Leseprobe
1
Ich weiß, ich darf
mich nicht ständig in die Erinnerungen ziehen lassen, die mein aktuelles Leben
ausbremsen, aber in jedem Sommer ist es dasselbe.
Sobald ich im
Freibad die herumtobenden Jugendlichen und Kinder sehe, die Geräuschkulisse
wahrnehme und dabei die Augen schließe, bin ich wieder zwölf und mein bester
Freund Moritz liegt neben mir.
Unser letzter
gemeinsamer Sommer. Immer wieder flüchte ich mich dorthin, auch wenn es sinnlos
ist.
Ich kann nichts dagegen tun – außer vielleicht, dem Freibad fernzubleiben – was angesichts der phänomenalen Temperaturen absolut undenkbar ist.
Blöde vor mich hin
grinsend sehe ich Moritz und mich wie in einem Film. Wir toben im Wasser,
tauchen uns gegenseitig unter, schwimmen um die Wette, dann liegen wir atemlos
auf unseren Handtüchern und freuen uns über alles und nichts, während wir über
Mädchen lästern, über unsere neuesten Rekorde bei irgendwelchen Spielen reden
oder auch über das aktuelle Buch, an dem wir lesen, wenn unsere Mütter abends
das Licht gelöscht haben.
Taschenlampen und Papierbücher
sind dabei vollkommen out. Wir haben beleuchtete E-Reader, in denen man ganz
wunderbar unter der Bettdecke versteckt lesen kann.
Ich seufze und richte
mich mit einem Ruck auf.
Moritz ist tot.
Seit beinahe vierzehn Jahren.
Ich weiß es, aber wirklich
begreifen werde ich es wohl niemals.
Ein
anaphylaktischer Schock.
Mein bester Freund,
mit dem ich meine gesamte Kindheit bis zur sechsten Klasse am Gymnasium
verbracht habe, ist damals einfach so gestorben.
Niemand wusste,
dass er allergisch auf Wespengift reagiert, weil ihn vorher niemals eine
gestochen hatte.
Und dann … ist
er einfach daran gestorben.
Heute weiß ich,
dass er qualvoll erstickt ist, aber damals habe ich den Erwachsenen geglaubt,
dass er friedlich eingeschlafen ist.
Ein Schütteln rinnt
durch meinen Körper, das nichts mit meinen noch nassen Schwimmshorts zu tun
hat.
Moritz verloren zu
haben, war hart. Seitdem ist jeder Sommer hart.
Seufzend reibe ich
mir übers Gesicht und stehe auf, um meinen Liegeplatz wieder mehr in die Sonne
zu bringen.
Anders lässt sich
diese unnatürliche Kälte nicht aus meinem Körper vertreiben.
Ich weiß bereits
aus den vergangenen Jahren, dass es im Laufe des Sommers leichter wird, dass
die Erinnerungen in den Hintergrund treten und mir wieder mehr Platz gewähren,
über andere Dinge nachzudenken.
Aber heute ist mein
erster Tag im Freibad und an diesem ist es in jedem Jahr besonders schlimm.
Vielleicht wird
sich das niemals ändern, weil alles so eingebrannt, so unumstößlich in meinem
Kopf verankert ist.
Trotzdem habe ich
lernen müssen, vorwärts zu gehen. Ich musste mich auf die Situation einstellen,
an der niemand die Schuld trug, musste mich damit abfinden, dass Moritz fort war.
Und ja, ich musste
mir neue Freunde suchen. Andere, lebendige.
Klar habe ich das gemacht.
Was blieb mir anderes übrig?
Moritz und ich
hatten durchaus viele Freunde, aber niemand davon war uns so nah wie wir uns.
Er war wie ein
Bruder, ein Vertrauter – allerdings bekam ich keine Gelegenheit mehr, ihm mein
größtes Geheimnis anzuvertrauen.
Ich habe mit vierzehn
herausgefunden, dass ich auf Jungs stehe, dass Mädchen mich nicht
interessieren, zumindest nicht den hormonellen Teil von mir.
Vielleicht habe ich
wegen des Verlustes so lange gebraucht, mich zu einem Coming out zu bewegen?
Drei Jahre lang
wusste niemand von meiner Neigung, erst dann habe ich es meiner Mutter erzählt
– unter Tränen, voller Angst.
Dass beides
unbegründet war, habe ich damals erfahren, aber leichter wurde es dadurch
nicht.
Daran sind ganz
sicher nicht meine Eltern oder die Familie schuld, sondern meine eigenen
Lebensumstände.
