Leseprobe
~ Alles zu spät? ~
Eines Tages werde ich diesen verdammten Job an den Nagel
hängen.
Ich halte meine geprellten Rippen, nachdem ich den Koffer in
der Eingangshalle meines Hauses abgestellt habe, und gehe schnurstracks nach
oben ins Bad, um den Whirlpool einzuschalten.
In einer halben Stunde kann ich meine geschundenen Knochen
im heißen Wasser wieder geraderücken und hoffentlich entspannt schlafen.
Der Rückflug aus Indien hat mir trotz Businessclass keine Ruhe verschafft. Nicht eine Sekunde konnte ich schlafen – was möglicherweise auch an den superreichen Saublagen irgendeines indischen Großmagnaten gelegen haben könnte.
Narrenfreiheit geht mit Reichtum einher, so viel ist
sicher …
Weiter zur Küche, den Kaffeeautomaten anschalten und meine
Lieblingstasse darunter stellen.
Während die Bohnen frisch gemahlen werden, wandere ich
zurück in den Flur, wo auf einem Tischchen die Post der vergangenen Wochen
liegt.
Saskia, meine Haushälterin-Schrägstrich-Bodyguard, hat sie
wie immer dort für mich gesammelt. Sie hat heute ebenso frei wie alle anderen
Bediensteten.
So handhabe ich das immer, wenn ich nicht gerade schwer
verletzt von einem Auftrag zurückkehre.
Auf dem Rückweg zur Kaffeemaschine blättere ich die Kuverts
durch und entdecke zu meinem Erstaunen einen Brief von meiner Schwester Sisann.
Sie lebt – wie der Rest meiner Familie – in meinem
Heimatdorf Sporken.
Normalerweise würde sie mir eine Nachricht im Messenger
senden, wenn sie etwas mitzuteilen hat. Wieso also dieser Brief?
Ich nehme ein Messer als Brieföffner aus der
Besteckschublade, schiebe sie mit einem Hüftschwung wieder zu und fummle mit
Messer und Umschlag herum, um nachzusehen, was sie schreibt.
Hallo Jilas,
Da Du Dich
bisher nicht gemeldet hast, muss ich Dich auf diesem Weg davon in Kenntnis
setzen, dass gestern eine Einladung bei uns im Briefkasten gelegen hat.
Ich denke, Du
willst sie in den Händen halten, damit Du es glauben kannst.
Liebe Grüße
Sisann
Ich runzle die Stirn, sehe noch einmal in den Umschlag und
finde die Klappkarte, von der sie schreibt.
Eine Hochzeitseinladung!
Raphael Waldeck und Kaniel Steffens.
Ich schwanke sekundenlang zwischen hysterischem Auflachen
und großer Wut, während meine Knie wackelig werden.
Scheiße!
So ein Verhalten passt überhaupt nicht zu mir, aber was soll
ich gegen meine Gefühle schon tun?
Ich ignoriere sie seit einer ganzen Weile, aber das ist ja
nun vorbei.
Nun ja, es wird
vorbei sein …
Ich sehe erneut auf die Karte.
Schon nächste Woche!
Ein tiefes Durchatmen, ein Tippen auf meinen Ohrstecker,
dann sage ich: „Rufe Sisann an.“
Mein Smartphone wählt die Nummer meiner jüngeren Schwester,
während ich ins Bad gehe, um den Whirlpool abzuschalten.
„Hallo Bruderherz!“, begrüßt sie mich nach ein paar
Sekunden.
„Hallo Kleine. Wie geht es dir?“
Sie kichert. „So ein Babybauch ist etwas umständlich, aber
sonst geht es mir super!“
„Das freut mich. Und wie geht es den anderen?“
„Jilas, du rufst doch nicht wirklich an, um das zu fragen?“
Ihr wissender Unterton lässt mich kurz stocken, dann rette ich mich in ein
Lachen.
„Darf ich mich nach meiner Rückkunft nicht danach
erkundigen?“, frage ich scheinheilig dagegen.
„Du hast gerade meinen Brief geöffnet“, stellt sie fest und
lacht nun ebenfalls.
