Leseprobe
Neues Leben
„Na, dann viel Glück mit Ihrem neuen Geschäft, Herr
Pfeiffer“, wünscht mir der Chef des Umzugsunternehmens, das gerade die letzten
Kisten voller Bücher von meinem alten Wohnort hierher geschafft hat.
Ich schüttle seine Hand und gebe ihm ein Trinkgeld, welches
er mit einem breiten Grinsen in die Brusttasche seiner Latzhosen steckt. Der
Mann nickt erneut und wendet sich ab. Leise schließt sich die Ladentür hinter
ihm.
Das fehlende Geräusch irritiert mich, deshalb beginne ich
hektisch damit, die richtige Kiste zu suchen.
Alle sind akribisch beschriftet, so dass ich die mit der Türklingel auf Anhieb finden sollte. Ah, da ist sie. Neben der sorgfältig verpackten silberfarbenen Glocke sind auch sämtliche Kassenutensilien in diesem Karton untergebracht.
Wie immer werde ich auch heute zuerst die Theke mit
Geldkassette, Schreibmaterial und PC einrichten, aber die Amtshandlung, die mir
am wichtigsten erscheint, ist jene, bei der ich die Glocke an ihren neuen Platz
hänge.
Ich hole mir einen Schraubendreher aus der Werkzeugkiste,
die im Hinterzimmer steht, und bringe die Klingel direkt über der Ladentür an.
Natürlich teste ich sie ein paarmal und bemerke, dass ich grinsend die Augen
schließe und ihrem vollen, sanften Klang lausche.
Vermutlich bin ich verrückt, aber auch eindeutig aus dem
Alter heraus, in dem das noch eine Rolle spielen könnte.
Das Schild mit den Öffnungszeiten stelle ich ins rechte
Schaufenster, damit man es lesen kann, wenn man vor der Tür steht. Später, wenn
alles eingerichtet ist, wird es seinen endgültigen Platz in der oberen Hälfte
der Tür bekommen.
Nun gut, genug herumgetrödelt! Es ist Samstagvormittag, am
Montag will ich eröffnen – die entsprechenden Annoncen in den hiesigen
Werbeblättern und der Tageszeitung laufen seit zwei Wochen – und bis dahin muss
alles tipptopp sein.
Das bedeutet, ich habe jede Menge Regale aufzubauen, Bücher
einzusortieren und anschließend den Laden zu dekorieren.
Was wäre ein Buchladen mit Spezialisierung auf Horror und
Fantasy, wenn er nicht auch entsprechend eingerichtet wäre?
Ich entledige mich meines schwarzen Hoodies mit Grim-Reaper-Aufdruck
und mache mich an die Arbeit.
Da ich Anfang der Woche bereits mit meinen privaten
Habseligkeiten in den ersten Stock über dem Ladenlokal gezogen bin, habe ich
heute noch nicht allzu viel leisten müssen. Immerhin haben die Möbelpacker
sämtliche Kisten aus dem alten Laden hierher gebracht und ich habe keinen
Finger gerührt.
Ein Anstreicherteam hat seit Montag dafür gesorgt, dass die knappen
70 Quadratmeter Ladenlokal sich in ein Kellergewölbe verwandeln. Mit Zwischenwänden,
Torbögen und vielen alt aussehenden Steinimitaten anstelle von Wandfarbe oder
Tapete.
Ein wenig schaurig, aber durch die richtige Beleuchtung und
die Regale am Ende sicherlich auch gemütlich.
Eben nicht wie ein nasskaltes Kellerloch, sondern wie ein
ehemaliger Kerker mit altmodischer Möblierung.
Wenn ich bedenke, dass der eine oder andere Lesesessel, die
morgen Abend nicht mehr unter Tüchern versteckt, sondern strategisch zwischen
den Regalen verteilt stehen werden, genauso alt sind wie ich, schwanke ich
augenblicklich zwischen grinsender Freude und uralter Wehmut.
Diese Gefühle will ich nicht zulassen. Das Wesentliche und
das Jetzt sind die Dinge, die zählen.
