Leseprobe
1 ~ Bei Nacht und Nebel
Ich muss mich beeilen, es wird bereits dunkel. Wenn man im
Draußen lebt, sollte man sich nach Einbruch der Nacht nicht mehr im Freien
aufhalten.
Mein Weg führt mich durch Gassen und über breite Straßen.
Alles liegt tief verschneit da, macht aus der Skyline von Häusern in
unterschiedlichen Graden des Verfalls, spärlicher Bodenvegetation und
Baumgerippen eine bizarre Welt, in der alles Bewegliche – zum Beispiel ein einzelner
Passant wie ich – auch auf Entfernung leicht gesehen werden kann.
Ich muss noch ein langgestrecktes Feld passieren, welches zu dem Hof gehört, auf dem ich bis vorhin gearbeitet habe, dann erreiche ich die dichtgedrängten Gebäude der Stadt.
Die Installation der Solaranlage auf dem Scheunendach von
Markwart, einem der zahlreichen Bauern der Umgebung, hat deutlich länger
gedauert, als ich eingeplant hatte. Nun ja, eigentlich Unsinn, denn meine
Verzögerung beruht einzig auf der Tatsache, dass ich mich von seiner Frau
Eleanor noch zum Abendessen habe überreden lassen.
Mein[f1] e
echte Schwachstelle – für eine gut bereitete Mahlzeit nehme ich beinahe jedes
Risiko in Kauf.
Meine[f2]
Schritte beschleunigen sich ohne mein Zutun, es wird wirklich Zeit, dass ich in
den Winkeln und Nischen der Häuser abtauche.
Dunkel, beinahe bedrohlich, ragen die Ausläufer der Stadt
vor mir auf. Dennoch mag ich sie, die vier- bis fünfstöckigen
Mehrfamilienhäuser, die, zum Großteil unbewohnt und sich selbst überlassen,
jeder Witterung trotzen.
Manche haben nur noch löchrige Dächer, aus einer Zeit, in
der man Dachpfannen als Abdeckung benutzte.
Instand gesetzt wird nur, was noch genutzt wird. Die meisten
bevorzugen es, im Stadtkern zu leben.
Bauern wie Markwart sind für alle Bewohner des
Niemandslandes überlebensnotwendig. Sie produzieren Fleisch, Getreide und
Milch, wodurch es möglich
ist, sich hier draußen ausgewogen zu ernähren.
Markwart, Eleanor
und ihre drei Söhne arbeiten, unterstützt von einigen Helfern aus der Stadt,
das ganze Jahr hindurch für den Erhalt des empfindlichen Gleichgewichts.[f3]
In einer stark ausgedünnten Zivilisation, die sich grob in zwei
Bereiche aufgliedert: Produktive und Nachtbanden.
Zu Ersteren gehöre auch ich. Ich repariere Technik jeglicher
Art und installiere und warte Solaranlagen.
Die Nachtbanden verlassen gerade ihre Häuser in den
Randbezirken der Stadt. Sie haben ihren Handel mit den Produktiven, die den Tag
im Draußen beherrschen, erledigt, danach ausgeschlafen und werden nun ihrer
Aufgabe nachgehen.
Da ich mich noch am Stadtrand aufhalte, schwebe ich in
akuter Gefahr, einer dieser Banden in die Hände zu fallen.
Wieder.
Nein, nicht darüber nachdenken!
Ich setze weiter einen Schritt vor den anderen. Meine Finger
um die Gurte des Rucksacks gelegt, marschiere ich die Straße entlang.
„Befehl: Musik, Klassik, Three Days Grace, Album vier“, sage ich leise
und der Minicomp, der im gesamten linken Unterarm implantiert und von dem nur
ein flaches Display mit einer Datenbuchse am Handgelenk sichtbar ist, beginnt
mit dem Abspielen der Musik, die in den Implantaten im äußeren Gehörgang
ankommt. „Lautstärke zehn.“[f4]
Sofort reagiert der Minicomp [f5] und
ich gehe mit rhythmisch beschwingten Schritten weiter. Vielleicht kann ich so
die immer deutlicher aufsteigende Panik besser unterdrücken.
Musik hilft mir bei vielem. Besonders, seitdem ich vor neun
Monaten hier gelandet bin.
Nun ja, gelandet … abgestürzt sind wir. Mein Pilot und
Personenschützer Peer und ich. Der Langstreckenhelikopter, der mich zum Beginn
der ersten Semesterferien in meine Heimatsphäre und zu meinen Eltern bringen
sollte, ist einfach vom Himmel gefallen. In tausend Teile zerschellt und,
soweit möglich, ausgebrannt.
Keine Zeit zum Nachdenken. Ich höre über die Musik hinweg
das lautstark geführte Gespräch einer Nachtbande.
Es sind Sekundenbruchteile, die ich benötige, um in den etwa
einen Meter breiten Zwischenraum zweier Häuser zu schlüpfen und an den Wänden
abgestützt nach oben zu klettern. Nur weg vom Boden. Das ist immer das Erste,
was ich mache.
Eine Überlebensstrategie, die ich mir hier angewöhnen
musste. Was das angeht, bin ich sehr froh, in der Edukativsphäre meine sportlichen
Aktivitäten auf Parcours ausgerichtet zu haben.
Ich gehe nur im Dunkeln über den normalen Boden[f6] .
Sobald es das Wetter und die Sichtverhältnisse zulassen, bewege ich mich
kletternd, springend und hangelnd möglichst weit oberhalb des normalen Niveaus.
Von dieser Position aus kann ich sehen, wer sich am Boden [f7] bewegt,
ohne sofort in Gefahr zu geraten oder selbst gesehen zu werden.
Vier Meter trennen die fest ins Mauerwerk getretenen
Profilsohlen meiner Synfibrestiefel von der dichten Schneedecke.
Eine Nachtbande, bestehend aus vier Leuten, geht an der
Öffnung vorbei. Ich beobachte sie und atme erleichtert durch, dass sie mich
nicht bemerkt haben.
Im Grunde verrückt, wieso hätten sie in die Gasse[f8]
und dann auch noch nach oben blicken sollen?
Irrational, manche Gedanken und Ängste. Davor schützt
anscheinend nichts und niemand.
