgt …
Zufrieden und
irgendwie beruhigt verlasse ich gegen 22 Uhr den Club und mache mich auf den
Heimweg. Bald müsste Kilian zu Hause sein, und ich wäre gern vor ihm da.
Natürlich werde ich
ihm von meinem Besuch bei Allen erzählen, es besteht schließlich kein Grund für
zusätzliche Geheimnisse, denke ich.
~ Ermittlungsstand ~
Seit ich wieder
regelmäßig zum Training gehe, habe ich währenddessen viel Muße, über mein neues
Leben und die Beziehung zu Wolf nachzudenken.
Früher hat mich
mein Kindle begleitet, damit sich zumindest die Stunde auf dem Laufband spannender
gestaltete. Heute schicke ich lieber meine Gedanken auf Wanderschaft.
Um mich vor unerwünschten
Unterhaltungen zu schützen, stecke ich gleich nach dem Umziehen die In-Ears
rein und drehe die Mucke laut auf.
Die meisten
Mitglieder kennen mich schon ein paar Jahre und quatschen mich nicht mehr an,
aber es tauchen halt ständig neue auf, die meinen, mir erzählen zu müssen, wie
toll sie sind.
Mit geschlossenen
Augen renne ich vor mich hin, blende die Musik in meinem Kopf aus und denke
über die vergangenen Wochen nach.
Inzwischen ist bei
uns der Alltag eingekehrt. Wir haben beide unsere Hobbys und
Lieblingsbeschäftigungen wieder aufgenommen, was bedeutet, dass wir auch mal
getrennt unterwegs sind.
Wolf geht wieder zum
Kampfsporttraining und ich mache weiter Ausdauer- und Kraftsport. Somit sehen
wir uns an vier Abenden in der Woche erst gegen 22 Uhr, wenn wir von dem kurzen
Treffen direkt nach Feierabend absehen.
Erst hatten wir
überlegt, ob wir auch die sportlichen Betätigungen gemeinsam machen wollen,
haben uns aber dagegen entschieden. Es ist für eine vertrauensvolle Beziehung
einfach nicht nötig, permanent aufeinander zu hocken.
Im Gegenteil! Ich
finde, jeder braucht ein gewisses Maß an Freiraum, muss sich auch mal allein
mit Freunden treffen können.
Durch meinen Ex,
der mir sehr viele Kontakte verboten hat, weiß ich, wie schrecklich es ist,
niemanden zu haben, mit dem man sich über alles Mögliche austauschen kann.
So nutzen Wolf und
ich unsere freien Abende hin und wieder dazu, uns mit einem oder mehreren aus
unserer stark angewachsenen Clique zu treffen.
Meine Gedanken
wandern weiter, bringen mich auf direktem Weg zu Wolf und unserem spannenden
neuen Sexualleben.
Seit ich mich von
ihm das erste Mal nehmen lassen konnte, ohne dass irgendwelche dämlichen Ängste
mich zurückschrecken ließen, geht es mir blendend. Wolf ist wahnsinnig
einfühlsam, so dass ich keine Probleme mehr habe, mich rückhaltlos hinzugeben.
Ich überlege, ob
ich ihn beim nächsten Mal um eine härtere Gangart bitten soll. Mir läuft ein
erregender Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, mich ihm völlig zu
unterwerfen. Von Wolf durch lustvollen Schmerz an meine Grenzen getrieben zu
werden, stelle ich mir unglaublich befriedigend vor.
Allerdings frage
ich mich noch immer, ob es für ihn ebenso erfüllend ist. Schließlich habe ich
nicht vergessen, wie sehr er auf mein dominantes Verhalten abgefahren ist. Auch
er hat die Unterwerfung und den Schmerz genossen.
Ob wir wohl einen
Mittelweg finden, bei dem wir beide zu unserem Recht kommen?
Von meiner Seite aus
kann ich definitiv ‚Ja‘ sagen.
Ich werde niemals
ein richtiger Dom wie Stefan, Michael oder Allen, dazu bin ich viel zu sehr
Sub. Für Wolf, in unseren privaten vier Wänden, kann ich es jetzt aber wieder sein.