Noch habe ich keine blasse Ahnung, wie lange ich hier
bleiben kann, wann ich erneut auf der Flucht sein werde oder vor wem ich mich
an meinem neuen Wohnort in Acht nehmen muss. Aber, so viel hat mein bisheriges
Leben mich gelehrt, ich werde es bald herausfinden.
Nachdem ich die Regale alle zusammengebaut und an ihre neuen
Bestimmungsorte gestellt habe, beginne ich damit, die Kisten für die
Schaufensterdekoration auszuräumen.
Jenseits einer etwa anderthalb Meter hohen Holzwand wird zu
beiden Seiten der Tür eine Szenerie entstehen.
Ich beginne mit dem frisch gekauften Stoff, der als
Untergrund und Verkleidung dienen wird.
Auf der rechten Seite ist es schwarzer Samt, der sich, von
den Holzwänden hinabfließend, bis zur bodentiefen Schaufensterscheibe drapieren
lässt. Etwa mittig platziere ich den Schaukelstuhl, der über eine simple
elektrische Vorrichtung nicht nur vor und zurück schaukeln, sondern dabei auch
ein hölzernes Knirschgeräusch machen wird.
Die Toninstallation dafür ist bereits gemacht, ich muss nur
die dünnen Lautsprecherkabel mit dem Rest der Technik verbinden. Um
sicherzugehen, dass alles funktioniert, betätige ich den Schalter und beobachte
einige Augenblicke lang den unheimlich schaukelnden Stuhl, bevor ich mich um
den Rest kümmere.
Neben dem Stuhl stelle ich einen hohen, aber sehr
kleinflächigen Beistelltisch ab und arrangiere darauf ein halbvolles
Rotweinglas aus Polyresin sowie einen Aschenbecher mit Pfeife. Die Pfeife wird
über eine weitere elektrische Installation in unregelmäßigen Abständen
aufglühen und Rauch produzieren, der natürlich anderenorts entsteht und über
einen Schlauch im Fuß des Tischchens zugeleitet wird.
Nun muss ich das Schaukeln abschalten und die kniffligste Konstruktion
hinbekommen: Über der Sitzfläche des Stuhles, auf einer Höhe, auf der ich es
beim Lesen halten würde, muss ich in einem nahezu unsichtbaren Gestell ein
uraltes Buch anbringen. Ich habe lange experimentiert, um die tragenden
Elemente verschwinden zu lassen und matte, zum Stuhl passende Farbe hat sich
als beste Lösung entpuppt. Besser auf jeden Fall als es durchsichtige
Plastikstangen wären.
Das Buch ist einer meiner Schätze, eine Spezialanfertigung
des von H.P. Lovecraft erfundenen Werkes Necronomicon, welches angeblich vom
irren Araber Abdul al Hazred verfasst wurde. In Wahrheit, so hat der heute
weltberühmte Autor irgendwann zugegeben, hat er es selbst geschrieben. Ein
kleines Vermögen habe ich dafür bei einem Buchbinder und zwei Grafikern
gelassen, aber das war es mir wirklich wert.
Der Foliant sieht tatsächlich aus, als sei er mindestens 500
Jahre alt und nicht erst im Jahre 2010 entstanden.
Sobald das Necronomicon fest an seinem Platz sitzt, schalte
ich den gesamten Mechanismus wieder ein und aktiviere auch den für die
Tabakspfeife auf dem Tischchen.
Die Neugier packt mich und ich haste durch die Tür auf den
Gehsteig.
Perfekt!
Wer auch immer heute Nacht auf dem Heimweg von einer
Diskothek oder einer Kneipe hier vorbeigehen wird, muss sich unweigerlich
halbtot gruseln!
Mit vor der Brust verschränkten Armen bleibe ich noch einen
Moment dort stehen und erschrecke selbst, als mich jemand anspricht.
„Wow! Sieht cool aus, aber fürchten Sie nicht, dass heute
Nacht mehrere erschreckte Leute bei der Polizei anrufen?“
Ich drehe mich zu dem Sprecher um und mustere ihn auf meine
antrainierte, blitzschnelle Art. Er dürfte es nicht einmal richtig wahrgenommen
haben, aber er ist bereits in mindestens drei Schubladen gelandet.
