Samstag, 6. November 2021

[Leseprobe] Writing Ghost

 Leseprobe

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Ich weiß, ich darf mich nicht ständig in die Erinnerungen ziehen lassen, die mein aktuelles Leben ausbremsen, aber in jedem Sommer ist es dasselbe.

Sobald ich im Freibad die herumtobenden Jugendlichen und Kinder sehe, die Geräuschkulisse wahrnehme und dabei die Augen schließe, bin ich wieder zwölf und mein bester Freund Moritz liegt neben mir.

Unser letzter gemeinsamer Sommer. Immer wieder flüchte ich mich dorthin, auch wenn es sinnlos ist.

Ich kann nichts dagegen tun – außer vielleicht, dem Freibad fernzubleiben – was angesichts der phänomenalen Temperaturen absolut undenkbar ist.

Blöde vor mich hin grinsend sehe ich Moritz und mich wie in einem Film. Wir toben im Wasser, tauchen uns gegenseitig unter, schwimmen um die Wette, dann liegen wir atemlos auf unseren Handtüchern und freuen uns über alles und nichts, während wir über Mädchen lästern, über unsere neuesten Rekorde bei irgendwelchen Spielen reden oder auch über das aktuelle Buch, an dem wir lesen, wenn unsere Mütter abends das Licht gelöscht haben.

Taschenlampen und Papierbücher sind dabei vollkommen out. Wir haben beleuchtete E-Reader, in denen man ganz wunderbar unter der Bettdecke versteckt lesen kann.

Ich seufze und richte mich mit einem Ruck auf.

Moritz ist tot. Seit beinahe vierzehn Jahren.

Ich weiß es, aber wirklich begreifen werde ich es wohl niemals.

Ein anaphylaktischer Schock.

Mein bester Freund, mit dem ich meine gesamte Kindheit bis zur sechsten Klasse am Gymnasium verbracht habe, ist damals einfach so gestorben.

Niemand wusste, dass er allergisch auf Wespengift reagiert, weil ihn vorher niemals eine gestochen hatte.

Und dann … ist er einfach daran gestorben.

Heute weiß ich, dass er qualvoll erstickt ist, aber damals habe ich den Erwachsenen geglaubt, dass er friedlich eingeschlafen ist.

Ein Schütteln rinnt durch meinen Körper, das nichts mit meinen noch nassen Schwimmshorts zu tun hat.

Moritz verloren zu haben, war hart. Seitdem ist jeder Sommer hart.

Seufzend reibe ich mir übers Gesicht und stehe auf, um meinen Liegeplatz wieder mehr in die Sonne zu bringen.

Anders lässt sich diese unnatürliche Kälte nicht aus meinem Körper vertreiben.

Ich weiß bereits aus den vergangenen Jahren, dass es im Laufe des Sommers leichter wird, dass die Erinnerungen in den Hintergrund treten und mir wieder mehr Platz gewähren, über andere Dinge nachzudenken.

Aber heute ist mein erster Tag im Freibad und an diesem ist es in jedem Jahr besonders schlimm.

Vielleicht wird sich das niemals ändern, weil alles so eingebrannt, so unumstößlich in meinem Kopf verankert ist.

Trotzdem habe ich lernen müssen, vorwärts zu gehen. Ich musste mich auf die Situation einstellen, an der niemand die Schuld trug, musste mich damit abfinden, dass Moritz fort war.

Und ja, ich musste mir neue Freunde suchen. Andere, lebendige.

Klar habe ich das gemacht. Was blieb mir anderes übrig?

Moritz und ich hatten durchaus viele Freunde, aber niemand davon war uns so nah wie wir uns.

Er war wie ein Bruder, ein Vertrauter – allerdings bekam ich keine Gelegenheit mehr, ihm mein größtes Geheimnis anzuvertrauen.

Ich habe mit vierzehn herausgefunden, dass ich auf Jungs stehe, dass Mädchen mich nicht interessieren, zumindest nicht den hormonellen Teil von mir.

Vielleicht habe ich wegen des Verlustes so lange gebraucht, mich zu einem Coming out zu bewegen?

Drei Jahre lang wusste niemand von meiner Neigung, erst dann habe ich es meiner Mutter erzählt – unter Tränen, voller Angst.

Dass beides unbegründet war, habe ich damals erfahren, aber leichter wurde es dadurch nicht.

