Leseprobe
Yves |
Kapitel 1
Ich schleiche die Straße hinab und nutze dabei jede sich
bietende Deckung; Mülltonnen, Sträucher, Bäume. Ich will nicht gesehen werden.
In diesem kleinen schottischen Dorf wird mir das nur bedingt gelingen. Zum
vollständigen Abtauchen eignen sich Großstädte wohl besser, aber erst einmal
muss ich von der Bildfläche verschwinden und möglichst viele Abzweige nutzen,
um meinen Fluchtweg und mein geplantes Ziel zu verschleiern.
Ich habe Hunger. Aber so zerrupft, wie ich aussehe, kann ich nicht in den Pub gehen, der rechts von mir liegt. Deshalb schleiche ich mit einem sehnsüchtigen Seufzen weiter und greife nach den Trägern meines Rucksacks. Am Ende der Straße liegt ein kleiner Laden, das Schild ist nicht beleuchtet und ich muss dicht herantreten, um zu sehen, dass es sich um einen zu dieser Zeit längst geschlossenen Buchladen handelt.
Ich mag Bücher; lese gern und viel, aber seitdem ich auf der
Flucht bin, bleibt dazu keine Zeit. Nicht einmal mein Lieblingsbuch habe ich
einstecken können. Lediglich ein paar Kleidungsstücke und etwas Proviant haben
in meinem Rucksack Platz gefunden. Und mittlerweile ist die Wäsche dreckig und
der Proviant aufgebraucht. Mein Schlafsack hängt eng eingerollt unter dem
Rucksack und ich bin noch immer sehr froh, ihn mitgenommen zu haben.
Mein Bargeld beläuft sich auf ein paar Euro, mehr ist von
fast dreihundert Euro nicht mehr da. Die Reise hierher hat eben doch mehr
gekostet als erwartet.
Egal, irgendwie werde ich schon Geld und Nahrungsmittel
auftreiben. Nein, ich muss.
Müde schleppe ich mich an dem Buchladen vorbei und werfe
einen Blick in den Hinterhof des grauen Steinhauses. Da gibt es einen Unterstand,
der aussieht, als könne er Regen und Wind für die Nacht abhalten. Das wäre doch
was. Ich schleiche näher und sehe mich im nächtlichen Halbdunkel um.
Der kleine Schuppen ist toll! Es steht nur ein einzelnes
Fahrrad darin. Der Boden besteht zwar nur aus festgestampfter Erde und die Tür lässt
sich nicht schließen, aber hier kann ich meinen Schlafsack ausrollen und
versuchen, ausnahmsweise mal eine Nacht durchzuschlafen. Ob mir das mit
knurrendem Magen überhaupt gelingen wird? Ich habe keine Ahnung, aber auf einen
Versuch kommt es wohl an.
~*~
„Was tust du hier?!“, reißt mich eine Männerstimme aus
wirren Träumen. Ich blinzle und fahre hoch.
Es ist schon hell! Merde,
habe ich so lange gepennt? Ich richte mich hastig auf und krieche aus dem
Schlafsack. Mein Magen schmerzt und ich verziehe das Gesicht, bevor ich
antworten kann.
Natürlich hat er nicht aufgehört, mit seinen Fragen und wüst
aussehenden Gesten um sich zu werfen.
„Verrätst du mir mal, was das soll? Wieso schläfst du hier
in meinem Schuppen?“
„Tut … mir leid!“, bringe ich schließlich hervor und
vermeide Blickkontakt, während ich mich hinhocke, um den Schlafsack wieder
aufzurollen.
Wieso ich in dieser Situation so etwas Belangloses mache, weiß
ich nicht, aber vermutlich tue ich es instinktiv – durch die zusammengekrümmte
Haltung kann ich meine wütenden Eingeweide beruhigen. Ich beiße die Zähne
aufeinander und seufze stumm.
„Junge, ich rede mit dir!“
Ich sehe auf, seine Statur wirkt nicht allzu breit und groß,
aber vor mir in der offenen Tür steht tatsächlich ein erwachsener Mann.