Vielleicht auch aufgrund dieser Erleichterung erschrecke ich
nur Sekunden später heftig.
Unter mir, in der schmalen Gasse[f9] ,
geht ein einzelner Mann entlang. Er kommt vom hinteren Teil des Weges auf mich
zu und wirkt mit seiner kerzengeraden Haltung und den forschen Schritten
mindestens leichtsinnig, eher arrogant.
Ein Einzelner hat hier draußen in der Dunkelheit nicht die besten
Überlebenschancen. Auch nicht, wenn man[f10] groß gewachsen und muskulös ist.
Allein der schattenhafte Umriss des Fremden erweckt meinen
Neid.
So gut gebaut wäre ich auch gern!
Die Welt ist ungerecht, vielleicht war sie das schon immer …
Aber wenn ich bedenke, dass ich in einem Genlabor designt
wurde, ist es geradezu fatal, dass der Techniker ausgerechnet das Wachstumsgen
vergessen zu haben scheint. Männer wie Frauen sind heute, im Jahre 2219,
mindestens einsachtzig groß. Spätestens mit 16 Jahren erreicht jeder, absolut
jeder, der in den Sphären geboren wurde, dieses Maß.
Ich dagegen bin der brillante Fehlschlag des Labors. Ganze
160 Zentimeter trennen meine Fußsohlen von meinem Scheitel. Das ist vernichtend
wenig und stellt mich auf eine Wachstumsstufe mit Zwölfjährigen!
Müßig, zu erwähnen, dass ich bereits 19 Jahre alt bin, und
somit weit unter jeglichem Standard liege …
Ich muss damit leben, aber das bedeutet leider nicht, dass
ich besser ausgestatteten Menschen gegenüber nicht neidisch oder eifersüchtig
werde.
Im Grunde ist es so, dass ich auf den ersten Blick eher wie
ein Kind denn wie ein Erwachsener wirke. Ich bin klein, leicht, schmal.
Das verschafft mir durchaus Vorteile, aber gerade jetzt, an
einem Winterabend, ist es ein gewaltiger Nachteil, weil man mich für leichte
Beute hält.
Der Typ da unten ist eine beeindruckende Erscheinung.
Mindestens einsneunzig groß, V-förmiger Oberkörper, endlose Beine, einfach
perfekt.
Jede seiner Bewegungen hebt sich gegen den helleren[f11] Schnee ab. Ich vergesse sogar, den Mund zu
schließen, während ich seine Geschmeidigkeit in mich aufsauge.
Er trägt sein helles Haar zu einem geflochtenen Zopf gebunden[f12] und ein langer, vermutlich pechschwarzer
Mantel, der bis zur Hüfte eng anliegt und danach weit fällt, weht bei jedem
seiner langen Schritte.
Was für ein Glück, dass er nicht bereits Augenblicke vorher
durch diese Gasse gekommen ist, sonst hätte er mich bei meiner Flucht nach oben
beobachtet.
Mir vergeht die Lust, ihn wahlweise anzuschmachten oder aus
lauter Neid zur Hölle zu wünschen, als er direkt unter mir stehenbleibt und
übergangslos den Blick hebt.
Er hat mich bemerkt!
Chimärendreck, das darf doch jetzt nicht wahr sein!
Mein lautloser Fluch ändert nichts an der Tatsache, dass ich
in sein Gesicht blicke und mich von dem, was ich erkennen kann, gefangen nehmen
lasse.
Er sieht wahnsinnig gut aus! Sollte ich die Straßenlaterne
verfluchen, die seine ebenmäßigen, bartlosen Züge beleuchtet?
Egal, ich habe keine Zeit nachzudenken, während meine Füße
sich von den Wänden lösen und ich mit gestreckten Beinen die knappen zwei Meter
überbrücke, um ihm meine Profilsohlen ins Gesicht zu treten.
Eine andere Chance habe ich nicht. Weiter hoch[f13] ist keine Option. Die Mauern enden nur
einen halben Meter über mir und ein vereistes, schneebedecktes Dach zu
erklettern, ist reiner Selbstmord.[f14]
Ich wappne mich für den Aufprall und kann den erschrockenen
Schrei nicht unterdrücken, als etwas Silbernes meinen rechten Oberschenkel
trifft und sich mit brennendem Schmerz hineinfrisst.
Meine Instinkte behalten das Ruder in der Hand. Ich kugele
mich zusammen – es wird ein harter Aufprall.
Abrollen, wieder auf die Beine kommen und losrennen.
Der Schmerz ist widerlich, aber ich habe keine Zeit, mir die
Verletzung anzusehen, muss möglichst schnell möglichst viele Meter zwischen den
Fremden und mich bringen, wenn ich diese Nacht überleben will.
Das klamme, feuchte Gefühl, das meine Bewegungen und die
Hose hinterlassen, zeigt mir anschaulich, dass ich stark blute. Das Nass kühlt
wahnsinnig schnell aus und der Schmerz betäubt sich rasch durch die
eindringende Kälte.
Ich habe keine Zeit, wenn ich überleben will! Kopflos haste
ich weiter. Anhalten darf ich nicht. Jede Minute Verzögerung trennt mich
möglicherweise zu lange von einem sicheren Unterschlupf und Ruhe, um mir
anzusehen, was dieser Wahnsinnige mit meinem Bein angestellt hat.
Bis zu meiner Wohnung werde ich es nicht schaffen, aber
vielleicht habe ich noch genug Energie, um humpelnd und strauchelnd einen
meiner Notunterschlupfe zu erreichen.
Ich werde Licht brauchen, um die Wunde zu verarzten.
Nur zu gern gebe ich mich der Hoffnung hin, dass der Kerl
mit dem Katana mich nicht verfolgt. Immerhin müsste er mich sonst längst
erwischt haben.
Meine Finger krampfen sich über der blutenden Öffnung zusammen.
Ich kann mir bislang nicht einmal ansehen, wie tief sie ist.
Ganz sicher, die Waffe war ein Katana. Ein fürchterlich
scharfes, wie ich angesichts des glatten Schnittes in meiner Hose sagen muss.
Ich bücke mich und nehme eine Handvoll Schnee auf, reibe
damit über den Schnitt in meinem Bein und bin in diesem Moment sehr froh, dass
ich vor lauter Taubheit nichts anderes als das dumpfe Pochen und ein kurzes
Brennen verspüre.