„Ist wahr. Ich komme noch heute nach Sporken.“
„Denkst du, dass das eine gute Idee ist?“ Sie klingt zweifelnd.
„Allerdings! Ich muss das tun, Sisann!“
„Na, wenn du meinst …“
„Meine ich. Ich packe jetzt nur noch schnell eine neue
Tasche, dann steige ich in den Wagen.“
„Bist du nicht gerade erst gelandet? Wo warst du? In Indien,
oder?“
„Ja, war ich und ja, bin ich. Wieso fragst du?“
„Weil ich dich kenne, Bruderherz. Du bist vollkommen
gerädert und würdest unter normalen Umständen mindestens einen Tag
durchschlafen!“
Damit hat sie recht. Ich werfe noch einen wehmütigen Blick
auf den Whirlpool und schließe die Badezimmertür von außen.
„Egal. Ich muss einfach!“
„Verstehe, monatelang verspürst du genau Null Komma Null
Sehnsucht nach deiner Familie, und nun musst du total fertig in einen Wagen
steigen und beinahe sechshundert Kilometer abreißen, weil heute ein gewisser
Junggesellenabschied stattfindet?!“
Sie klingt ein wenig panisch, aber ich kann es nicht ändern.
„Ich liebe dich, aber manchmal ist deine Sorge um mich echt
fehl am Platz, Sisann!“
„Ja, ja, schon gut. Sind die Hormone“, redet sie sich raus.
„Okay, Süße, wir sehen uns dann nachher, ja? Ich fahre
direkt zu dir und Falco.“
„Alles klar, ich lüfte dein Zimmer schon mal.“
Wir legen auf und ich atme tief durch.
Verdammt, verdammt, verdammt!
~*~
Hätte ich beruflich ein ähnlich schlechtes Timing wie in
meinem spärlichen Privatleben, müsste ich mir vermutlich seit etwas mehr als zehn
Jahren die Radieschen von unten ansehen.
Ich seufze und biege von der Bundesstraße auf die
Ausfallstraße nach Sporken ab.
Noch knappe zehn Minuten, dann werde ich vor Sisanns und
Falcos Haus, in einer Nebenstraße unseres ruhigen Heimatdorfes, einparken und
mir zuerst einen Kaffee machen.
Ich bin unfassbar müde und will im Grunde nichts anderes als
schlafen, aber das wird warten müssen.
Ein Punkt meiner Löffelliste besagt ganz klar, dass ich
diese Hochzeit verhindern muss. Komme, was wolle!
Dabei … habe ich noch keine Ahnung, wie genau ich das
überhaupt anstellen soll.
Es gibt ja diese hirnverbrannte amerikanische Floskel, dass
jeder, der etwas gegen die Eheschließung einzuwenden hat, nun sprechen oder für
immer schweigen möge, aber das ist hierzulande nun mal nicht üblich.
Schon gar nicht, wenn man nicht kirchlich, sondern lediglich
standesamtlich heiratet, wie es bei Kaniel und Raphael der Fall sein wird.
Also muss ich wohl etwas anderes finden.
Wäre echt schön gewesen, wenn ich mir innerhalb der letzten
Wochen schon mal Gedanken dazu hätte machen können, aber woher sollte ich
ahnen, dass es nun plötzlich so weit ist?!
Wer weiß? Vielleicht sollte ich trotzdem einfach bei der
Zeremonie aufkreuzen und Unruhe stiften?
Ein irres, ganz sicher meiner Übermüdung geschuldetes Lachen
kriecht durch meinen Hals und ich schüttle über mich selbst den Kopf.
Bevor ich zu Sisann abbiegen kann, komme ich an einem
großen, weitläufigen Komplex vorbei, der hier noch immer fehl am Platz wirkt,
obwohl meine Schwester und ich darin aufgewachsen sind – das Landhotel Sporken.
Seit vier Generationen im Besitz meiner Familie.
In der Garage, rechts am Privatbau der Anlage, haben meine
Freunde und ich früher an Mofas und Rollern, später an Motorrädern gebastelt,
die wir hatten.
Heute steht meine heißgeliebte Maschine – nun gut, eine
davon – in einem Schuppen hinter dem Carport meiner Schwester.