Daran sind ganz sicher nicht meine Eltern oder die Familie schuld, sondern meine eigenen Lebensumstände.

Ich hatte Angst.

Wie sollte ich jemals wieder jemanden an mich heranlassen? Wie jemals wieder jemanden wie einen Bruder lieben, ohne Moritz und dessen Freundschaft zu verraten?

Auch wenn ich in der Schule Freundschaften gepflegt und ausgebaut habe, war nichts so eng und nah wie meine Verbundenheit mit Moritz.

Dabei bin ich mir ganz sicher, dass ich nie in ihn verliebt war.

Nein, verliebt war ich zum ersten Mal mit fünfzehn, lange vor dem Outing bei Mama.

Dass daraus nichts wurde, lag wohl daran, dass Kevin eindeutig auf Mädchen stand, vermutlich immer noch steht.

Ich atme noch einmal tief durch und setze mich wieder auf meine Decke, krame mein Handy aus den Abgründen der Schwimmtasche und sehe, dass mein heutiger bester Freund, sofern man ihn so bezeichnen kann, sich gemeldet hat.

Er lebt eine gute Autostunde von mir entfernt. Auch wenn wir uns in den letzten Jahren oft getroffen haben, sind tägliche gemeinsame Aktivitäten eher selten.

Ich finde das gut so, denn das erspart mir die weitere Annäherung und die Angst.

Hin und wieder besuchen wir gemeinsam Festivals oder Konzerte und haben auch schon mal ‚Urlaub‘ beim jeweils anderen oder gemeinsam an der See gemacht.

Malte ist ebenso schwul wie ich, aber wir hatten nie was miteinander, weil wir uns diesbezüglich einfach nicht grün sind.

Sexuelle Anspannung gibt es schlicht nicht.

Davon abgesehen ist das Thema bei mir sowieso nicht weiter erwähnenswert. Ich hatte zwar kurze Beziehungen, auch mal den einen oder anderen One-Night-Stand, aber das war’s auch schon.

Egal, wenn ich mich hier weiter festdenke, vergeht mir am Ende noch die Lust aufs Schwimmen!

Zudem sollte ich wohl damit aufhören, blöde auf mein Handy zu starren, anstatt Maltes Nachricht endlich mal zu lesen.

> Hey Lulatsch, ich hoffe, du liegst bei diesem Wetter irgendwo faul in der Sonne. Ich habe gleich Feierabend und werde den nächsten Badesee ansteuern.

Ich antworte.

> Hey Zwerg! *fg* Ich aale tatsächlich schon seit zwei Uhr im Freibad. Dir viel Spaß am Badesee! Was steht dieses WE bei dir an? Nachher Videochat?

Sekunden später klingelt mein Handy. Ein Videoanruf von Malte geht ein.

Ich nehme das Gespräch an und grinse in die Kamera. „Hey Zwerg!“

Er lacht sich scheckig. „Hey Lulatsch! Na? Schon Frischfleisch in leichter Bekleidung entdeckt?“

Ich schüttle den Kopf und verziehe den Mund. „Nein, du weißt doch … Erster Tag im Freibad …“

Die Anonymität des Internets hat mir damals sehr geholfen, Malte alles über Moritz und mein Trauma zu erzählen. Vermutlich ist auch das ein Punkt auf der ‚Wir würden niemals was anfangen‘-Liste.

„Ja, sorry, ich weiß. Ich hatte nur gehofft, du lässt dich ablenken. Zeig mal, was ist denn so im Angebot?“

Ich drehe die Kamera, lasse sie um mich herum über die Liegewiese gleiten, während ich Maltes unterschiedlichen Kommentaren lausche und tatsächlich lachen muss.

„Wow, der da hinten! Der Braungebrannte mit der roten Badehose … meine Fresse!“

Ich kichere. „Seine Freundin ist grad zum Kiosk marschiert, ich fürchte, der würde dich nicht ranlassen.“

„Ach, egal. Wie sieht es aus? Ich hätte für übernächstes Wochenende Karten für ein Konzert. Magst du mitkommen?“

Sein Themenwechsel irritiert mich kurz, dann schürze ich die Lippen und drehe die Kamera wieder um. „Hm, bisher liegt nichts an. Ich muss erst mal rauskriegen, was ich dieses WE machen will.“

Nach einigem Geblödel legen wir auf, weil Malte bereit ist, den Badesee zu erobern. Dazu muss er aber erst mal dorthin fahren, und dabei ist Videotelefonie sehr unpraktisch.