Der Schnee wird dunkel, ich nehme eine weitere Handvoll und
wiederhole das Spiel, dann wische ich meinen schwarzen Synfibrehandschuh an der
nächsten Wand ab und trete aus der schmalen Gasse, durch die ich geschlichen
bin, auf den Bürgersteig einer Hauptstraße.
Hauptstraße ist nett ausgedrückt … Sehr breit ist die
freie Fläche, die vor mir liegt, aber als Weg für Fahrzeuge wird die marode Oberfläche[f15] schon seit langem nicht mehr genutzt.
Es gibt kaum noch Mobile, man geht innerstädtisch zu Fuß.
Aber wo die Flanierwege, Alleen und Gehsteige in den Sphären
glatte, gut gangbare Oberflächen[f16] bieten, bewegt man sich hier mehr oder
minder von Schlagloch zu Schlagloch.
Tja, das Leben im Draußen ist nicht immer leicht, besonders
das Überleben kann dem einen oder anderen sogar extreme Schwierigkeiten
bereiten.
Egal, ich lebe noch und ich gedenke, zu überleben.
Ob ich das schaffe, liegt allein bei mir.
Gesetze oder Rechte gibt es hier nicht. Natürlich auch keine
Exekutive, die diese wahren könnte.
Die Menschen, die innerhalb der Sphären für ‚Gerechtigkeit‘
sorgen, würden sich wohl auch nicht hertrauen.
Ich überquere die Straße[f17] und versuche, nicht zu humpeln. Wenn mich
jemand beobachtet, stehe ich gleich wieder ganz oben auf der Speisekarte, denn
ein humpelnder Schatten ist ein leicht zu besiegender Schatten.
Ein toter Schatten, mit ein wenig Pech.
Aber Pech hatte ich heute wohl schon genug!
Die Straßen[f18] sind menschenleer. Nach Einbruch der Nacht
ist eben niemand so geistesgestört wie ich …
Ich tauche schräg gegenüber zwischen zwei Gebäuden ab und
verschwinde in der nächsten vollkommen dunkel daliegenden Gasse. Noch zwei Straßen[f19] , dann bin ich an meinem Notunterschlupf
angekommen und kann endlich mein dämliches Bein versorgen.
Geschafft!
Das Versteck liegt in einer früheren Geschäftsstraße. Die
gesamte Erdgeschossfront wird von zahlreichen, nun dunkel und verbarrikadiert
daliegenden Schaufenstern geprägt.
Neben einem verlassenen Café, wie es sie in der
Prä-Sphären-Zeit reichlich gegeben zu haben scheint, führt ein Weg zu den
Hinterhöfen der Geschäfte.
Mein Ziel ist das Schuhgeschäft, in dessen Keller es neben
dem ehemaligen Lager auch einen Heizungsraum gibt.
Ich steige die Stufen hinab und schleppe mich in den Raum am
Ende des Ganges. Schwer falle ich mit meinen steifgefrorenen Gliedern auf die
Matratze, die ich vor ein paar Wochen hierher gebracht habe, und schalte die
Taschenlampe ein, um anschließend das kleine Öllicht zu entzünden. Sobald ich
mehr Ausrüstung hier hinterlegt habe, werde ich die alte Lampe gegen eine mit
Solarakku austauschen. Aber das mache ich grundsätzlich erst, wenn ich ein
brauchbares Schloss an der Tür installiert habe.
Mehrere solcher strategisch recht günstig verteilter
Unterschlupfe habe ich. Dieser ist noch nicht so alt, aber immerhin habe ich
Licht und die Matratze. In einer Ecke steht ein Kanister mit Trinkwasser, also
kann ich ein paar Tage überleben, sollte ich dazu gezwungen sein, zu bleiben.
Ich zische genervt und auch ein wenig schockiert, als ich
die glatten Schnittränder meiner Hose auseinanderziehe.
Handschuhe mit den Zähnen abstreifen, Rucksack loswerden,
Medikit auspacken, Hose ausziehen …
Die Winterjacke vielleicht auch … aber dann wird’s zu
kalt!
Hier unten steht zwar der große Kessel einer alten Gasheizung,
aber da sie nicht mehr funktioniert, verbreitet sie keine Wärme.
Egal, raus aus den Klamotten, das Bein muss versorgt werden!
Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfe ich mich aus Stiefeln,
Hose und Jacke, werfe alles auf einen Haufen vor der Matratze und bin einmal
mehr erschrocken über die Tiefe des Schnittes in meinem Bein.
Diagonal zieht er sich von der Mitte des Knies in Richtung
Hüftknochen und zeigt mir dabei viel zu viele Lagen meines Gewebes. Muskeln,
diverse Hautschichten, wenigstens kein Knochen!
Ich krame im Medikit und finde das Fläschchen mit
Wundkleber. Die Wunde kann ich kleben, wenn ich zwei Klebenähte anlege. Eine
innen, auf halber Strecke der Schnitttiefe, eine außen auf der Haut. In den
Sphären gibt es deutlich bessere Methoden für die Versorgung derartiger
Verletzungen, aber ich besitze nichts davon. Der[f20] Medikit des Helikopters ist alles, was ich
habe. Kleber ist besser als gar nichts und ich muss diese verfluchte Blutung
stoppen.
Ein schmerzerfülltes Seufzen entkommt meinen Lippen, egal
wie fest ich sie auch aufeinandergepresst halten will.
Durch meine Ausziehaktion blutet die Wunde zu stark nach,
deshalb organisiere ich mir einen hoffentlich halbwegs sauberen Lappen aus
meinem Rucksack und Wasser aus dem Kanister, das glücklicherweise nicht
vollkommen eingefroren ist. Saubermachen, danach kleben und in meinen
Schlafsack kriechen.
Wenn dieses Zittern nicht nachlässt, werde ich meinen
kostbaren Vorrat an Entzündungshemmern zum Einsatz bringen müssen. Aber das
will ich möglichst vermeiden.
Schmerzen kann ich aushalten, Fieber jedoch wäre im
Niemandsland ziemlich tödlich für mich.