Ich muss endlich etwas mehr sagen!
„Es tut mir wirklich leid, ich … war so müde …“ Und hungrig und erledigt und …!,
setzen meine Gedanken fort, aber ich bin kein Weichei und es geht diesen Mann
nichts an.
„Wie ist dein Name?“, fragt er und hockt sich vor mich. Ich
starre ihn irritiert an und schlucke.
Mein Name? Ich kann ihm meinen Namen nicht sagen, das ist
viel zu gefährlich!
„Etienne“, rutscht er mir trotzdem heraus und ich runzle
über mich selbst die Stirn.
Der Mann nickt und erhebt sich wieder. „Ich bin Zachary.
Komm mit.“
Ein Schauer durchrieselt mich, als er sich abwendet und aus
dem Schuppen tritt. Will er mich der Polizei übergeben?! Mit einem Satz bin ich
wieder auf den Füßen und bereit zur Flucht.
„Ich … verschwinde lieber“, setze ich etwas lauter an,
damit er mich auch wirklich hört. Ich verlasse den Unterstand und schultere den
Rucksack, während meine Füße mich in Richtung Straße tragen.
„Und wohin willst du?“
Ich wende den Kopf zu ihm. Er hat gerade eine Tür im Hof
erreicht, die offensichtlich in das graue Steinhaus führt. Zachary sieht mich
ernst an und deutet fahrig auf mich. „So wie du aussiehst, bist du lange genug
weggerannt. Komm rein, ich mache Frühstück, während du duschst.“
Ich habe mich verhört!
Bittet er mich tatsächlich hinein und bietet mir auch noch
etwas zu essen an?
Mein Magen antwortet so schmerzhaft laut, dass ich ihn nicht
ignorieren kann. Der Reflex, etwas essen zu müssen ist stärker als der, sofort
wieder zu flüchten. Und ich bin mir sicher, dass allein mein Magen meine Füße
zu der Holztür lenkt, in der Zachary wartet.
„Danke“, murmele ich und folge ihm in das Hausinnere. Vor
mir liegt eine gekachelte Waschküche, dadurch geht es weiter in einen kleinen,
dunklen Flur und schließlich in eine Küche. Unschlüssig sehe ich mich darin um
und mustere meinen Gastgeber endlich.
Zachary ist etwa Mitte vierzig und trägt hellblaue Jeans und
ein längsgestreiftes Hemd in Grüntönen. Er hat dunkelbraunes Haar und
dunkelbraune Augen, die hinter einer Brille mit metallischer Halbfassung
funkeln. Er trägt einen Bart, sehr kurz gestutzt und nur um Mund und Kinn
herum.
Die Küche ist gemütlich und erstaunlich groß. An der einen
Wand steht eine Eckbank mit Tisch und drei Stühlen, eine Wachstischdecke mit
dunkelblauen Blumen auf weißem Grund erinnert mich an das Kaffeeservice meiner
Oma …
Ich schüttle hastig den Kopf. Daran will ich nicht denken.
Ich schniefe und wartet darauf, dass Zachary etwas sagt. Er steht
nun mit dem Rücken zu mir an der Küchenzeile und hantiert mit einem
Wasserkessel.
Er beendet sein Treiben und dreht sich zu mir um. Sein Blick
gleitet über meine Gestalt und er seufzt vernehmlich. „Du solltest zuerst
wirklich duschen …“
Oh ja, ich kann mir sehr gut vorstellen, wie schrecklich ich
aussehe. Ich nicke und folge ihm wenig später ins Badezimmer. Er deutet auf
einen Stapel Handtücher in einem kleinen Regal. „Hast du noch saubere Wäsche?“
Ich presse die Lippen aufeinander, dann schüttle ich den
Kopf.
„Okay, warte hier, ich hole dir was, dann kannst du duschen …
Und deine Wäsche in die Maschine werfen.“
Ich blinzle erneut. „Danke.“ Zugegeben, besonders geistreich
ist mein Anteil an der Konversation nicht. Aber ich kann sowieso kaum klar
denken. Mein Magen bringt mich schlicht um den Verstand.