Da bin ich mir ganz sicher.
Wenn er noch fit
genug ist, wenn ich nach Hause komme, werde ich dieses Thema mal ansprechen und
seine Meinung erfragen.
~*~
Am Freitag, in der
verkürzten Mittagspause, erreicht mich eine Nachricht von Michael. Er bittet um
Rückruf, da er dringend etwas mit mir besprechen muss.
Ich begebe mich
außer Hörweite meiner Kollegen und wähle Michaels Handynummer an.
„Hey Micha, gibt es
etwas Neues?“, frage ich neugierig.
„Hast du heute
Zeit, kurz auf dem Revier vorbeizukommen? Am Telefon können wir nicht alles
klären“, entgegnet er.
„Hm, ich muss bis
fünfzehn Uhr arbeiten, danach könnte ich kommen.“
„Okay, dann warte
ich auf dich. Bis nachher.“
„Bis dann“,
entgegne ich und lege auf.
Sofort kehren meine
obligatorischen Magenschmerzen zurück, die sich immer zu Wort melden, wenn es
um Paul geht.
Ich tippe schnell
eine Nachricht an Wolf, dann muss ich zurück an die Arbeit.
Mit ihm werde ich
telefonieren, sobald ich im Auto sitze.
Die Zeit bis zum
Feierabend zieht sich endlos in die Länge. Andauernd blicke ich zur Uhr, was
das Ganze natürlich nicht besser macht.
Was Micha wohl
herausgefunden hat, dass er es mir am Telefon nicht sagen konnte? Ich zerbreche
mir den Kopf, aber ich finde beim besten Willen keine brauchbare Erklärung.
Meinen
Magenbeschwerden sind diese Grübeleien nicht besonders zuträglich und wenn ich
nicht gerade zur Toilette renne, laufe ich plan- und ziellos durch die
Werkshalle.
Jemand zupft am
Ärmel meines Longsleeves.
Erschreckt bleibe
ich stehen und drehe mich um.
Günter steht vor
mir und mustert mich besorgt.
„Junge, was ist mit
dir los? Ich beobachte dich, seit du aus der Pause zurück bist. Bist du krank?“
„Nein, nein“,
erwidere ich hastig. „Du weißt doch, manchmal spielt mein Magen verrückt.“
Er sollte sich
wirklich erinnern können, dass ich diese Probleme nach der Trennung von Paul
sehr häufig hatte.
Leider bringe ich
ihn damit auf eine falsche Spur.
„Hast du Ärger mit
Wolf?“, fragt er alarmiert.
„Bei uns ist alles
okay“, beruhige ich ihn. „Ich habe nachher einen unangenehmen Termin, der mich
aufregt.“
„Was denn für
einen? Kann ich dir eventuell helfen?“
Ich denke einen
Moment darüber nach, ob ich ihm die Wahrheit sagen soll, entscheide mich aber
dagegen. Es würde viel zu lange dauern, bis ich ihm alles erklärt hätte und wie
ich ihn kenne, würde er einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er hören müsste,
was Paul mir angetan hat.
„Du kannst mir
nicht helfen, aber danke für das Angebot.“ Seine erste Frage überhöre ich
geflissentlich.
„Warum denken meine
Kinder eigentlich alle, dass sie mich für dumm verkaufen können? Sigrid und ich
wissen schon lange, dass du etwas vor uns verheimlichst, Kilian. Vertraust du
uns nicht mehr?“ Günters trauriger Blick geht mir durch und durch.
Ich lege den Arm um
seine Schultern und ziehe ihn näher zu mir.
„Natürlich vertraue
ich euch, Paps. Irgendwann erzähle ich euch alles, aber diese Sache heute muss
ich allein durchziehen. Du kannst da leider gar nichts für mich tun.“
Dummerweise treibt
es mich schon wieder zum Klo.
„Paps, ich muss …“
Hektisch zapple ich herum.
„Dann lauf und
danach machst du Feierabend. Ohne jede Diskussion!“, ruft er mir hinterher, da
ich bereits losgesprintet bin.
Erleichtert ziehe
ich mich anschließend um und packe meine Arbeitsklamotten zusammen.