Ich hatte Angst.
Wie sollte ich
jemals wieder jemanden an mich heranlassen? Wie jemals wieder jemanden wie
einen Bruder lieben, ohne Moritz und dessen Freundschaft zu verraten?
Auch wenn ich in
der Schule Freundschaften gepflegt und ausgebaut habe, war nichts so eng und
nah wie meine Verbundenheit mit Moritz.
Dabei bin ich mir
ganz sicher, dass ich nie in ihn verliebt war.
Nein, verliebt war
ich zum ersten Mal mit fünfzehn, lange vor dem Outing bei Mama.
Dass daraus nichts
wurde, lag wohl daran, dass Kevin eindeutig auf Mädchen stand, vermutlich immer
noch steht.
Ich atme noch
einmal tief durch und setze mich wieder auf meine Decke, krame mein Handy aus
den Abgründen der Schwimmtasche und sehe, dass mein heutiger bester Freund,
sofern man ihn so bezeichnen kann, sich gemeldet hat.
Er lebt eine gute
Autostunde von mir entfernt. Auch wenn wir uns in den letzten Jahren oft
getroffen haben, sind tägliche gemeinsame Aktivitäten eher selten.
Ich finde das gut
so, denn das erspart mir die weitere Annäherung und die Angst.
Hin und wieder
besuchen wir gemeinsam Festivals oder Konzerte und haben auch schon mal
‚Urlaub‘ beim jeweils anderen oder gemeinsam an der See gemacht.
Malte ist ebenso
schwul wie ich, aber wir hatten nie was miteinander, weil wir uns diesbezüglich
einfach nicht grün sind.
Sexuelle Anspannung
gibt es schlicht nicht.
Davon abgesehen ist
das Thema bei mir sowieso nicht weiter erwähnenswert. Ich hatte zwar kurze
Beziehungen, auch mal den einen oder anderen One-Night-Stand, aber das war’s
auch schon.
Egal, wenn ich mich
hier weiter festdenke, vergeht mir am Ende noch die Lust aufs Schwimmen!
Zudem sollte ich
wohl damit aufhören, blöde auf mein Handy zu starren, anstatt Maltes Nachricht
endlich mal zu lesen.
> Hey Lulatsch, ich hoffe, du liegst bei
diesem Wetter irgendwo faul in der Sonne. Ich habe gleich Feierabend und werde
den nächsten Badesee ansteuern.
Ich antworte.
> Hey Zwerg! *fg* Ich aale tatsächlich schon
seit zwei Uhr im Freibad. Dir viel Spaß am Badesee! Was steht dieses WE bei dir
an? Nachher Videochat?
Sekunden später
klingelt mein Handy. Ein Videoanruf von Malte geht ein.
Ich nehme das
Gespräch an und grinse in die Kamera. „Hey Zwerg!“
Er lacht sich
scheckig. „Hey Lulatsch! Na? Schon Frischfleisch in leichter Bekleidung
entdeckt?“
Ich schüttle den
Kopf und verziehe den Mund. „Nein, du weißt doch … Erster Tag im
Freibad …“
Die Anonymität des
Internets hat mir damals sehr geholfen, Malte alles über Moritz und mein Trauma
zu erzählen. Vermutlich ist auch das ein Punkt auf der ‚Wir würden niemals was
anfangen‘-Liste.
„Ja, sorry, ich
weiß. Ich hatte nur gehofft, du lässt dich ablenken. Zeig mal, was ist denn so
im Angebot?“
Ich drehe die Kamera,
lasse sie um mich herum über die Liegewiese gleiten, während ich Maltes unterschiedlichen
Kommentaren lausche und tatsächlich lachen muss.
„Wow, der da
hinten! Der Braungebrannte mit der roten Badehose … meine Fresse!“
Ich kichere. „Seine
Freundin ist grad zum Kiosk marschiert, ich fürchte, der würde dich nicht
ranlassen.“
„Ach, egal. Wie
sieht es aus? Ich hätte für übernächstes Wochenende Karten für ein Konzert.
Magst du mitkommen?“
Sein Themenwechsel
irritiert mich kurz, dann schürze ich die Lippen und drehe die Kamera wieder
um. „Hm, bisher liegt nichts an. Ich muss erst mal rauskriegen, was ich dieses
WE machen will.“
Nach einigem
Geblödel legen wir auf, weil Malte bereit ist, den Badesee zu erobern. Dazu
muss er aber erst mal dorthin fahren, und dabei ist Videotelefonie sehr
unpraktisch.