Zachary kehrt mit einer Jeans, einem T-Shirt und Unterwäsche
zurück, legt alles auf den Waschtisch und geht zur Tür. „Ich bin in der Küche.“
Ich schaffe es zu nicken, dann schließt er die Tür hinter
sich und ich beeile mich, den Rucksack und die Kleidung loszuwerden. Ich vermeide
es, daran zu riechen und klettere in die Duschwanne, um zum ersten Mal seit
zwei Wochen wieder frisches, heißes Wasser auf meiner Haut zu genießen.
Es tut gut, meine Haut prickelt und kribbelt, als ich sauber
wieder herausklettere, mir ein Handtuch umschlinge und in meinem Rucksack nach
meiner Zahnbürste, Rasierschaum und Rasierer krame. Ich seufze erleichtert und
fühle mich frisch und sauber. Nun kann ich mich anziehen.
Zacharys Hose ist etwas zu kurz für mich, das T-Shirt mit
weitem Schnitt schlabbert dafür ein wenig um meine Brust.
Egal, Hauptsache sauber!
Ich verstaue Zahnbürste und Rasierzeug wieder, hole einen
Kamm heraus und bringe mein mittlerweile viel zu langes, schwarzes Haar in eine
einigermaßen tageslichttaugliche Form. Ich bleibe kurz vor dem Spiegel stehen
und ziehe an einer Strähne. Die sind wirklich ganz schön gewachsen im
vergangenen halben Jahr … So lange bin ich bereits auf der Flucht.
Es ist Mai und in zwei Wochen werde ich meinen siebzehnten
Geburtstag feiern.
Feiern, haha.
Er wird einfach passieren, wie so viele andere Dinge in der
Vergangenheit.
Mit einem Schnauben wende ich mich ab und gehe in die
Waschküche hinüber. Immerhin weiß ich ja schon, wo sie sich befindet.
Ich hole meine gesammelte Schmutzwäsche hervor und werfe sie
in die Trommel. Waschmittel steht auf einem Regal über der Maschine. Da ich
ausnahmslos dunkle Kleidung bei mir habe, muss ich mir keine Gedanken darüber
machen, ob irgendwas abfärben wird. Ich stelle die Maschine an und meinen
Rucksack daneben an die Wand.
Mein Magen bringt sich wieder sehr schmerzhaft in Erinnerung
und ich kehre zur Küche zurück, die ich erst nach einem Klopfen betrete.
„Komm rein und setz dich. Geht es dir besser?“
Zacharys forschender Blick hält mich einen Augenblick lang
gefangen und ich nicke. „Ja, viel besser. Danke.“
Ich überrasche nicht nur Zachary, sondern auch mich mit
einem kleinen Lächeln.
„Hast du die Waschmaschine gefunden?“
Wieder nicke ich. „Ja, sie läuft schon.“ Endlich setze ich
mich und erlaube mir einen gierigen Blick über den gedeckten Tisch.
Neben Brot, Käse und Butter steht dort auch eine Schüssel
mit Rührei. Auf einem Holzbrett liegt ein Stück geräucherter Schinken, daneben
ein wirklich scharf aussehendes Messer.
Mir läuft das Wasser im Mund zusammen und ich schlucke hastig.
„Nimm nur, möchtest du Tee oder Milch dazu?“
Ich sehe ihn unsicher an. „Geht … beides?“
Ich brauche was Warmes, aber Milch würde mir zusätzlich
helfen, meinen Hunger zu stillen.
„Sicher. Nun fang an, Etienne.“
Das muss er nicht noch einmal sagen. Meine Hände zittern,
als ich mir eine Scheibe Brot nehme. Es ist dunkel und sieht saftig aus. Butter
drauf, dann Käse. Ich muss mich beherrschen, um zu kauen, mein Magen will
möglichst schnell gefüllt werden, aber wenn ich schlinge, werde ich am Ende die
gleichen Schmerzen haben.