Auf dem Weg zum
Auto suche ich meinen Bluetooth-Kopfhörer raus und pfriemle ihn ins Ohr. So
kann ich während der Fahrt telefonieren.
Zunächst sage ich
Micha Bescheid, dass ich bereits unterwegs bin. Anschließend rufe ich Wolf an.
Er ist zwar noch im
Büro aber es hat niemand etwas dagegen, wenn wir mal miteinander sprechen. Ich
melde mich ja auch nur höchst selten.
Wir reden, bis ich das
Revier erreiche. Unser Gespräch hat mich gut abgelenkt und mein Magen hat sich
zum Glück etwas beruhigt.
Wolf hat sofort
angeboten, mich zu begleiten, das habe ich aber kategorisch abgelehnt. Inzwischen
bin ich absolut in der Lage, so was allein durchzustehen.
Klar fällt es mir
noch immer nicht leicht, mit Außenstehenden über Paul zu reden. Wie die letzten
Stunden gezeigt haben, schlägt mir die ganze Sache immer noch auf den Magen.
Trotzdem verfüge ich über die innere Kraft, mich dem allein zu stellen.
Nachdem ich alle
Kontrollen hinter mich gebracht habe, klopfe ich an Michas Tür und trete nach seiner
entsprechenden Aufforderung ein.
Nur zögernd
schließe ich die Tür hinter mir, gehe aber keinen Schritt weiter in den Raum. Ein
Mann, etwa Mitte dreißig, hockt auf der vorderen Kante des Schreibtisches und blickt
mich neugierig an.
„Kilian, das ist
mein Kollege Jörg Kerner. Wir arbeiten zusammen an dem Fall und ich wollte,
dass ihr euch kennenlernt, falls ich mal verhindert bin“, klärt Micha mich auf.
Ich bin zwar nicht
begeistert, dass noch jemand dabei ist, wenn ich gleich erfahre, worum es geht,
aber es sieht so aus, als müsste ich mich langsam mal daran gewöhnen.
„Hallo Kilian, der
hier“, breit grinsend richtet Jörg einen Finger auf Micha, „hat gesagt, es ist
okay, wenn wir sofort zum ‚Du‘ übergehen.“ Sein Gesichtsausdruck ändert sich
nicht, als er aufsteht und mir die Hand reicht.
„Soso, hat er das?
Ziemlich dreist von ihm“, erwidere ich mit einem Zwinkern und ergreife seine
Rechte, um sie zu schütteln.
„Hallo Jörg, freut
mich, dich kennenzulernen“, setze ich nach.
„Seid ihr damit
fertig, euch über mich lustig zu machen?“, mault Micha streng.
„Ich habe nur
Tatsachen weitergegeben, also reg dich ab“, gibt Jörg ihm Kontra. Der Mann wird
mir immer sympathischer.
„Pffffft!“ Weiter
kommentiert Micha das nicht.
Ich kichere leise
vor mich hin und ernte einen strafenden Blick, der mich seltsamerweise nicht
erschüttert, obwohl ich weiß und bei jedem Treffen spüre, dass Micha ein Dom
ist.
„Setzt euch, damit
ich zum Thema kommen kann.“
Jörg und ich hocken
uns auf die Stühle vor dem Schreibtisch. Jetzt werden meine Hände vor Aufregung
doch etwas feucht und ich wische sie möglichst unauffällig an meiner Jeans ab.
Ich erfahre, dass
die beiden Typen, die ich identifizieren konnte, inzwischen in U-Haft sitzen. Bei
den vorgenommenen Hausdurchsuchungen wurden diverse Videos gefunden, mit immer
wechselnden Opfern.
Als Micha mir sagt,
dass sie gegen Paul nichts in der Hand haben, weil seine Kumpels bisher jede
Aussage verweigern, bin ich ziemlich sauer. Was mich aber richtig wütend macht,
ist, dass der Typ, der mir erzählt hat, Paul wäre der Initiator gewesen, abstreitet,
jemals mit mir darüber gesprochen zu haben.
„Der Arsch hängt garantiert
mit drin!“, wettere ich los.
