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Kapitel 1 – Kino mit Überraschung
„Steven, sag mal, ist das da vorn nicht Sandro?“ Erik, mein
bester Freund, deutet durch das Dunkel des Kinosaals. Ich blicke in die
Richtung und kneife die Augen zusammen, um zu erkennen, wen er meint.
Als die Leinwand heller wird und das Licht auf uns alle
abstrahlt, nicke ich und spüre zeitgleich, wie mein Magen sich umdrehen will.
Da drüben, drei Reihen vor uns und schräg links neben der
Treppe, sitzt mein Freund Sandro, der eigentlich gerade mit seinen Kommilitonen
in einer Lerngruppe sein sollte.
Zumindest hat er mir das heute Morgen beim gemeinsamen
Frühstück gesagt!
Bevor ich es richtig begreife, stehe ich auf und quetsche mich zur Treppe durch, gehe die zwei Stufen hinab und lasse meinen Freund dabei nicht aus den Augen.
Auch wenn das Licht sich immer wieder verändert, sehe ich
sehr deutlich, dass Sandro mit dem Typen neben sich knutscht und fummelt. Ich
will das nicht sehen! Will ... ja, was eigentlich?
Mein Hirn steuert meinen Körper per Autopilot, und erst als
ich den großen Becher mit Sprite über dem knutschenden Pärchen umdrehe, kapiere
ich, dass ich mein Getränk noch in der Hand habe.
Der Becher fällt hinter seinem Inhalt her, Tumult bricht los
und Sandro schnauzt mich schockiert an.
„Es ist aus“, sage ich nur, und wende mich ab.
Die letzten Treppenstufen, um die Ecke, noch ein paar Stufen
und durch die Tür in den Vorraum des Kinos.
Das grelle Licht blendet mich. Ich blinzle und schaffe es
nicht, meine Schritte zu verlangsamen.
Der Kinosaal liegt im ersten Stock, über die lange Treppe
stolpere ich abwärts und nach draußen.
Sofort zucke ich zusammen. Scheiße, ist das kalt!
Ich ziehe den Hals ein und meine Hände in die Ärmel des
Pullovers.
Mein Blick geht in die Runde – es war nicht meine beste
Idee, mich ohne Jacke und Schal in einen kühlen Oktoberabend zu stürzen.
Frierend gehe ich weiter, bis ich Eriks Stimme höre.
„Steven! Deine Jacke!“
Ich drehe mich zu ihm um und sehe meinen besten Freund auf
mich zu rennen. Ein wenig atemlos kommt er vor mir an.
„Hier, bevor du erfrierst!“
Ich nicke schweigend und nehme ihm die Jacke ab. Schnell
anziehen, Schal um, vielleicht hört das Zittern dann bald auf, aber ich merke
schnell, dass die Daunenjacke die Kälte in meinem Inneren nicht vertreiben
kann.
„Scheiße, der Kerl spinnt doch!“, meckert Erik. „Soll ich
dich nach Hause bringen?“
Ich starre ihn an. In meine gemeinsame Wohnung mit Sandro?!
„Hey, nicht in deine Wohnung, ich meinte zu Geli und
Herbert.“
„Ja, bitte.“
Er ergreift mein Handgelenk und zieht mich mit zum
Parkplatz. Da mein Kumpel mich heute abgeholt hat, brauche ich immerhin nicht selbst
zu fahren.
Erik schiebt mich zur Beifahrertür und bleibt vor mir
stehen. Sein Blick ist traurig und wütend zugleich.
„Komm, ich bring dich zu deinen Eltern.“
Schwer sinke ich in den Sitz und schnalle mich an. Mein
Schniefen ist irrsinnig laut und ich wische mir mit dem Handrücken über die
Augen. Scheiße, ich heule!
„Steven!“, höre ich jemanden rufen, aber ich kann mich nicht
umwenden, will ich auch nicht.
Die Stimme gehört Sandro, ich kann sie durchs geschlossene
Fenster noch hören, als Erik vom Parkplatz auf die Straße setzt und wir
verschwinden.
Wir brauchen nicht besonders lange, um in den Vorort zu
gelangen, in dem meine Eltern leben, aber ich bekomme von der Fahrt nichts mit.
Mein blickloses Starren geht aus dem Fenster in die dunkle
Landschaft, irgendwie ist gerade alles egal.
In der Einfahrt meiner Eltern hält Erik an und steigt aus.
Er bringt mich zur Haustür und wirft mir immer wieder diese mitleidigen Blicke
zu.
Sicher, er weiß, wie sehr ich an Sandro hänge. Immerhin bin
ich seit fast einem Jahr mit ihm zusammen. Wir teilen uns ja sogar eine
Wohnung!