Dies hier sind meine ersten Bissen Nahrung seit fünf Tagen.
Und ich bin in der Zeit ständig unterwegs gewesen. Ohne Pause, ohne Ruhe.
„Ich werde dich nicht ausfragen“, sagt Zachary, als er einen
großen Tonbecher mit Milch und eine Tasse Tee vor mir abstellt. Er setzt sich
mir gegenüber hin und beobachtet mich beim Essen, bevor er sich selbst etwas
Brot nimmt.
Wir essen schweigend. Kunststück, mir bleibt neben der
dringenden Nahrungsaufnahme auch schlicht keine Zeit – und keine Luft! – zum
Sprechen.
Als ich eine gefühlte Stunde später endlich den Eindruck habe,
mein Magen ist voll, lehne ich mich zurück und lächle Zachary an. „Das tat gut,
danke.“
Er nickt. „Schon in Ordnung. Brauchst du Geld?“
Diese Frage schockiert mich. Hastig schüttle ich den Kopf.
„Nein, zumindest nicht … Ich werde mir eine Arbeit suchen müssen.“
„Was kannst du?“
Gute Frage, was, abgesehen von der Sache, die mich zur
Flucht vor meiner eigenen Familie getrieben hat, kann ich denn? Ich bin Schüler
gewesen, mehr nicht. „Ich … keine Ahnung“, gebe ich zurück und hebe die
Schultern.
„Wie alt bist du?“
„Nicht ganz siebzehn“, erwidere ich wahrheitsgemäß und
wieder ernte ich ein verständiges Nicken von Zachary.
„Hast du irgendwelche Hobbys? Also, abgesehen von deiner
Flucht?“ Er sagt das mit einer gewissen Portion an Zynismus, die mir irgendwie
sympathisch ist.
„Ich lese gern und spreche mehrere Sprachen.“
„Ja, mindestens Englisch und Französisch, das ist mir
bereits aufgefallen.“
Ich zucke zusammen. Hört man mir meine Muttersprache als
Akzent an? Hier spreche ich Englisch, aber doch bitte nicht mit französischem
Beiklang?!
„Keine Sorge, die meisten werden das nicht heraushören …
Du liest also gern?“
Ich nicke. „Und mit Computern hab ich mich immer gern
beschäftigt …“
„Klingt ganz danach, als hätte ich einen Job für dich.“
Seine Worte überraschen mich.
Nein, das ist keine gute Idee, ich muss weiter, immer
weiter. Aber andererseits … vielleicht eine Woche, um ein bisschen mehr
Geld zu haben? „Ehrlich?“
„Ja, ehrlich. Ich habe einen Buchladen, vielleicht hast du
das schon gesehen. Und … ich bin gerade dabei, meinen Bestand in das
Computersystem einzutragen. Wenigstens den antiquarischen Teil. Die nicht mehr
lieferbaren Titel eben. Wenn du mir dabei helfen willst …“
Ich nicke. „Gern! Aber … ich kann nicht lange bleiben …“
„Ist mir klar. Du solltest dir nur darüber klarwerden, dass
du auf Dauer wieder zur Schule gehen musst.“
Ich lache hart auf. „Würde ich wirklich gern, aber … Es
geht nicht.“
„Wenn du drüber reden willst, jederzeit. Ich muss jetzt den
Laden aufmachen. Soll ich dir vorher dein Zimmer zeigen?“
Darüber muss ich nachdenken. Schließlich schüttle ich den
Kopf. „Nein, ich habe genug geschlafen und würde mir lieber den Laden ansehen.“
~*~
Eine Woche habe ich bleiben wollen, nun sind schon fast zwei
Monate daraus geworden und ich habe mich viel zu gut bei Zachary eingelebt. Das
liegt wohl vor allem an seinem Geruch …
Meine Nase ist sehr fein, ich erkenne Menschen an ihren
Gerüchen, kann dadurch feststellen, wie derjenige tickt. Und Zachary ist ein
ziemlich vertrauenswürdiger, netter Mann, der tatsächlich nicht ein einziges
Mal Fragen gestellt hat, die meine Vergangenheit betreffen. Also abgesehen von
so allgemeinen Dingen wie Hobbys und Alter.