„Der Meinung sind
wir auch, können ihm aber bisher nichts nachweisen“, erklärt Jörg.
Micha bittet mich,
zu ihm hinter den Schreibtisch zu kommen.
Auf dem Monitor
seines PCs zeigt er mir verschiedene Standbilder aus den anderen Videos und
fragt, ob ich eines der Opfer kenne.
Ich bin ziemlich
überrascht, dass man diesen Männern keine Maske aufgesetzt hat, wie es bei mir
der Fall war.
Zwei davon habe ich
schon mal im Double D gesehen, weiß
aber weder ihre Namen noch die ihrer Doms.
„Das dürfte kein
Problem sein. Der Besitzer ist bestimmt zu einem weiteren Gespräch bereit“,
meint Jörg.
„Ruf ihn gleich mal
an und mach einen Termin aus“, fordert Micha.
Jörg nickt und
verlässt den Raum.
„Wenn wir diese
drei Opfer finden können, hoffe ich, dass sie zu einer Aussage bereit sind.
Dann hätten wir auf jeden Fall noch bessere Karten gegen diese Bande“, sagt
Micha.
„Vor allem wäre ich
vor Gericht nicht der einzige Zeuge“, nuschle ich bedrückt. Das macht mir
nämlich am meisten Sorgen. Ich will nicht allein diesen brutalen Arschlöchern
gegenübersitzen.
„Sind wir fertig?
Kann ich gehen?“
„Nein, du hast noch
ein paar Fotos vor dir. Es gibt noch zwei weitere Drecksäcke, die bei dieser Schweinerei
mitgemacht haben.“
Ich seufze ergeben
und richte den Blick auf den Monitor.
Das neue Bild zeigt
einen maskierten Mann, der mit einer Bullwhip gerade zum Schlag ausholt.
Übergangslos sind
meine Magenschmerzen wieder da. Auch wenn man nur die untere Hälfte des
Gesichtes der Person sehen kann, weiß ich sofort, wer das ist.
„Paul!“, entfährt
es mir übermäßig laut.
Nicht nur ich zucke
zusammen, auch Micha scheint durch meinen Schrei leicht geschockt.
„Bist du sicher?“,
hakt er nach.
„Aber so was von“,
bestätige ich und nicke heftig. „Die Hose mit den seitlichen Stahlstacheln
erkenne ich zehn Meilen gegen den Wind, genau wie die dazu passenden Ledermanschetten
am Unterarm.“
„Hm, es gibt bestimmt
einige Männer, die auf so ein Outfit stehen“, zweifelt er meine Aussage an.
„Entschuldige
bitte, aber ich war neun Jahre mit dem Kerl zusammen. Da sollte ich wohl in der
Lage sein, ihn an seinem Körperbau und seiner Haltung zu erkennen.
Außerdem … siehst du den dunklen Fleck auf seiner linken Schulter? Das ist
ein Muttermal“, motze ich aufgebracht.
„Ganz ruhig,
Großer. Ich will nur sicher sein.“
„Ich schwöre jeden
Eid darauf, er ist es!“, bekräftige ich noch mal.
„Okay, dann haben
wir ihn am Arsch.“ Micha grinst zufrieden.
Er zeigt mir noch
ein letztes Standbild.
Obwohl ich nicht zu
hundert Prozent sicher bin, meine ich, Robbie zu erkennen. Den Typen, der jetzt
behauptet, mir nie etwas von Pauls Beteiligung an dem Überfall auf mich erzählt
zu haben.
„Jörg und ich sind
derselben Meinung, aber solange wir keine eindeutigen Beweise gegen ihn haben,
können wir nichts machen. Auf jeden Fall werden wir ihn im Auge behalten.“
Wie aufs Stichwort betritt
der Erwähnte den Raum.
„Ich habe für
morgen Vormittag einen Termin vereinbart“, wendet Jörg sich an Micha.
„Super.“
Bis die beiden
sämtliche Neuigkeiten ausgetauscht haben, hocke ich stumm da. Ich will nur noch
nach Hause, mich in Wolfs Arme flüchten und ihm erzählen, wie schlimm sich
alles entwickelt.
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