Ich seufze leise und passiere das Anwesen des Hotels, das am
Ortseingang, direkt neben einem hauseigenen kleinen See, steht, durchquere das
Dorf und biege ab, um meinen Wagen in Falcos Carport abzustellen.
Ich schaffe es kaum, auszusteigen, als die seitlich gelegene
Tür zur Küche meiner Schwester aufspringt und Sisann mir entgegenkommt.
Die sommerlich laue Brise dieses Julitages lässt ihr
Schwangerschaftskleid wehen und ich beeile mich, den Wagen zu verlassen, um sie
an mich zu drücken.
„Hey Süße!“
„Bruderherz!“, murmelt sie und klammert sich an mich.
Ich bin beinahe zwei Köpfe größer als sie, weshalb ich
versucht bin, sie hochzuheben.
Ich lasse es, aus Rücksicht auf ihren ansehnlichen
Babybauch, zu dem ich mich nun herabbeuge.
„Hallo Baby, hier ist dein Patenonkel. Es wäre schön, wenn
du bald da herauskommst, damit ich dich endlich sehen kann!“, erkläre ich dem
Kugelbauch und reize Sisann damit zu schallendem Lachen.
„Sie hat noch fast vier Monate Zeit! Du bist ein
unglaublicher Spinner, Jilas!“
„Ich weiß. Ein hundemüder noch dazu. Hast du einen bis zwei
Liter Kaffee für mich?“
„Komm rein, ein Becher dampft schon frisch auf dem Tisch vor
sich hin. Du kannst deine Tasche später holen.“
Ich folge ihr hinein und schnappe mir die Tasse. Nach dem
ersten Schluck hebe ich ihn vor meine Augen und lese den Aufdruck darauf.
Spezialagent Kaffee –
Mit der Lizenz, Tote zu erwecken!
Das erste Wort lässt mich leicht zusammenzucken, aber ich
fange mich erstaunlich schnell.
„Perfekte Tasse!“, befinde ich.
„Wie tief bist du eigentlich geflogen, dass du schon hier
bist? Wann haben wir telefoniert? Um zehn? Jetzt ist es gerade mal halb drei!“
Ich räuspere mich und ziehe es vor, erst noch einen Schluck
des Muntermachers zu trinken, bevor ich antworte.
„Äh, sagen wir es so: Der Verkehr hielt sich in Grenzen und
mein Wagen ist erstaunlich schnell …“
Sie schnaubt nur.
„Tut mir leid, Süße, aber ich wollte zeitnah ankommen, damit
ich nicht am Steuer einschlafe!“
„Schon klar. Monatelang hört und sieht man kaum was von dir,
aber wenn dein Erzfeind heiraten will, stehst du innerhalb von Stunden auf der
Matte.“
Sisann setzt sich zu mir an den Tisch und schüttelt
missbilligend den Kopf.
„Ich hatte viel zu tun … Es ist im Grunde reines Glück,
dass ich überhaupt herkommen konnte.“
Wie immer halte ich mich extrem bedeckt, was meinen Job
angeht. Schließlich weiß auch mein Schwesterchen nicht, womit ich mein Geld
tatsächlich verdiene. Die offizielle Version – man könnte es auch ‚Tarnung‘
nennen – lautet, dass ich Geschäftsmann bin.
Tatsächlich bin ich das irgendwie wohl auch.
Das Architekturstudium, das ich absolviert habe, hat mir
eine Idee für ein geniales Patent verschafft, doch kaum hatte ich die ersten
Semester hinter mir, bin ich wie die Jungfrau zum Kinde an einen gänzlich
anderen Job geraten.
Nach einem Sprung ins Eiswasser war klar, dass jener zweite
Job, bei dem ich im Grunde nur aushelfen sollte, meine wahre Bestimmung ist.
Ich durchlief alle Tests und Trainings und seitdem bin ich
genau der, der ich sein muss.
Meine heutigen Bosse, Franklin Geissner und Rainer Lannen,
haben mir geholfen, die Tarnung aufzubauen – dazu gehörte auch, dass sie mir
bei der Finanzierung des Patents geholfen haben.