Meine Mutter öffnet auf Eriks Klingeln hin und sieht mich
besorgt an.
„Was ist passiert?!“, fragt sie meinen besten Freund, weil
sie von mir wohl keine Antwort erwartet.
„Wir haben Sandro gerade im Kino getroffen. Der Arsch geht
offensichtlich fremd“, erklärt Erik in abfälligem Ton, während ich
zusammenzucke.
Mama zieht mich an sich und in den Flur, Erik folgt uns und
unterhält sich mit ihr, als wäre ich nicht da.
Ist mir egal, ich will nicht reden, will nur leiden und mich
fragen, warum mir so etwas passiert.
Ich war doch glücklich mit Sandro! Wieso macht er so eine
Scheiße, wenn er behauptet, mich zu lieben?
~*~
Meine Eltern sind ziemlich sauer auf meinen frischen
Exfreund, aber sie geben mir in den kommenden Tagen genügend Rückhalt und Ruhe,
um so langsam wieder klarzukommen.
Ich habe mich geweigert, noch einmal mit Sandro zu sprechen,
obwohl er mich im Messenger, per SMS und telefonisch immer wieder genervt hat.
Am Anfang konnte ich nicht antworten, weil es zu weh tat,
dann wollte ich seine Nachrichten nicht einmal mehr lesen, und mittlerweile bin
ich einfach stinkwütend auf ihn.
Das bin ich, seitdem er mir vorgeworfen hat, etwas ‚so
Gutes’ wie unsere Beziehung und unsere Liebe einfach wegzuwerfen.
Dass ich nicht lache! Schließlich bin nicht ich auf die Idee
gekommen, mich zu belügen und zu hintergehen!
Die Vorlesungen fangen am kommenden Montag wieder an, aber
ich muss nur zwei davon besuchen, die glücklicherweise auf den gleichen Tag fallen.
Im gesamten Wintersemester muss ich nur mittwochs zur Uni,
die anderen Kurse habe ich alle hinter mir und auch sämtliche Nachweise schon
erbracht.
Ich studiere Rechtswissenschaften im siebten Semester und
schreibe im kommenden Sommersemester meine Klausuren für das erste
Staatsexamen.
Ja, ich bin ziemlich schnell und durch meinen Berufswunsch
auch darauf angewiesen, ein echter Streber zu sein. Als zukünftiger Richter musste
ich mir nämlich nicht nur den lokalen NC im Abi sichern, sondern auch mit
Bestnoten durchs Studium gehen.
Das habe ich bislang auch getan, aber jetzt bin ich wirklich
froh, dass ich Sandro, der nicht nur mein Freund war, sondern auch ein
Kommilitone ist, nicht ständig über den Weg laufen muss.
Meine Kurse belegt er erst im nächsten Semester. Ich glaube,
ich bin ihm für seine Faulheit in Sachen Studium gerade sehr dankbar.
Mir reicht schon, wenn er mir auf dem Campus begegnet.
Natürlich hat er bei meinen Eltern auf der Matte gestanden,
als er begriffen hat, dass ich nicht wieder in unsere Wohnung kommen würde,
aber da ich dort nicht mehr bin, ist alles gut.
Am kommenden Samstag holen wir meine Sachen aus der Wohnung,
ansonsten will ich ihn nie wiedersehen.
Ich wohne jetzt auf dem ‚Waldberg-Hof’ in einem anderen
Vorort der Stadt, und habe wieder eine eigene Wohnung.
Meine Oma, die ich seit jeher nur ‚Omama’ nenne,
bewirtschaftet mit dem ältesten Bruder meines Vaters den familiären Bauernhof,
der längst mehr als das ist.
Onkel Ferdinand hat vor fast zwanzig Jahren alles
übernommen, als mein Opapa gestorben ist.
Seitdem ist aus der kleinen Käserei, die meine Omama in
Handarbeit betrieben hat, ein stattliches Unternehmen mit großen
Produktionshallen geworden.
Ich stehe am Fenster meines Wohnzimmers im ersten Stock des
ursprünglichen Wohnhauses und blicke über den weitläufigen Innenhof.
Omas Haus, in dem sie, ein paar ledige Arbeiter und ich
wohnen, liegt etwas zurückgesetzt, rechts von der Einfahrt. Die rechte Seite
des asphaltierten Hofes zieren die hübschen, freistehenden Einfamilienhäuser meiner
Cousine und meines Onkels.
Neben
diesem Haus, in dem nur noch meine Oma, ein paar ledige Arbeiter und ich
wohnen, gibt es noch mehrere andere Wohngebäude. Hübsche, freistehende
Einfamilienhäuser, in denen meine Cousine und mein Onkel wohnen.[f1]
Jenseits des asphaltierten Hofes stehen die Stallungen und
zwei große Scheunen. Zu Zeiten meines Großvaters gab es hier nur Milchwirtschaft,
doch Onkel Ferdinand hat ganz richtig erkannt, dass damit allein auf Dauer kein
Staat mehr zu machen ist.