Ich rolle mich zusammen und versuche, den Schmerz zu
verdrängen. Natürlich spüre ich ihn – mit dem kribbelnden Stechen von tausend
Nadeln – als die Taubheit mich immer mehr verlässt. Meine Zehen finden auch,
dass sie sich ein wenig Gehör verschaffen sollten, und irgendwie ist alles an
mir klamm und kalt. Der Schlafsack wird mich retten, wenigstens für den Rest
dieser Nacht. Morgen muss ich versuchen, von hier aus in meine Wohnung zu
gelangen. Irgendwie.
Auch wenn ich befürchte, das kaum zu schaffen, muss ich es
versuchen. In dieser Kälte überlebe ich auch die heutige Nacht nur mit viel
Glück …
Mit einem vermutlich ziemlich mitleiderregenden Seufzen drehe
ich mich zur Wand und versuche, ruhig zu atmen. Meine bibbernde Stimme befiehlt
dem Minicomp, mir Musik zu spielen, bei der ich wegdämmern kann.
Schlafen, ich muss schlafen.
~*~
Ich höre Musik und
liege auf meinem Bett. Es war ein langer Tag. In zehn Minuten ist Schlafenszeit
und Sébastièn hockt noch an seinem Schreibtisch, um die neuesten Daten seines
Genetikprojektes von seinem Minicomp in den Zentralcomputer der Edukativsphäre
zu übertragen.
Seufzend drehe ich
mich auf die Seite und beobachte ihn dabei. Er ist nicht nur mein bester
Freund, ich bin auch ziemlich verliebt in ihn.
Trifft sich ganz gut,
denn wir sind beide androphil und er ist genauso verliebt in mich …
Lächelnd richte ich
mich ein wenig auf und befehle meinem Minicomp, die Musik leiser zu machen.
„Brauchst du noch
lange?“, will ich wissen.
Er wendet den Kopf und
lächelt zurück.
Immer wieder muss ich
feststellen, dass seine hellblauen Augen und die farblich exakt darauf
abgestimmten hellblauen Haare einfach perfekt zu ihm passen.
Sébastièn ist sehr
gutaussehend und vermutlich ist er der einzige Mensch in allen Sphären, auf
dessen Statur und Aussehen ich nicht neidisch bin.
Ihn kann ich
anblicken, ohne an die Grausamkeit meines eigenen genetischen Programms zu
denken. Er gibt mir das Gefühl, genau richtig zu sein …
„Nicht mehr lange.“ Er
sieht mich an und runzelt ganz leicht die Stirn. „Was hast du?“
Die Frage verwundert
mich nicht. Sébastièn weiß immer, wenn etwas mit mir nicht stimmt oder ich in
meinen Gedanken gefangen bin.
„Ich hab nur drüber
nachgedacht, wie froh ich bin, dass es dich gibt.“
„Geht mir genauso“,
erwidert er. Nur wenig später, nach dem hellen Piepen seines Minicomps löst er
die Kabelverbindung und kommt auf mich zu.
Wir werden gemeinsam
einschlafen und gemeinsam aufwachen. Das ist schon seit Jahren so.
Wir sind jetzt 16 und
haben seit zwei Jahren unsere eigene Wohneinheit. Seitdem schlafen wir auch
miteinander, aber es geht in unserer Beziehung um viel mehr als nur Sex.
Wir sind …
irgendwie füreinander bestimmt, denke ich.
Gibt es so etwas?
Immerhin sind wir die
Produkte dessen, was unsere Eltern auf einen Wunschzettel geschrieben haben …
Genetisch designte,
perfekte Kinder, deren Lebensweg bereits vor der Geburt in einem Reagenzglas
festgelegt wurde.
Sébastièn ist Wissenschaftler.
Er weiß seit langem, dass er eines Tages, nach dem Studium der Genetik, in
einem Forschungslabor arbeiten wird.
Seine genetische
Programmierung sorgt dafür, dass er den nötigen Intellekt und vor allem auch
den Wunsch mitbringt, in genau diesem Bereich des Sphärenlebens seinen Platz
einzunehmen.
Er wird glücklich sein
und jeden Tag gern zur Arbeit gehen.
Ich schmiege mich in
seine starken Arme und vergesse für ein paar Stunden, dass mein eigenes
genetisches Programm vollkommen schiefgegangen ist.
~*~
Chimärendreck, ist mir kalt!
Mein Kiefer schmerzt. Mit zitternden Fingern hebe ich eine
Hand aus dem Schlafsack an mein Gesicht und begreife, dass ich wild mit den
Zähnen klappere und genau das mich auch geweckt hat.
Jeder einzelne Zahn scheint sich gelockert zu haben,
zumindest fühlt es sich so an.
Mit dem Aufwachen vergeht auch der Traum, nein, eigentlich
war es eine Erinnerung an mein altes Leben in der Edukativsphäre.
Ich war bei meinem Freund Sébastièn, wenn auch nur
gedanklich und für ein paar Stunden, aber ich war dort und ich war …
glücklich.
Solche Überlegungen muss ich immer wieder bewusst aus meinem
Kopf verdrängen. Es ist vorbei, und zwar unwiederbringlich!
Ich hangele nach der Taschenlampe und ignoriere die
Gänsehaut auf meinem Arm. Mühsam kann ich meinen Daumen dazu bewegen, sich über
das eiskalte Gerät zu bewegen, um das Licht zu aktivieren.
So grell!
Ich schließe mit einem Keuchen die Augen und ziehe den Arm
zurück an den Schlafsack. Irgendwie muss ich den Verschlussmechanismus öffnen,
also den kleinen Hebel zu fassen bekommen, der das System in Gang setzt.
Ich bin immer noch sehr froh, dass ich dieses Ding im
Notfallkit des Helikopters gefunden habe …
Ein scharfes Einatmen begleitet den Moment, in welchem der
Verschluss den Schlafsack auf kompletter Länge öffnet und die kalte Luft der
Umgebung mich umfängt.
Trotzdem fällt mein Blick zuerst auf mein Bein. Prüfend
streiche ich darüber und nehme wohlwollend zur Kenntnis, dass der Kleber
gehalten und die Wunde nicht mehr nachgeblutet hat. Mich aufzurichten fällt mir
zwar schwer, aber ich muss möglichst schnell in meine Klamotten kommen und von
hier verschwinden.