Der Mann ist altersmäßig irgendwo zwischen 30 und 40, aber
vermutlich deutlich näher an der 30. Das mittelblonde Haar trägt er modisch
kurz und hochgegelt, auf seiner schmalen Nase sitzt eine Brille mit schwarzem
Metallrahmen und fast rechteckigen Gläsern. Sein Oberkörper, dessen Ausprägung
ich als vollkommenen Durchschnitt bezeichnen würde, ist von einem schwarzen
Hoodie verhüllt, auf dem sich ein Drache räkelt. Die Beine verschwinden in eng
sitzenden, schwarzen Jeans und klobige Dockers schützen seine Füße vor dem
überall herumliegenden Schneematsch.
Ich tippe darauf, dass er nicht weit weg von zu Hause ist,
auch wenn er im Gegensatz zu mir vermutlich als sehr warm angezogen bezeichnet
werden muss.
Ich trage, seitdem ich mit dem Regalaufbau begonnen habe,
nur noch ein Band-T-Shirt von Disturbed.
In der Hand hat der Fremde eine Tragetasche vom
nahegelegenen Supermarkt, deshalb schließe ich, dass er seinen Einkauf erledigt
hat. Eindeutig, er muss nah dran wohnen oder geparkt haben, wobei Letzteres
angesichts des gigantischen Parkplatzes direkt am Supermarkt sehr
unwahrscheinlich ist.
Er ist in dem Alter, auf das man mich schätzen würde. Das
macht ihn zum Kandidaten für Schublade 1: ‚Gleichaltrig‘.
Er trägt einen Drachen auf seinem Hoodie, was ihn sofort in
Lade 2 bringt: ‚potenzieller Kunde‘.
Zudem ist er offen und hat mich einfach so angesprochen,
meiner Deko sogar ein Kompliment gemacht. Lade Nummer 3: ‚Vorsicht!‘
Sein taxierender Blick schließlich sorgt für Lade 4:
‚Gefährlich‘.
Die Schubladen öffnen und schließen sich in meinem Geist,
während ich ihn angrinse und antworte: „Meinen Sie? Ich hatte gehofft, dass es
die Leute zwar erschreckt, aber nicht gleich zu panischen Anrufen verleitet.“
„‚Geschichten in der Gruft‘ also, ja? Dann ist das hier der
neue Buchladen, von dem mir eine Kollegin neulich erzählt hat …“, gibt er
zurück und ignoriert meine Nachfrage eiskalt.
Gefällt mir!
Vor allem, weil er damit aus zwei Schubladen verschwinden
könnte. Gesetzt den Fall, er hat wirklich absichtlich nicht reagiert, und war
nicht bloß in Gedanken.
Ich habe mehr als nur ein Leben gelebt und keinerlei
Interesse daran, mich in irgendeiner Form sozial zu binden.
„Schön, dass es sich bereits herumspricht, vielleicht
verschafft mir das die benötigte Kundschaft“, erwidere ich und spüre, wie die
Dezemberkälte mir langsam, aber sicher in die Knochen kriecht.
Ein Frösteln durchläuft mich sichtbar und ich mache einen
Schritt auf die Ladentür zu.
„Ist auf jeden Fall mal was ganz Neues in dieser Stadt. Viel
Erfolg!“ Er nickt zum Gruß und wendet sich ab, während ich in die wohlige Wärme
zurückkehre.
Die Zeitschaltuhren für die Elektroinstallation des
Schaufensters müssen noch eingestellt werden, denn hauptsächlich soll der Stuhl
sich nachts bewegen. Ich programmiere auf beiden Uhren die gleichen
sporadischen Zeiten für den Tag und einige mehr für die Nacht, bevor ich mich
um die Dekoration des zweiten Fensters kümmere.
Es wird am Ende deutlich mehr nach einem
Buchladenschaufenster aussehen, denn ich baue dort einen rauchenden Vulkan
mitsamt Höhle und Drachenhort auf. Auch aus der Höhle wird hin und wieder Rauch
kommen, dazu das tiefe Grollen eines Drachen vom Tonband. Da dieses Fenster
sofort als reine Ausstellungsfläche erkannt werden kann, platziere ich hier
einige der Verkaufsbücher. Aktuelle Fantasy-Bestseller und Klassiker, um die
Passanten zu informieren.