Deshalb führt ein breiter Weg neben den Scheunen, die als
Lagerplatz für Heu und unsere Autos dienen, zu den Produktionsstätten und der Reifungshalle.
Die Anlagen sind etwas zurückgelegt, um das Vieh nicht zu stören, da zahlreiche
Tanklastzüge Milch von den umliegenden Bauern anliefern.
Ich sehe gerade, wie einer der kleinen Lieferwagen mit dem
Aufdruck ‚Waldberg – Die Milchwichtel’ das Gelände verlässt, und grinse.
Ich mag den Namen!
Früh morgens bringen die Wagen, wie die Wichtel, die Milch,
den Joghurt und die Butter zu den Kunden, die auf der täglichen Lieferliste
stehen. Da wir hier doch recht ländlich leben, wird dieser Service sehr gut
angenommen, und man sieht unsere Autos immer wieder irgendwo herumfahren.
Die regionalen Supermärkte haben unsere Produkte ebenfalls
für sich entdeckt, weshalb man sämtliche Erzeugnisse von Waldberg auch dort in
den Kühltheken findet.
Ich sehe wieder zum Hof hinab und winke zurück, als mein
Onkel zu meinem Fenster sieht und den Arm hebt.
Ja, ich lebe gern hier, werde wohl auch bis zum Praktikum
nach dem Examen nicht mehr wegziehen.
Vielleicht liegt mein Wohlbefinden auch ein wenig daran,
dass ich das amtlich anerkannte Nesthäkchen unserer Sippe bin.
Ich glaube, meine heißgeliebte Omama könnte noch so viele
Urenkel bekommen, meinen Rang läuft mir niemand ab.
Alle denken, sie müssten mich beschützen und verhätscheln,
was für mich unbestrittene Vorteile mit sich bringt, schon immer!
Ich bin mit zwei älteren Brüdern und drei älteren Cousinen
und Cousins aufgewachsen, die allesamt wie Geschwister für mich sind.
Wenn es mir schlecht geht, so wie jetzt wegen Sandro, muss
ich jeden von ihnen bremsen, um nicht auf meinen Ex loszugehen.
Verdient hätte er es vielleicht, aber da ich nun mal ein
sehr gesetzestreuer Mensch bin, will ich naturgemäß verhindern, dass jemand aus
meiner Familie wegen mir straffällig wird.
Ich habe begriffen, dass Sandro ein Arschloch ist, und auch,
dass ich von ihm nichts anderes mehr erwarten darf.
Ich beschließe, zu Omama nach unten zu gehen, vielleicht
sind meine Cousins oder meine Tante dort?
Minuten später sitze ich an dem riesigen Tisch in Omamas Wohnküche
und habe eine heiße Schokolade vor mir. Eine Dose mit Keksen steht ebenfalls
auf der abgewetzten Tischplatte, weshalb ich mümmelnd und schlürfend dem
Gespräch der tatsächlich anwesenden anderen lausche.
„Du bist ein Fresssack, Steven, wie wäre es, wenn du die
Kekse mal rüberwachsen lässt?“, fragt Florian, das mittlere Kind von Ferdinand
und Silke.
Meine Tante schnaubt genervt. „Lass dir nichts gefallen,
Kleiner, wenn Omama dir die Kekse gegeben
hat, kann Flo etwas freundlicher darum bitten.“
Ich grinse meinen Cousin an und schiebe die Blechdose in
seine Richtung. „Will ja nicht, dass du armer Kerl verhungerst!“
Florian ist vier Jahre älter als ich, hat Ökotrophologie
studiert und arbeitet im Labor der Käserei, aber auch im Stall mit[f2] ,
seitdem er sein Diplom hat.
„Danke, Mann!“, quittiert er und greift nach dem ersten
Keks.
„Freust du dich schon darauf, bald all deine Sachen hier zu
haben?“, erkundigt sich Tante Silke und ich nicke.
„Mir graust davor, Sandro zu treffen, aber mein ganzes Zeug
will ich hier haben. Der Spinner geht mir seit zwei Wochen damit auf den Sack,
dass er noch mal reden will“, ich schnaube verächtlich, „als wenn es da noch
etwas zu besprechen gäbe ...“
„Er wird gemerkt haben, was er an dir hatte, mein Schatz“, vermutet
Omama und lächelt mich an. „Du verdienst was Besseres. Ich hoffe nur, dein
nächster Freund ist nicht wieder so ein Windei!“
Ich winke ab. „Kein Bedarf, Omama. Ich bin für’s Erste
kuriert von der Männerwelt.“
Sie kichert und ihre hellgrünen Augen blitzen. „Du hast ja
noch jede Menge Zeit, aber ich kenne auch deine Ungeduld.“
Ich seufze. Stimmt, jeder hier kennt meine Ungeduld. Ich bin
ja nicht aus Spaß fast ein Jahr vor allen anderen, die mit mir das Studium begonnen
haben, mit allem fertig. Neben meinem festen Willen, das Beste zu geben, will
ich immer auch schnell und möglichst effizient sein.