Ich bin unterkühlt, mein Körper braucht Ruhe, um das
verlorene Blut nachzubilden und vor allen Dingen muss ich etwas essen. In meiner
beheizten und elektrisch voll versorgten Wohnung werde ich alles haben, was ich
benötige. Auch fließendes Wasser.
Wie ich in die Hose reinkommen soll, weiß ich noch nicht,
deshalb ziehe ich hastig mein Shirt, das Longsleeve und den dicken Hoodie an,
danach endlich greife ich nach den zerschnittenen Hosen und schiebe mit einiger
Kraftanstrengung meine Füße in die kalten, steifen Röhren. Das rechte Hosenbein
ist hart von meinem getrockneten Blut.
Das verletzte Bein anzuwinkeln fällt mir schwer, aber ich
beiße die Zähne zusammen – was leider nicht den Schmerz in meinem Bein mindert,
sondern den in meinem Klapperkiefer neu anfacht. Wunderbar!
Na gut, jetzt aufstehen, Hose schließen, Stiefel an, Jacke
an und nichts wie los. Ich werde bestimmt eine halbe Stunde brauchen,
zumindest, wenn ich mit einberechne, wie sehr mir die Verletzung das Gehen
erschweren wird.
Egal, ich schaffe das. Ich schaffe seit so vielen Wochen
alles. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich so etwas niemals erwartet
hätte.
Nach dem Schließen der Jacke und dem Schultern des Rucksacks
mache ich den ersten Probeschritt auf die Tür zu und stocke in der Bewegung, um
die Taschenlampe von der umgedrehten Holzkiste zu nehmen, die mir hier als eine
Art Behelfstisch dient.
Prüfend greife in an den Gürtel, ja, Medikit und
Zahlungsmittel habe ich. Wenn ich jetzt etwas vergesse, bin ich im Arsch. Noch
einmal herumleuchten.
Ich drehe mich zur Tür und greife nach der Klinke, drücke
sie hinab und spüre plötzlich eine widerliche, von Angst ausgelöste Gänsehaut
auf dem gesamten Körper.
Da, auf der Holzkiste – von mir bisher geflissentlich
ignoriert, weil einfach nicht erwartet – habe ich im Schein der Lampe etwas
gesehen, das ich ganz sicher nicht dort
abgelegt habe!
Noch einmal leuchte ich hin und blinzle. Mit schweren
Schritten gehe ich zurück und hebe es auf.
Es ist schwarz, etwa faustgroß und würfelförmig. Aber
wirklich ins Auge gefallen ist mir das Emblem, welches in Richtung Tür gedreht
war. Das Wappen von Sphäre 3 – ein gleichseitiges Dreieck mit einer perfekt
symmetrischen Hand, in deren Handfläche ein geschlossenes Auge ruht.
Ich habe es seit neun Monaten nicht mehr gesehen!
Nein, stimmt nicht. Ich selbst besitze mehrere Gegenstände
mit dem Zeichen von Sphäre 3, aber im Niemandsland gibt es nichts von dort.
Der Helikopter war ausgebrannt und leer, nachdem ich wieder
zu mir gekommen bin. Nur die Dinge, die ich bei mir hatte, die Dinge, die mit
mir hinausgeschleudert wurden, tragen das Wappen!
… und dieses Kästchen hier.
Ich drehe es in den Fingern, höre ein leises Klappern und
schiebe es, ohne mich noch länger damit aufzuhalten, in meine Jackentasche,
bevor ich wieder zur Tür humple und endlich hinausgehe.
~*~
Ein heißes Wannenbad wäre jetzt wohl genau das Richtige,
aber da ich dabei schlecht meinen Oberschenkel aus dem Wasser hängen lassen
kann, begnüge ich mich damit, nur schnell heiß zu duschen und mich in mein Bett
zu werfen, nachdem ich meine Wohnung erreicht habe.
Sie ist groß, um nicht zu sagen, vollkommen an jeglichem
Standard vorbei. Ich verstehe noch immer nicht, wieso sie nicht längst bewohnt
war, als ich zum ersten Mal hierhergekommen bin.
Immerhin ist ein Loft mit Ausblick über die halbe Stadt und
vor allem über die umliegenden Straßen doch geradezu perfekt. Ich vermute, ich
verdanke meine Behausung der Tatsache, dass niemand in der Lage war, die
vorhandene Technik wieder in Gang zu bringen und das gesamte Gebäude für sich
nutzbar zu machen. Die anderen Wohnungen, es sind zwei unter meiner und eine
darüber, stehen leer und besitzen nicht einmal mehr Türen.
Dabei ist die Solaranlage auf dem Dach wirklich die ideale
Stromversorgung und beheizt ganz nebenbei den riesigen Raum und mein Wasser.
Sie war außer Funktion, es fehlten Kabel und ein paar Sicherungen, doch dank
meines fehlgeleiteten genetischen Programms liebe ich alles, was mit
Solartechnik, Strom und altmodischen Gerätschaften zu tun hat, und habe alles
nach und nach repariert.
Das geknackte Türschloss ist erneuert und verbessert. Es ist
nun mit meinem Minicomp gekoppelt, über den ich die Haustür und die Eingangstür
zum Loft per Fernsteuerung bedienen kann.
An Möbeln gab es nicht mehr viel, aber immerhin haben die
Plünderer das fest installierte Bett unberührt hinterlassen.
In dem liege ich nun, zwischen altmodischen, dicken
Bettdecken, wie es sie in keiner der Sphären mehr gibt. Die Decken waren
Bezahlung für einen Auftrag am Anfang meiner Zeit im Niemandsland. Nach den
ersten Wochen, die ich mehr oder minder auf der Straße verbracht habe und mir
voller Inbrunst gewünscht habe, beim Absturz ebenfalls getötet worden zu sein,
traf ich Matteo.
Ich muss lächeln beim Gedanken an ihn. Mein bester Freund im
Draußen …
Das Kästchen aus meinem Unterschlupf fällt mir wieder ein,
außerdem verlangt mein Magen endlich eine ordentliche Füllung, so dass ich nur
zehn Minuten liegenbleibe, und mich danach auf den Weg in die Küche mache.
