Leseprobe
Le coeur d‘été
von
Nathan Jaeger
Der Urlaub
„Das ist echt mal wieder typisch! Alle gehen an den Strand
und du sitzt lieber mit deinem Laptop im Hotel“, maulte sie mich an und stapfte
hinaus, ohne auch nur auf meine Erwiderung zu warten.
Das tat sie zu Recht, denn ich hatte nicht vor, ihrem Ausbruch auch noch Bedeutung beizumessen. So war sie einfach, meine Schwester. Wieso sollte ich daran etwas ändern wollen?
Ich hatte den Blick nicht einmal vom Display meines Laptops
erhoben, während sie losmeckerte, und widmete mich wieder meiner Konversation
mit ‚JackintheBox‘ im Skype. Jack war cool, ich mochte ihn. Wir hatten uns vor
Monaten über ein Technikforum kennengelernt, in dem ich eine absolut dämliche
Frage zu meinem Desktop-PC gestellt hatte. Er war Admin dort und half mir, ohne
sich erst einmal über meine Hardware-Unkenntnis totzulachen.
Zumindest glaubte ich das, denn er hatte ganz gelassen und
ohne Hohn geantwortet und meinen PC vor einem Dauerschaden bewahrt. Ja, ich war
schon immer ein DAU (Dümmster anzunehmender User), aber das machte mir nichts.
Wenn ich Hilfe brauchte, wusste ich ja, wo ich sie finden konnte.
Jack und ich kamen in näheren Kontakt, tauschten
Messengerdaten und unterhielten uns oft via Headset und Internettelefonie.
„Mann, deine Schwester nervt echt“, drang seine Stimme nun
über die Kopfhörer zu mir. Ich grinste.
„Ja, tut sie, aber immerhin belässt sie es beim Meckern.“
„Besser so.“
„Wenn meine Eltern wüssten, dass ich den von ihnen
spendierten Urlaub im Hotelzimmer verbringe, würden sie durchdrehen. Zumindest,
wenn ich ihn mit meinem Lappi verbringe …“
Jack lachte. „Du meinst, mit einer Urlaubsbekanntschaft und
ohne Lap wäre es ihnen recht?“
„Absolut.“
„Dann wäre es wohl besser, du suchst dir jemanden.“
Ich lachte nervös auf. „Klar doch, wo ich ja so ein
kontaktfreudiger Mensch bin. Never!“
„Ich mein’s ernst, übrigens … das W-Lan funktioniert auch
auf der Sonnenterrasse.“
Ich stutzte. Was hatte er da grade gesagt? Eine seltsame
Mischung aus Angst und Vorfreude kroch in meinen Magen und brachte einen
Schweißausbruch mit sich.
„Was meinst …?“, fragte ich endlich.
„W-Lan? Das solltest du aber mittlerweile kennen. Wie
würdest du ohne den Hotspot des Hotels denn sonst mit mir reden können?“
Ein weiteres nervöses Lachen. „Ja, schon klar, ich meinte
das andere …“, murmelte ich und war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob er
wirklich von der Sonnenterrasse dieses Hotels gesprochen hatte.
„Nuscheln ist uncool! Falls du es beim Einchecken nicht
bemerkt hast: Das Hotel hat eine Sonnenterrasse und da wirst du mit Sicherheit
auch Internet haben.“
Ich schluckte noch einmal, dann klappte ich den Laptop
zusammen, der dank Jacks Hilfe nicht mehr in Stand-by ging, wenn ich das tat,
und marschierte zur Zimmertür.
„Na gut, wenn du meinst“, sagte ich und verließ in Shorts,
T-Shirt und Flip-Flops mein Bollwerk der schattigen Ruhe. „Solange ich dich in
der Leitung habe, brauche ich ja mit niemandem zu reden …“
Er lachte fröhlich auf und hatte ein paar beruhigende Worte
für mich, während ich mir den Weg durch das Hotel zur Terrasse am Pool bahnte.
Als ich dort ankam, wurde es schwer, ihn noch zu verstehen.
Die Geräuschkulisse in der Nähe des riesigen azurblauen Schwimmbeckens war
enorm. Ich suchte mir einen möglichst weit vom Kindergeschrei entfernten Tisch.
Er war weiß und hatte einen Sonnenschirm in der Mitte. Trotzdem würde ich auf
dem Display des Laptops nichts erkennen können, also ließ ich ihn zugeklappt
und seufzte auf, nachdem ich mich auf einen der Stühle gesetzt hatte.