Nie fragt er nach meiner Familie und ich ziehe es vor,
darüber auch nicht nachzudenken. Trotzdem erzähle ich ihm mit der Zeit ein paar
Dinge. Meistens, wenn wir abends im Hinterzimmer des Buchladens, das der Ersatz
für ein Wohnzimmer war, am Kamin sitzen und ausnahmsweise nicht jeder in ein
Buch vertieft sind.
Zachary weiß nun also, dass ich vor meiner eigenen Familie
abgehauen bin, dass meine Leute mich eingesperrt haben und auch, dass ich nicht
ganz normal bin.
Ich sehe in die Flammen des Kamins und setze mich wieder in
einen der Ohrensessel. Auf das Buch, das neben mir auf dem Sitzpolster liegt, kann
ich mich nicht konzentrieren. Vielleicht sollte ich lieber noch ein paar Bücher
in die Datenbank eintragen? Auch dazu kann ich mich nicht aufraffen.
Ich denke darüber nach, dass ich bald werde gehen müssen.
Bevor ich den Zeitpunkt des Absprungs endgültig verpasse. Ich seufze und ziehe
damit Zacharys Aufmerksamkeit auf mich.
„Was ist los?“, fragt er und sieht von seinem Buch auf.
„Ich muss bald weg. Egal wie gut es mir hier auch gefallen
mag.“
„Hm, ich bin mir nicht sicher. Ich denke, du solltest lieber
endlich wieder zur Schule gehen. Das nächste Trimester am Internat fängt bald
an und ich denke, ich könnte dich dort unterbringen.“
Ich starre ihn verwirrt an. „Am Internat?“
Klar, ich weiß, dass es hier im Ort ein Internat gibt, das
sich mit dem Dorf einen Namen teilt: Tennington. Aber erstens ist das ein echt
verdammt exklusiver Laden mit ausschließlich männlichen Insassen und zweitens …
ich kann ja schlecht unter meinem echten Namen dort lernen!
„Ja. Ich habe mir überlegt, dass ich dich als meinen Neffen
ausgeben könnte.“
„Aber das Ding ist doch irrsinnig teuer!“, entgegne ich.
Zachary lächelt schief. „Ja, ist es.“
„Na und wie soll ich mir das dann leisten können? Gibt es
keine öffentliche Schule in der Nähe?“
„Doch, gibt es, aber ich denke, angesichts der Tatsache,
dass deine Familie dich suchen könnte, wäre es besser, wenn du in einem
überschaubaren Umfeld bleibst. Und mit einer schottischen Eliteschule rechnen
sich sicher nicht oder was denkst du?“
Hm, bestechende Logik. Meine Familie hat längst sämtliche
Geldhähne zugedreht und in einem solchen Internat werden sie mich tatsächlich
nicht vermuten. Zögernd nicke ich. „Kann aber keiner bezahlen.“
„Doch, ich. Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass
dieser Buchladen meine einzige Einnahmequelle ist, oder?“
„Äh … doch, eigentlich schon …“
Er lacht fröhlich auf und verwirrt mich damit nur noch mehr.
„Etienne, ich habe vor einigen Jahren eine ziemlich große
Erbschaft gemacht und mir dann mit diesem Laden einen Traum erfüllt. Mein Hobby
zum Beruf gemacht, wenn du so willst. Aber ich lebe von den Zinsen der
Erbschaft.“
Das ist schon einigermaßen erstaunlich. Ich weiß, dass der
Laden nicht unbedingt Unmengen an Geld abwarf, aber doch eigentlich genug zum
Leben. Nie hätte ich erwartet, dass Zachary reich war!