Nun habe ich mir eine Pause verdient, in der ich mir einen
Kaffee gönne und ein paar Weihnachtskekse verdrücke. Immerhin ist morgen
Nikolaustag, eine Tradition, die ich aus meiner Heimat, sofern man mein
Geburtsland noch so bezeichnen will, nicht kenne.
Hierzulande stellen alle ihre Stiefel vor die Türen und
hoffen auf kleine Präsente und Leckereien, so viel weiß ich darüber. Ich habe
in meiner viel zu langen Lebensspanne bereits mehr Zeit auf europäischem Boden
gelebt als in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo ich am 6. Juli 1870 als
zweites Kind meiner Eltern das Licht der Welt erblickt habe. Sie tauften mich
Robert.
Robert Ashton, das bin ich … nein, das war ich. Immer mal
wieder. Zwischen wechselnden anderen Namen kehrte ich auch gern zu meiner ursprünglichen
Identität zurück.
Vermutlich war es Nostalgie, möglicherweise aber auch eine
zeitliche Form von Heimweh, die mich dazu gebracht hat, so sentimental zu
handeln.
Gefährlich wohl eher, aber das steht auf einem anderen
Blatt.
In jedem Fall ist sicher, dass ich nie wieder in die USA
zurückkehren kann oder will.
Da ich als Liebhaber klassischer Fantasy und altehrwürdigen
Horrors sehr wohl weiß, wie man meine lange Lebenszeit einstufen könnte, möchte
ich hiermit klar und deutlich sagen, dass ich kein Vampir, kein Werwolf, kein
Fabelwesen und vor allem kein Highlander bin.
Dennoch erfreue ich mich einer Fähigkeit …
Ich überlebe.
Egal was meinem Körper zustoßen mag, ich überlebe es.
Sinnierend beiße ich vom letzten Keks auf dem Teller ab und
trinke einen Schluck Kaffee.
In meinen Augen brennen Tränen, die ich hasse und doch
willkommen heißen will. Ich bin unsterblich und genau das hat mich zum
einsamsten Menschen der Welt gemacht.
In Wahrheit nichts, an dem ich mich erfreuen könnte, denn
sehe ich davon ab, dass ich im Laufe all dieser Jahre viele Sprachen gelernt
habe, ist daran nichts erfreulich oder gar gut.
Ich überlebe seit dem Brand meines Elternhauses am 14.
Oktober 1887 nämlich nicht nur Katastrophen und Unglücke, sondern auch
Menschen.
Geliebte Menschen, Personen, die mir wichtig sind.
Noch immer, auch heute.
Meine Eltern und all meine Geschwister, das jüngste gerade
einmal fünf Jahre alt, kamen bei dem verheerenden Feuer ums Leben. Ich aber war
dazu verdammt, nackt und unversehrt in der noch warmen Asche meines Zuhauses
aufzuwachen und allein zu sein.
Als siebzehnjähriger Mann im 19. Jahrhundert. Nichts war
mehr etwas wert.
Nicht meine Studien, meine Bildung, mein gutes Elternhaus,
der Reichtum meiner Familie … alles verbrannt, verloren.
Sie alle haben mich zurückgelassen, mir gezeigt, dass
Familie und Liebe nicht alle Grenzen überwinden können.
Ich habe versucht, ihnen zu folgen, viele Male.
Wollte Linny und Eva, meinen jüngsten Schwestern wieder
Reitunterricht geben, ihnen nachts vorlesen, meinen Brüdern auf der Jagd
Gesellschaft leisten, mit ihnen raufen, balgen, albern … wollte meine Eltern
noch einmal sehen, ihnen sagen, dass ich sie liebe, ihnen danken, dass sie mir
so viele Möglichkeiten geboten haben.
Doch nichts davon war möglich. Nichts davon wird jemals
möglich sein.
Ich bin unwiderruflich dazu verdammt, ewig zu leben.
Ich seufze tief und zwinge mich dazu, diese Erinnerungen
abzustreifen, sie nicht zuzulassen. Zumindest nicht jetzt, wo mir nur noch der
morgige Tag und der Rest von heute bleiben, um diesen Laden, meine aktuelle
Zukunft, in Ordnung zu bringen.
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