Davon abgesehen
weiß ich zu genau, dass er an einen See fahren wird, der als Cruising-Revier
bekannt ist – und dort wird er sicherlich nicht lang allein bleiben …
Macht nichts. Ich
habe mir den Termin in zwei Wochen vorgemerkt und freue mich schon auf das
Konzert, der Rest ist mir gerade ziemlich egal.
Vielleicht, weil
ich mein E-Mail-Postfach am Handy aufgerufen habe, und seit Ewigkeiten mal
wieder den Drang verspüre, eine Nachricht an Moritz zu schreiben.
Nun ja, an seine
Adresse. Dass sie nicht bei ihm selbst ankommt, weiß ich schließlich!
Früher, direkt nach
seinem unerwarteten Tod, habe ich ihm eine Mail an sein Postfach gesendet. Kurz
darauf noch eine.
Schließlich ist
eine Art Tagebuch daraus geworden, in dem ich ihm von allem erzählt habe, was
mir am jeweiligen Tag passiert ist.
Mindestens ein Jahr
lang habe ich das beibehalten, aber irgendwann ließ ich es sein, weil ich das
Gefühl hatte, dass es nichts nutzt.
Mehr als zehn Jahre
lang habe ich ihm keine Nachricht mehr gesendet, auch nicht am ersten
Freibadtag eines Jahres.
Heute schon.
Hallo Momo,
es tut mir leid, dass ich mich so lange
nicht gemeldet habe, aber damals erschien mir irgendwann alles so sinnlos,
deshalb habe ich aufgehört, dein Postfach als Tagebuch zu benutzen.
Heute will ich es aber tun. Ausnahmsweise.
Dabei gibt es gar nichts Besonders zu sagen.
Nur, dass ich gerade sonnenbadend und faul unter ‚unserem‘ Baum im Freibad
liege und meine Gedanken ständig zu dir und unserem letzten Sommer wandern.
Es ist in jedem Sommer so. Beim ersten
Freibadbesuch vermisse ich dich höllisch – und der ist heute.
Bisher haben Wetter und Freizeit nicht
zugelassen, dass ich herkam.
Hm, Mittlerweile bin ich 25 … was
bedeutet, dass du seit mehr als 13 Jahren nicht mehr da bist.
Aber das ändert nichts daran, dass du mir
fehlst. Es wird nicht besser, nur weil mehr Zeit vergeht.
Wer behauptet, dass der Schmerz weggeht,
hofft auf Demenz, nicht wirklich darauf, dass es erträglicher wird.
Tja, du siehst, die Jahre haben mich zynisch
gemacht, aber nicht nur die.
Ich habe damals, kurz nachdem ich aufgehört
habe, dir zu schreiben, herausgefunden, dass ich auf Jungs stehe. War ein
ziemlicher Schock und ich hätte so gern mit dir darüber geredet, dich ins
Vertrauen gezogen, dich um Rat gefragt.
Schon klar, du hättest kaum etwas Schlaueres
sagen können, als ich selbst, immerhin waren wir gleich alt und wohl auch
gleich naiv, schließlich waren wir echte Idioten …
Kein Vorwurf! Ich kann dir versichern, dass
ich auch heute noch ein Idiot bin.
Einer, der kaum echte Freunde hat, keinen
Menschen mehr nah an sich heranlässt und zum Thema Liebesleben schweige ich
wohl besser, sonst endet das hier in einer mitleiderregenden Litanei über alle
Mistkerle dieser Welt.
So wenig ich Freundschaften suche, so sehr
wünsche ich mir, wenn ich ganz-ganz ehrlich bin, eine echte Beziehung.
Du weißt schon, romantisch, verklärt,
kitschig, ernsthaft, verliebt …
Mann, sei froh, dass du mein kellertiefes
Seufzen jetzt nicht hören musstest …
Ich bin echt peinlich.
Okay, bevor ich doch noch selbstmitleidig
werde, höre ich besser auf.
Du sollst nur wissen, dass ich sehr, sehr
oft an dich denke!
Dein J.
Ich sende die
Nachricht ab und verstaue das Handy wieder.
Da ich in tausend
Jahren keine Antwort bekommen werde, lohnt es sich schließlich auch nicht,
darauf zu warten.
Stattdessen fühle
ich mich seltsam erleichtert, weil ich nach so langer Zeit wieder an Momo
geschrieben habe.
© Nathan Jaeger
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