Ich schnaube auf. „Und nun willst du dein Geld in einen
dahergelaufenen Fremden stecken?“
Er nickt übertrieben. „Erstens bist du nicht mehr fremd,
zweitens denke ich, dass du diese Schule sehr gut abschließen kannst, und
drittens … will ich dir einfach helfen. Und da es im Rahmen meiner
Möglichkeiten liegt, dich nach Tennington zu schicken …“
„Hm, dann bleibt mir wohl nur noch, abzunicken, was?“
„Ja. Um ehrlich zu sein, habe ich die Anmeldeformulare schon
hier.“ Er legt das Buch beiseite und steht auf, geht zum Schreibtisch und
reicht mir wenig später eine Blattsammlung.
Tennington Public
School for Boys steht groß auf dem Briefkopf, der jede Seite ziert. Direkt
daneben ein Wappen mit geflügelten Löwen. Sieht alles in allem echt
ehrfurchtgebietend aus.
„Muss ich dort dann auch wohnen?“
Zachary steht noch immer neben mir und nickt. „Ist
Voraussetzung für die Aufnahme.“
Ich soll also an diese Superschule gehen. Na gut, dann muss
ich diese Formulare ausfüllen.
Zachary setzt sich neben mir an den Schreibtisch und wir gehen
alle Fragen durch, bevor er sie mit einem Füllfederhalter beantwortet.
Demnach bin ich nun Etienne Grenders, der verwaiste Sohn von
Zacharys tatsächlich vor zwei Jahren verstorbener älterer Schwester Josephine.
Wir verwenden ein Geburtsdatum zwei Tage nach meinem tatsächlichen und änderten
das Jahr. Ich bin nun also nicht mehr siebzehn, sondern erst vor anderthalb
Monaten sechzehn geworden.
Es dauert nicht nur diesen einen Abend, sondern mehr als
eine Woche, bis ich eine ansehnliche Mappe mit aussagekräftiger Bewerbung für
die Tennington Public School for Boys
in den Händen halte.
Zachary nickt anerkennend und macht einen Termin aus. Zwei
Tage später fahren wir gemeinsam mit seinem Rover zum Internat rauf. Es liegt
etwas außerhalb, aber wir hätten durchaus auch zu Fuß dort hingehen können.
Zachary hält es nur für eindrucksvoller, vorzufahren.
Er hat recht damit. Ebenso, wie er recht damit gehabt hat,
mir einen Anzug zu kaufen. Ich trage einen dunkelblauen Zweiteiler, ein weißes
Hemd und eine in verschiedenen Blautönen gehaltene Krawatte, als ich aus dem
Wagen steige und meinem ‚Onkel‘ in das Hauptgebäude des Internatskomplexes folge.
Tennington ist kein einfaches Schulgebäude, sondern eine
Burg. In einem Karree angelegt und klar ausgeschildert gibt es das
Hauptgebäude, in welchem sich die Verwaltung und alle Unterrichtsträume befinden,
drei Nebengebäude mit den Unterkünften der insgesamt knapp dreihundert Schüler
und ein paar kleinere Wirtschafts- und Nebengebäude.
Ich rieche Pferde und Alter. Diese Mauern stehen seit
Jahrhunderten und ich fühle mich auf Anhieb wohl.
Ob sie mich hier aufnehmen werden? Ich weiß genau, wenn
nicht, bin ich tatsächlich enttäuscht!
Natürlich habe ich versucht, etwas über die Schule
herauszufinden, aber online gibt es weder Fotos noch sonstige Informationen. Zu
exklusiv, das Ganze. Man braucht offensichtlich keinen Internetauftritt für
eine derart renommierte und elitäre Schule.
Davon überzeugt mich auch der Anblick des Inneren. Zachary
wirkt extrem weltmännisch mit seinem schwarzen Anzug und ich bemerke schon bei
den ersten, mit dem Schulpersonal gewechselten Worten, dass er sich gänzlich
anders ausdrückt, als er es sonst tut.