Auf halber Strecke hole ich den ominösen Gegenstand aus
meiner Jackentasche und schlurfe fluchend zum Kühlschrank.
Natürlich funktioniert auch er einwandfrei.
Die sich dem Sonnenlauf zuwendende Solaranlage auf dem
Flachdach, ein Stockwerk über mir, produziert sogar so viel Strom, dass ich ihn
verkaufe.
Davon allein kann ich nicht leben, auch wenn hier draußen
neben den bevorzugt als Zahlungsmittel dienenden Naturalien zusätzlich
eine Art Währung im Umlauf ist.[f21] Den Rest meines Lebensunterhalts verdiene
ich damit, dass ich andere ungenutzte Solaranlagen wieder in Gang bringe und
deren ‚Besitzer‘ dafür bezahlen müssen.
Ich verstehe nur bedingt, woran es liegt, dass sich außer
mir kaum einer mit diesen Anlagen auszukennen scheint. Immerhin gab es in der
Prä-Sphären-Zeit nur Wind-, Wasser- und Solarkraft neben den Atomkraftwerken.
Letztere gingen für das Draußen vom Netz, als die Sphären versiegelt wurden.
Gas- und Kohlekraftwerke gibt es seit langem nicht mehr. Sie verseuchten die
Luft und vor allem schadeten sie der schwindenden Ozonschicht. Erneuerbare
Energien sind also seit mehr als 150 Jahren die einzigen Quellen für Strom und
Heizung, wenn man von Holzöfen und Kaminen absieht.
Die Menschen im Niemandsland wissen, wie schädlich die
gemütlichen Holzfeuer sind, aber oft bleibt ihnen nichts anderes – bis ich alte
Solaranlagen wieder in Betrieb nehme.
Ich habe wohl einfach Glück, dass ich im geschichtlichen
Physikunterricht nicht geschlafen habe, als wir alte, erneuerbare Energien zum
Thema hatten.
Ist ja auch noch gar nicht so wahnsinnig lange her …
Ich bin erst seit zwei Wochen 19. Normalerweise wäre[f22] ich im Herbst mit dem dritten Semester
angefangen, aber meine Schul- und Ausbildungszeit wurde durch den Absturz im
Frühjahr schlagartig beendet.
Ich höre mein Seufzen und ärgere mich darüber.
Es bringt nichts, sich noch Gedanken zu machen oder gar zu
versuchen, an der Situation, in der ich stecke, etwas zu ändern. Ich kann es
nicht, so sieht es leider aus.
Ich bin mehr als vierhundert Kilometer von der
nächstgelegenen Sphäre entfernt – das weiß ich, weil ich mir während des
Helikopterfluges genau angesehen habe[f23] , wo wir uns befanden. Ich saß schließlich
neben dem Piloten.
Technisches Versagen hat unseren Langstreckenflug vorzeitig
beendet und mich hierher gebracht.
Bereits in den ersten zwei Wochen im Niemandsland habe ich
mir nichts so inbrünstig gewünscht, wie ebenfalls verbrannt zu sein. Wie Peer,
der Pilot.
Der Inhalt des Kühlschranks verrät mir in aller
Bescheidenheit, dass ich in den nächsten Tagen, ob ich will oder nicht,
dringend einkaufen muss.
Es gibt zwar einige Geschäfte in der Stadt, aber in meinem
Stadtteil werden kaum Nahrungsmittel angeboten.
Unten an der Ecke verkauft eine Familie Bekleidung, in der
Querstraße bietet eine Frau Weine an, die über Händler aus weiter entfernten
Gebieten des Niemandslandes geliefert werden und schräg gegenüber meines
Wohnhauses liegt eine Bäckerei.
All diese Läden schließen bei Sonnenuntergang und öffnen mit
der Morgendämmerung. Der frühe Morgen ist die einzige Grauzone, in der
Produktive und Nachtbanden zeitgleich unterwegs sein dürfen. Eine halbe Stunde
lang verkaufen alle ihre Waren an jeden, danach gehört der Tag den Produktiven[f24] .
Das einzige Gesetz des Niemandslandes. Wer diese Zeiten
nicht einhält, spielt mit seinem Leben.
Bis auf einen Supermarkt genau im Zentrum dieser Stadt, der
rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche geöffnet hat, halten sich alle
daran. Diese Ausnahme hat sich daraus ergeben, dass die Nachtbanden nicht im
Zentrum unterwegs sind, wenn sie ihre Häuser verlassen.
Ich habe es gestern Abend gebrochen, habe leichtsinnig mein
Leben riskiert und bin deutlich zu spät noch unterwegs gewesen.
Was ist heute für ein Tag?
Mein Blick huscht auf den Minicomp. „Befehl: Datum und
Wochentag.“
Die angenehme Stimme verkündet in meinen Ohren: „Freitag,
16. Dezember 2219.“
Na wunderbar!
Wieder sehe ich in den Kühlschrank und beschließe, dass ich
bis Montag hinkommen werde. So lange muss ich meinem Bein einfach Zeit geben.
Ich könnte auch morgen oder übermorgen losgehen, aber das
traue ich mir einfach nicht zu. Immerhin muss ich meine Einkäufe in einem
Rucksack und zu Fuß hierher bringen …
Nein, die Sachen, die ich noch hier habe, werden ausreichen.
Müssen ausreichen.
Genervt mache ich mir eine Instant-Suppe und esse sie an der
Theke, die die Küche optisch vom Rest des riesigen Raumes abtrennt.
Ich hasse es, zu kochen. Ein lästiges Übel, an das ich mich
im Niemandsland erst einmal gewöhnen musste.
Unter den Kuppeln der Sphären ist es anders. In der
Edukativsphäre, die ich seit meinem vierten Lebensjahr bewohnt habe, wurden
alle Mahlzeiten in den Kantinen der Jahrgangszentren eingenommen. Zuhause in
meiner Heimatsphäre, die ich nur in den ersten drei Lebensjahren und den
Ferienzeiten besucht habe, hat sich meine Mutter stets um alles gekümmert, und
ich musste mich nur an den gedeckten Tisch setzen.
Es war schön so, aber wie soll ich es sagen? Ich bin hier
draußen verdammt schnell sehr erwachsen geworden – notgedrungen.