Davon abgesehen weiß ich zu genau, dass er an einen See fahren wird, der als Cruising-Revier bekannt ist – und dort wird er sicherlich nicht lang allein bleiben …

Macht nichts. Ich habe mir den Termin in zwei Wochen vorgemerkt und freue mich schon auf das Konzert, der Rest ist mir gerade ziemlich egal.

Vielleicht, weil ich mein E-Mail-Postfach am Handy aufgerufen habe, und seit Ewigkeiten mal wieder den Drang verspüre, eine Nachricht an Moritz zu schreiben.

Nun ja, an seine Adresse. Dass sie nicht bei ihm selbst ankommt, weiß ich schließlich!

Früher, direkt nach seinem unerwarteten Tod, habe ich ihm eine Mail an sein Postfach gesendet. Kurz darauf noch eine.

Schließlich ist eine Art Tagebuch daraus geworden, in dem ich ihm von allem erzählt habe, was mir am jeweiligen Tag passiert ist.

Mindestens ein Jahr lang habe ich das beibehalten, aber irgendwann ließ ich es sein, weil ich das Gefühl hatte, dass es nichts nutzt.

Mehr als zehn Jahre lang habe ich ihm keine Nachricht mehr gesendet, auch nicht am ersten Freibadtag eines Jahres.

Heute schon.

Hallo Momo,

es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber damals erschien mir irgendwann alles so sinnlos, deshalb habe ich aufgehört, dein Postfach als Tagebuch zu benutzen.

Heute will ich es aber tun. Ausnahmsweise.

Dabei gibt es gar nichts Besonders zu sagen. Nur, dass ich gerade sonnenbadend und faul unter ‚unserem‘ Baum im Freibad liege und meine Gedanken ständig zu dir und unserem letzten Sommer wandern.

Es ist in jedem Sommer so. Beim ersten Freibadbesuch vermisse ich dich höllisch – und der ist heute.

Bisher haben Wetter und Freizeit nicht zugelassen, dass ich herkam.

Hm, Mittlerweile bin ich 25 … was bedeutet, dass du seit mehr als 13 Jahren nicht mehr da bist.

Aber das ändert nichts daran, dass du mir fehlst. Es wird nicht besser, nur weil mehr Zeit vergeht.

Wer behauptet, dass der Schmerz weggeht, hofft auf Demenz, nicht wirklich darauf, dass es erträglicher wird.

Tja, du siehst, die Jahre haben mich zynisch gemacht, aber nicht nur die.

Ich habe damals, kurz nachdem ich aufgehört habe, dir zu schreiben, herausgefunden, dass ich auf Jungs stehe. War ein ziemlicher Schock und ich hätte so gern mit dir darüber geredet, dich ins Vertrauen gezogen, dich um Rat gefragt.

Schon klar, du hättest kaum etwas Schlaueres sagen können, als ich selbst, immerhin waren wir gleich alt und wohl auch gleich naiv, schließlich waren wir echte Idioten …

Kein Vorwurf! Ich kann dir versichern, dass ich auch heute noch ein Idiot bin.

Einer, der kaum echte Freunde hat, keinen Menschen mehr nah an sich heranlässt und zum Thema Liebesleben schweige ich wohl besser, sonst endet das hier in einer mitleiderregenden Litanei über alle Mistkerle dieser Welt.

So wenig ich Freundschaften suche, so sehr wünsche ich mir, wenn ich ganz-ganz ehrlich bin, eine echte Beziehung.

Du weißt schon, romantisch, verklärt, kitschig, ernsthaft, verliebt …

Mann, sei froh, dass du mein kellertiefes Seufzen jetzt nicht hören musstest …

Ich bin echt peinlich.

Okay, bevor ich doch noch selbstmitleidig werde, höre ich besser auf.

Du sollst nur wissen, dass ich sehr, sehr oft an dich denke!

Dein J.

Ich sende die Nachricht ab und verstaue das Handy wieder.

Da ich in tausend Jahren keine Antwort bekommen werde, lohnt es sich schließlich auch nicht, darauf zu warten.

Stattdessen fühle ich mich seltsam erleichtert, weil ich nach so langer Zeit wieder an Momo geschrieben habe.

© Nathan Jaeger

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