„Mann, ich verstehe dich immer noch voll schlecht, Jack!“,
jammerte ich und drehte den Lautstärkeregler am Headsetkabel weiter auf. „Hier
sind so viele Menschen, ich mag Menschen nicht!“
„Du wirst es schon überleben. Ich muss kurz AFK, hältst du
es drei Minuten aus?“
Sein beinahe besorgter Ton war zugleich irritierend und
angenehm. Ich musste echt jämmerlich geklungen haben. „Ja, kein Problem, lass
dir Zeit“, sagte ich, um das letzte Fünkchen meiner Selbstachtung zu behalten.
Jack war der Einzige, der von meiner Abneigung gegen
Menschen im Allgemeinen und meiner Angst vor Menschenmengen im Besonderen
wusste. Niemals hatte ich jemand anderem davon erzählt. Gesegnetes Internet, es
hatte mir mit seiner anonymen Kommunikation neue Welten eröffnet.
Ich lehnte mich zurück, gab mir Mühe, mich zu entspannen und
sah dem lauten, chaotischen Treiben am Pool zu. Die drei Minuten waren längst
rum, oder nicht?
Ich klappte hektisch den Laptop auf und versuchte zu
erkennen, ob die Verbindung über Skype noch bestand. Ich atmete erleichtert
auf, die Leitung war nicht tot, Jack war nur noch nicht zurückgekommen. Ich
drückte das Display wieder herab und lehnte mich mit vor der Brust
verschränkten Armen zurück in den Stuhl. Ein Lächeln glitt über mein Gesicht,
ich dachte an Jack – naja, an wen auch sonst?
Wir unterhielten uns seit Monaten, manchmal, eigentlich an
jedem Wochenende, lief die Skype-Verbindung vom Aufwachen bis zum Einschlafen,
nur unterbrochen von den Mahlzeiten und Badezimmerbesuchen.
Jack war zu einem festen Bestandteil meines Lebens geworden,
ohne dass ich ihn jemals persönlich getroffen hätte. Ich kannte genau ein Foto
von ihm, auf dem er eine alberne, viel zu große Sonnenbrille in Pink und einen
Strohhut mit einem kompletten Obstkorb darauf getragen hatte, und seine Stimme.
Mehr nicht. Und trotzdem war er mir näher als irgendein anderer Mensch auf
diesem Planeten.
Ich seufzte und dachte daran, wie schwer mir die letzten
Wochen des Schuljahres gefallen waren. Lästig, nervtötend. Während des
Unterrichts konnte ich schließlich nicht telefonieren. Aber das ging ihm wohl
genauso, denn wann immer ich aus der Schule nach Hause kam und den PC hochfuhr,
wartete er schon im Skype auf mich.
Ich schluckte. Eine warme Welle durchlief mich, dann
berührte mich jemand an der Schulter und ich schrie erschrocken auf, während
ich herumfuhr.
Für Gemecker oder eine scharfe Zurechtweisung fehlten mir
die Worte. Ich hasste es, angefasst zu werden, noch dazu von Fremden.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte
mein Gegenüber, nachdem es um meinen Stuhl herumgekommen war. Ich sah zu ihm
auf.
Er war groß, trug Badelatschen, Schwimmshorts und eine
Sonnenbrille. Sein dunkles Haar stand wirr in alle Richtungen und, das musste
ich zugeben, er gefiel mir.
„Schon okay, solange es nicht noch einmal vorkommt“,
brummelte ich und dachte, das Gespräch sei damit beendet. Deshalb lauschte ich
weiterhin auf die statische Stille in den Kopfhörern und wandte mich ab. Wann
kam Jack denn endlich zurück?
„Störe ich?“, fragte der Typ und setzte sich ungefragt auf
einen der freien Stühle.
„Um ehrlich zu sein: ja. Ich bin beschäftigt“, gab ich
zurück und sah wieder in eine andere Richtung.
„Weißt du, bisher dachte ich, dein Menschenhass sei,
zumindest zum Teil, eine Masche …“
„Wie bitte?“, fragte ich verdattert und zog langsam das
Headset herab, bis der Metallbügel in meinem Nacken lag.
„Naja, ich dachte, so schlimm wird’s schon nicht sein, aber
offensichtlich fühlst du dich hier wirklich unwohl.“
„J-j-j-jack?“, stotterte ich und blinzelte.