Mein Blick schweift gedankenverloren durch das Loft. Nur
mein Badezimmer hat eigene Wände und eine Tür. Selbst mein Bett steht in einer
halboffenen Nische, die nur durch eine zusammenschiebbare Wand nicht schon von
der Eingangstür aus einsehbar ist.
Ich atme tief durch.
Der Würfel aus Sphäre 3 steht neben mir und ich sehe ihn
stirnrunzelnd an, bevor ich den Suppenlöffel weglege und das mysteriöse Ding in
die Hand nehme.
Ich hebe es vor die Augen. So dicht, dass das Symbol darauf
verschwimmt. Danach drehe ich es und suche nach einem Sensor, den ich bislang
wohl nur durch Zufall nicht schon unabsichtlich betätigt habe.
An einer Seite finde ich ihn und schiebe meinen Daumen kurz
darüber.
Der Deckel springt auf und ich sehe, woher das leise
Klappern kam.
In dem Kästchen liegt eine kleine Kunststoffschachtel, von
der drei weitere in entsprechender Größe hineinpassen würden.
Auf dem Deckel der Schachtel, die ich heraushole, befindet
sich erneut das Zeichen von Sphäre 3, diesmal aber von einem stilisierten
DNA-Strang umrandet.
Ein genetisches Produkt also …
Ich öffne die Schachtel[f25] , nachdem ich das größere Kästchen beiseite
gestellt habe.
Ein weißes Schaumstoffpolster füllt die Dose aus. Darin
liegt, neben einem kleinen Glaskölbchen, welches einen Datenspeicher darstellt,
noch eine Ampulle mit einer bräunlichen Flüssigkeit.
Ich habe weder einen derartigen Würfel noch seinen Inhalt
jemals zuvor gesehen …
Mit einem hörbaren Ausatmen sinke ich gegen die Rückenlehne
meines Barhockers, den ich aus einem alten Café geklaut habe.
Das Polster ist eingerissen, aber ich mag den leicht
knarzenden, dunkelroten Lederbezug trotzdem zu gern, als dass ich ihn durch
einen neuen ersetzen wollen würde. Tja, könnte ich auch gar nicht, immerhin bin
ich kein Möbeldesigner oder so etwas.
Im Grunde bin ich noch gar nichts – werde es wohl auch nie
werden.
Na gut, angefangen hatte ich mein Studium der
Politikwissenschaften, aber was habe ich da in einem Semester schon gelernt?
Nichts. Und hier draußen ändert sich das eben auch nicht mehr.
Wie auch? Im Niemandsland gibt es zwar Schulen, die das
Grundwissen in Bezug auf Sprache, Schrift und einfache, alltagstaugliche
Mathematik vermitteln, aber keine Universitäten.
Es existieren nur Menschen, die Handwerken oder Geschäften
nachgehen, von und mit denen man leben kann. Philosophen oder Künstler sucht
man vergebens.
Mein technisches Geschick hat mich gerettet, damals, vor
diesen mir ewig lang erscheinenden Wochen. Neun Monate …
In Sphäre 3 werden jetzt die gemütlichsten Wochen des Jahres
gefeiert. Künstlicher Schnee fällt vom Glashimmel, Tannenbäume mit bunten Lichterketten
stehen an jeder Ecke … Das Dezemberfest ist in vollem Gange.
Ich schließe die Augen und denke an Sébastièn. Sollte ich
nicht tun, das weiß ich nur zu gut. Nicht jetzt, nicht sonst wann.
Ich werde ihn nie wieder sehen.
Er hat genauso wenig nach mir gesucht wie meine Familie.
Zumindest habe ich mich vom Ort des Absturzes nie so weit entfernt, dass ich
einen Suchtrupp hätte übersehen können.
Ein Schnauben dringt aus meiner Kehle. Es klingt so trotzig,
wie ich mich augenblicklich fühle.
Ich brauche ihn nicht! Ich brauche niemanden!
Seltsam, eigentlich hätte ich erwartet, dass ich mit der
Zeit wenigstens den Sex mit Sébastièn vermissen würde, aber … Sex ist
keine Option.
Nichts, das ich genießen könnte.
Nicht mehr.
Ich bin dankbar für meinen Trotz, dankbar für alles, was
mich davon abhalten kann, an ihn oder meine Eltern zu denken. Ich habe sogar
aufgehört, mich zu fragen, ob sie sich wohl ein zweites Kind angeschafft haben.
Die Gendesigns sind heutzutage schließlich so perfekt, dass Frauen über 50 ohne
Probleme gebären können …
Immerhin verdanke ich einem Menschen in einem hochsterilen
Labor meine Augen- und Haarfarbe, die Tönung meiner Haut und genauso gut den
Grips in meinem Kopf.
Noch ein Seufzen. Was nutzt mir mein überragender Intellekt,
wenn ich dabei so klein bin, wie diese abartigen Gartendekorationen, die unsere
Vorfahren sich in der Prä-Sphären-Zeit aufgestellt haben? Gartenzwerge haben
sie die Dinger genannt. Ich erinnere mich gut daran, wie wir in der ersten
Klasse darüber gelacht haben.
Ich trage zwar weder ein rotes Mützchen noch bin ich
dicklich, aber allein meine vertikale Benachteiligung hat meine Umgebung schon
immer dazu gereizt, mich aufs Korn nehmen zu wollen.
Eines haben jedoch bisher alle gelernt. Ich mag klein sein,
aber das macht mich nicht harmlos.
In Wahrheit habe ich in der Edukativsphäre alles daran
gesetzt, mich zu trainieren, ohne dabei auffällig kräftig zu werden.
Waffenloser Nahkampf und das Führen von Hieb- und
Stichwaffen gehörten für mich ebenso zum Unterricht wie Naturwissenschaften und
alle europäischen Sprachen. Letztere lernt allerdings jedes in den Sphären zur
Welt gekommene Kind.
Ich kann mich also wehren!
Heute Nacht hat das nicht funktioniert …
Der Typ, dessen Namen ich nicht einmal weiß – oder auch nur
wissen will – ist mir zuvor nie begegnet.