Ein Portier führt uns durch hohe Flure und vorbei an
Wandteppichen und allerlei Dekorationsgegenständen wie Wappenschilden, Äxten,
Schwertern und sogar vereinzelten Ritterrüstungen, bis er vor einer Doppeltür
aus dunklem, glänzendem Holz stehenbleibt und anklopft. Augenblicklich dürfen
wir eintreten und finden uns in einem klassisch eingerichteten Büro wieder.
Ein Mann in Zacharys Alter erhebt sich sofort von seinem
Platz und tritt auf uns zu.
„Ah, die Herren Grenders. Willkommen. Ich bin Dekan Miles.
Nehmen Sie doch bitte Platz.“
Er schüttelt unsere Hände und deutet auf die gepolsterten
Sessel vor seinem Schreibtisch, bevor er wieder zu seinem eigenen Platz geht.
Zachary reicht ihm meine Mappe, und während Dekan Miles darin
blättert, stellt er viele Fragen. Die meisten davon mir.
Ich antworte höflich, nicht zu ausführlich und bemühe mich
darum, möglichst erwachsen zu wirken.
Zwei Stunden später steht fest, dass ich in zwei Wochen als
neuer Schüler von Tennington auf dem Campus leben werde.
Wir verabschieden uns, doch anstatt nach Hause zu fahren,
macht Zachary sich mit mir auf den Weg zu einem ausführlichen Shopping.
Ich kann nicht sagen, dass ich es blöd finde, immerhin bin
ich ein modebewusster Mensch und durchaus daran interessiert, vernünftig
auszusehen. Dazu passen meine anfänglich mitgebrachten Klamotten durch ihre
dauernde Nutzung nicht mehr so ganz.
„Ich hatte wirklich befürchtet, dass du dich anstellen
würdest“, befindet Zachary, als wir die Unterpunkte ‚Unterwäsche und Basics‘
hinter uns gebracht haben.
Ich grinse. „Keine Sorge, das Einzige, was mir nicht
gefällt, ist die Tatsache, dass ich mich hier unter sehr vielen Menschen
bewegen muss“, erwidere ich.
„Na, komm, im nächsten Geschäft ist weniger los.“
Kein Wunder, wir betreten einen Herrenausstatter mit
Maßschneiderei. Unsicher sehe ich mich um. Dann fällt mir wieder ein, dass
dieser Laden sämtliche Schuluniformen für Tennington schneidert.
Ich werde von Kopf bis Fuß vermessen und Zachary bestellt
zwei komplette Sätze. Ein Satz besteht aus: zwei Hosen, einem Jackett, zwei
Hemden und einer Krawatte. Zusätzlich gehört eine nicht maßgeschneiderte
Sportausrüstung dazu, die in den Schulfarben Weiß und Smaragdgrün gehalten ist.
T-Shirts, Trainingshosen, Sweatshirts und Hoodies.
Schuhe und die übrige Sportausrüstung werde ich an der
Schule bekommen oder meine eigene Garderobe benutzen dürfen. Dies gilt aber nur
so lange, bis ich mich für mindestens eine andere Sportart neben dem
verpflichtenden Rugby entschieden habe.
Es gibt ein großes Angebot, soviel wusste ich immerhin. Und
den Rest werde ich wohl auf mich zukommen lassen müssen.
Zachary und ich gehen etwas Essen, danach folgt die letzte
Runde in Sachen Shopping.
Normale Alltagskleidung, die ich immerhin an den
Wochenenden, die ich nicht auf dem Campus verbringen werde, tragen darf.
Insgesamt sind sie sehr streng in Tennington. Auch wenn sich
dort die Söhne der Superreichen tummeln mögen, besteht man darauf, dass die
Schuluniform getragen wird. Gesellschaftliche Unterschiede mag es zwar nicht
geben, aber die Schulleitung verlangt, dass man die Schüler auch außerhalb des
Campus’ immer einwandfrei als solche erkennen kann. Angeblich vereitelt das
Tragen der Uniformen öffentliches Fehlverhalten …
Nun ja, ich werde es sehen. In zwei Wochen.
Etienne |
© Nathan Jaeger
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