Wann immer auf dieser Welt seither mein Fertigbausystem verwendet
wird, erhalte ich Geld dafür.
Der Grund, wieso ich mir diesen Palast von einem Haus, Bedienstete
und meinen Fuhrpark leisten kann. Ebenso die Spenden an das Dorf.
Eine supergute Tarnung eben, wenn ich bedenke, was diese Architekten-Nummer
wirklich verbirgt.
Ich blicke noch mal auf die Tasse und schlucke hart.
Mein Job ist zeitweise echt die Hölle, aber all meinen
Meckereien und der Muskelschmerzen, die ich auch jetzt wieder verspüre, zum
Trotz, würde ich ihn nie freiwillig aufgeben.
„Wann und wo ist denn die nächste Baustelle?“, will sie
wissen.
„Muss ich noch klären. Das mache ich aber erst am Montag.“
Eigentlich kenne ich den neuen Auftrag bereits, aber ich
habe zeitlichen Spielraum für die Erledigung und dementsprechend eilt nichts.
Nun ja, zumindest nichts Berufliches.
Wirklich dringend ist nur diese verdammte Hochzeit!
„Hm, dann hast du wirklich und wahrhaftig ein ganzes
Wochenende Zeit für deine Familie?“, hakt sie ironisch nach.
„Habe ich! Aber jetzt würde ich unheimlich gern das Bad im
Dachgeschoss belegen und eine Stunde in der Wanne dümpeln, bevor ich mindestens
drei Tage am Stück schlafen will.“
„Genau … Als ob du jetzt an Schlaf denken könntest …“
Ich lache müde. „Ist wahr, aber die Wanne brauche ich. Der
Flug steckt mir noch in den Knochen und die Fahrt hierher war auch nicht
entspannend.“
„Na, dann sieh zu, dass du deine Tasche holst und nach oben
gehst, ich lasse dir die Wanne ein und bringe dir eine Thermoskanne Kaffee. Und
wehe du pennst beim Baden ein!“
„Du bist die Allerbeste, Schwesterchen!“, befinde ich und
erhebe mich, um ihren Vorschlägen zu folgen.
~*~
Ich liebe diese Wanne. Sie ist fast so schön wie mein
Whirlpool, hat sogar Sprudeldüsen und hilft mir enorm, meine müden und
geschundenen Knochen, Muskeln und Gelenke zu entspannen.
Perfekt!
Der Kaffee hält mich wach, so dass ich gegen 17 Uhr deutlich
munterer und vor allem besser gelaunt wieder in der Küche im Erdgeschoss
antanze.
Sisann ist nicht dort, hat mir aber bezeichnenderweise einen
Zettel an die Kaffeemaschine gepappt, auf dem sie mir mitteilt, dass sie zum
Hotel gegangen ist.
War ja so klar!
Durch ihren Abgang bin ich nun gezwungen, ebenfalls in
meinem Elternhaus aufzutauchen.
Sie weiß genau, das hätte ich mir aus diversen Gründen gern
erspart.
Ich liebe meine Familie, ohne jede Frage!
Aber ich hasse das Brimborium, das sie jedes Mal
veranstaltet, wenn ich in Sporken bin.
Tief seufzend schnappe ich mir meine Brieftasche, mein
Handy, den Ohrstecker und die Autoschlüssel, um meiner Schwester zu folgen.
Alles andere würden meine Eltern und die restliche
Verwandtschaft mir echt übelnehmen.
Ich tippe auf den Knopf in meinem Ohr und sage: „Rufe Sisann
Mobil an.“
Es dauert nicht lange, bis sie das Gespräch annimmt.
„Sehr nett von dir, Süße, aber bevor du meckerst, ich bin
auf dem Weg.“
„Na, besser ist es, hier freuen sich schon alle.“
„Ja, danke auch.“ Ich seufze erneut. „Ich hoffe für dich,
dass du nicht alle angerufen hast.“
„Natürlich nicht, ich habe nur mit Mama telefoniert, die hat
dann die Telefonliste gestartet …“ Sie kichert überdreht und bringt mich
dazu, meinen Unwillen herunterzuschlucken.
„Schon gut, bis gleich!“
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