An seinen vollkommenen Körperbau erinnere ich mich nur zu
gut. Niemals hätte ich vermutet, dass es ein Mann seiner Statur schaffen kann,
sein Katana in einer derart engen Gasse so schnell und wendig zu benutzen.
Leise Anerkennung schleicht sich in meine Gedanken, weshalb
ich hastig den Kopf schüttle.
Ich mag ihn nicht!
Er macht allein durch sein Auftreten schon keinen Hehl
daraus, dass er sich den übrigen Bewohnern des Niemandslandes haushoch
überlegen fühlt.
Nun ja, was sein Aussehen angeht, mag das sogar stimmen.
Schluss damit!
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass
er ebenso genetisch designt wurde wie ich. Nur dass sein Laborant etwas mehr
Feingefühl in Sachen Körpergröße bewiesen hat.
Ist aber utopisch. Der Mistkerl ist ganz sicher hier draußen
geboren. Brutal und mies genug ist er dafür. Nur ein Leben in der gesetzlosen
Welt des Niemandslandes – und nichts anderes! – kann einen solchen Krieger
hervorgebracht haben.
Ich glaube, sein Aussehen ist auch das, was ihn mich seit
unserer ersten Begegnung inbrünstig hassen lässt.
Er sieht zu gut aus, zu perfekt. Nichts an ihm ist mit dem
kleinsten Makel behaftet, soweit ich das beurteilen kann. Und genau das macht
mich rasend vor Wut, wenn ich nur an ihn denke!
Als er mir letzte Nacht über den Weg gelaufen ist, hätte er
mich gar nicht bemerken dürfen!
Mein Blick fällt auf meinen Oberschenkel, der nun von einer
sauberen Hose bedeckt ist.
Ich habe ihn unterschätzt.
Passiert mir selten, immerhin rechne ich stets mit allem,
seitdem ich weiß, was einem hier wiederfahren kann …
Nein, an meine ersten Wochen im Draußen will ich nun
wirklich nicht denken!
Ich schüttle den Kopf erneut auf eine nachdrückliche Art und
zwinge mich dazu, mich wieder auf meinen blöden Fehler von heute Nacht zu
konzentrieren. Auf diesen miesen Scheißkerl, der einfach so aus dem Nichts
seine Klinge gezogen hat.
Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat, wieso er so
schnell reagieren konnte. Na ja, wenigstens ist er mir offensichtlich nicht
gefolgt, sonst hätte ich die Nacht wohl kaum überlebt …
Wer sich hier nachts auf die Straßen traut, ist
selbstmordgefährdet oder verdammt gut darin, sich seiner Haut zu erwehren. Ich
bin … vielleicht beides?
Spielt keine Rolle mehr.
Aber um ehrlich zu sein, habe ich mir zu viel aufgebaut, als
dass ich es darauf anlegen könnte, mich einfach so umbringen zu lassen.
Mein Blick fällt wieder auf die kleine Ampulle und den
Datenkristall.
Vielleicht sollte ich die Informationen in dem Ding ansehen,
um herauszufinden, was genau das braune Zeugs ist?
Ich nehme den Glaszylinder aus der Schachtel und öffne, ohne
großartig darüber nachzudenken, den Minicomp an meinem linken Unterarm. Ein
kleines Fach fährt auf und ich bringe das Stäbchen in Position, bevor ich das
Fach schließe und der Holoprojektor sich aktiviert.
Hm, kein Bild, zumindest nicht vom Sprecher des Textes, den
ich zu hören bekomme. Statt eines Gesichts erscheint nur ein komplexes, sich um
die eigene Achse drehendes Molekül in exzentrischen Farben.
„Enaform Duo – Geweberestaurierendes Mittel zur Regeneration
von tiefen Fleischwunden. Testphase Gamma durchlaufen, bereit für den Handel
seit 15. Mai 2219.“
Das behauptet die werbewirksam klingende, männliche Stimme
und ich verstehe gleichzeitig, wieso ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen
habe. Das Zeug ist erst auf den Markt gekommen, als ich schon zwei Monate
verschollen war. Ebenso wird mir klar, dass tatsächlich jemand aus Sphäre 3 in
der Stadt sein muss.
Jemand, der mich während des Schlafens gefunden hat. Jemand,
der mir dieses Mittel geben wollte, sich aber nicht dazu genötigt sah, zu
bleiben, bis ich aufgewacht bin.
Jemand, der mich hätte töten können.
Ein harter Klumpen bildet sich in meinem Magen. Der
Unterschlupf ist unbrauchbar.
Noch bin ich nicht sicher, ob ich erleichtert oder alarmiert
sein soll. Es gibt hier niemanden, der aus meiner Heimatsphäre stammt!
Ich schiebe den Teller von mir und stehe auf, um zu meiner
Bettnische zu humpeln. Die Schachtel nehme ich mit. Ich weiß, dass ich der Produktbeschreibung
glauben kann, ich könnte sie mir auch als Gesamttext anzeigen lassen. Ja, das
sollte ich tun. Allein schon, um herauszufinden, ob und wie ich das Medikament
benutzen soll, wenn ich es denn letztlich will.
Im Bett liegend aktiviere ich also die Textanzeige des
Datenkristalls und lese mir alles durch, was holographisch angezeigt wird.
Am Schluss treffe ich die Entscheidung, dass ich es ruhig
versuchen kann. Ich muss die Ampulle aufbrechen und das Zeug schlucken.
Angeblich werden dadurch ein paar ruhende Zellen in meinem Körper dazu
animiert, sich zu teilen und den Schnitt in meinem Oberschenkel innerhalb
kürzester Zeit zu heilen.
Ich meine, ich glaube ja durchaus, dass wir mittlerweile
dazu in der Lage sind, so einiges zu leisten, was die Gentechnik angeht, aber
das?
Trotzdem versuche ich es und breche das Glaskäppchen der
Ampulle ab, bevor ich sie an meine Lippen setze. Ich rieche sofort, dass die
braune Flüssigkeit eine Medizin sein muss. Genmedizin riecht nämlich überhaupt
nicht. Ebenso wenig wie sie nach irgendetwas schmeckt.
Mir fallen die Augen zu, kaum dass ich geschluckt und die
leere Ampulle beiseitegelegt habe. Ein starkes Schlafmittel ist schließlich
auch drin …
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