„Richtig.“ Er nickte übertrieben und sein Lächeln wurde
breiter.
„Wie …? Ich meine, …!“, begann ich und merkte
selbst, dass ich gerade das idiotischste Gestammel meines Lebens von mir gab.
„Nachdem du mir erzählt hattest, wie euer Hotel heißt, habe
ich meinen Vater überredet, mir zur Feier meiner Noten einen Urlaub zu spendieren.“
„Aha“, machte ich und fluchte innerlich.
Er lachte. „Hey, komm mal wieder auf den Teppich, wir kennen
uns jetzt seit fast einem halben Jahr und ich bin nicht ganz so fremd wie der
Rest hier.“
Ich nickte zögerlich. Er hatte ja recht! „Dann … bist
du meinetwegen hierher gekommen? Einfach so?“
„Wegen dir, ja, einfach so, nein. Ich wollte dich
kennenlernen. Ich meine, so richtig.“
Klang toll, fand ich, aber gleichzeitig tobte in mir ein
Orkan an Widersprüchlichkeiten. Allen voran Angst und Zweifel, dicht gefolgt
von Freude und dem schleichenden Gefühl, den Verstand verloren zu haben.
Ich ertappte mich dabei, verblödet in seine Richtung zu
grinsen und nahm die Sonnenbrille ab. Wenn er mir schon gegenübersaß und nicht
wie sonst hunderte Kilometer entfernt vor einem anderen Computer, wollte ich
ihn auch richtig ansehen können.
Er tat es mir gleich und legte seine Sonnenbrille vor sich
auf den Tisch. Das strahlende Grün seiner Augen ließ mich tatsächlich
kurzfristig vergessen, dass ich mich in der Öffentlichkeit befand. Jacks Blick
bohrte sich tief in meinen und ich starrte mit offenem Mund zurück.
„Kennenlernen …“, brachte ich hervor. „Dann aber ganz von
vorn.“
Er runzelte die Stirn, bis sie in Dackelfalten lag. Sexy,
dachte ich. Jack, alias JackintheBox, war gnadenlos sexy.
Als er abwartend schwieg, streckte ich meine leider
fürchterlich zittrige Hand über den Tisch und sagte: „Salut, ich bin Julien
Ledoux.“
Die Falten auf seiner Stirn verschwanden, während er meine
Hand nahm und sie leicht schüttelte. „Salut, ich bin Jacques Beauchamps. Da wir
das nun geklärt hätten, was hast du heute noch vor?“
„Ach nein, mein Brüderchen hat es endlich geschafft, aus dem
Zimmer zu kommen und auch gleich noch jemanden kennengelernt?“
Hastig zog ich meine Hand aus Jacks zurück und versuchte,
meine Schwester im Wirrwarr rund um den Pool zu erkennen.
„Yvette“, zischte ich und hoffte, dass sie schnell wieder
abhauen würde. Immerhin hatte sie in weiser Voraussicht ihre beste Freundin
Chantal mitgenommen, weil ihr langweiliger Bruder kein geeigneter
Urlaubspartner war.
„Bleib ruhig“, sagte Jack und lehnte sich in seinem Stuhl
zurück.
„Salut, ich bin Yvette. Willst du deinen Urlaub wirklich mit
diesem Langweiler verbringen?“, fragte sie Jack und ich spürte, wie ich zuerst
rot anlief und dann zusammensank. Yvette hatte ja recht. Ich war ein
Langweiler, noch dazu ein Menschenfeind und ganz sicher das absolute Gegenteil
von einem Partylöwen. Trotzdem, dieses miese Verhalten von ihr …
„Das“, begann Jack und lächelte meine Schwester nonchalant
an. „… ist allein meine Sache.“
Wow, niemand fertigte meine Schwester so ab, immerhin
arbeitete sie nach der Schule als Model! Doch Jack tat es und ich blinzelte,
bevor ich ihre Reaktion beobachtete.
„Wie du meinst“, erwiderte sie schnippisch und sah sich
höchst betont nach Chantal um, die soeben auf unseren Tisch zukam.
„Salut Julien, salut Fremder“, grüßte sie und reichte Yvette
ein Glas mit eisgekühlter Cola.
„Salut“, sagten Jack und ich stereo, dann nahm ich meinen
Laptop, zog das Headset vom Hals und verstaute beides unter dem Arm.
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