Deshalb nervt mich eigentlich auch sehr, dass ich in diesem
Semester so viel Zeit verliere, weil die zwei Kurse nur so selten angeboten
werden.
„In Sachen Männer war ich aber nie ungeduldig“, werfe ich
ein. „Kann ich was dafür, dass die mir nachlaufen?“
Florian lacht laut los. „Jetzt tu mal nicht so, als fändest
du das irgendwie schlimm! Wenn ich mich recht entsinne, warst du vor Sandro ein
echter Schwerenöter!“
Ich grinse breit. „Ich kann trotzdem nix dafür. Schließlich
hab ich mich nicht gemacht.“
„Niemand hat sich selbst gemacht, mein Schatz, aber bei dir hat
der liebe Gott einfach beschlossen, dass ein schlaues Köpfchen auch hübsch sein
darf.“ Omama streichelt meine Wange und lächelt mich an.
Sie hat schon recht, ich habe wirklich Glück gehabt. Keine
Pickelnarben, eine sehr gerade Nase, keine Segelohren, aber hübsch kann ich
mich trotzdem nicht finden.
Nun gut, es reicht ja auch, wenn das jeweilige männliche
Gegenüber, auf das ich ein Auge geworfen habe, ihr zustimmt.
Ich habe die gleichen Augen wie Omama. Vielleicht war ich
deshalb Opapas Liebling, bis zu seinem Tod?
Er starb, als ich gerade mal fünf war. Ich kann mich kaum an
ihn erinnern, aber dafür haben alle anderen die Tradition fortgesetzt, nach der
ich das Nesthäkchen bin.
Ich glaube, ich könnte zwei Meter groß sein, sie würden mich
dennoch ‚Kleiner’ nennen.
In Wahrheit bin ich nicht so groß, habe es nur auf
einsachtzig gebracht, aber die reichen mir auch. Ich mag meine Körpergröße.
Mir reicht ein normal langes Bett, ich kriege fast überall
passende Klamotten und falle in Menschenmengen nicht weiter auf.
Hat also durchaus seine Vorteile, nicht gerade ein Riese zu
sein.
Nachdem ich meine heiße Schokolade ausgeschlürft und Florian
noch zwei Kekse abgeluchst habe, beschließe ich, meiner Cousine einen Besuch
abzustatten.
Lisa ist seit jeher meine engste Vertraute. Mit ihr rede ich
über Männer, über Probleme und irgendwie über alles. Wenn ich shoppen gehen
will, schleppe ich sie mit. Man könnte also sagen, die älteste Tochter von
Silke und Ferdinand ist meine Schwulenmutti.
Ist natürlich Blödsinn und sie hasst es, wenn ich sie im
Spaß so nenne, aber sie ist nun mal das einzige Mädchen in der Familie, mit dem
ich über alles reden will.
Lisa wohnt in einem schmucken Einfamilienhäuschen auf dem
Hofgelände, zusammen mit ihrem Mann Mattes und ihren Kindern Maya und Marian.
Als ich damals herausfand, dass ich Jungs viel spannender
finde als Mädchen, war sie diejenige, mit der ich darüber geredet habe. Ich
erinnere mich gut daran, dass sie mich und meine Ängste besänftigt hat. Lisa
ist einfach toll!
Sie sagte: „Es ist schön, dass du du selbst bist, Steven. Niemand
in der Familie wird jemals etwas anderes von dir verlangen. Ich bin mir sicher,
dass alle voll hinter dir stehen.“
Damit hatte sie recht. Sie hat mich ermutigt, offen damit
umzugehen, dass ich schwul bin, weil ich es nicht nötig hätte, mich oder meine
Vorlieben zu verstecken, um anderen zu gefallen.
Deshalb war Erik der Zweite, dem ich es gesagt habe. Er hat
mich angegrinst, mir auf die Schulter geklopft, und sich sehr erleichtert
gezeigt, dass ich ihm wegen meiner Ausrichtung niemals eines der Mädchen
streitig machen würde, die er toll findet.
Das hat mich sehr beruhigt, so dass ich anschließend
wirklich allen offen entgegentreten konnte, und nie in der misslichen Lage war,
meine Neigung zu Männern verheimlichen zu müssen.
Ich bin schließlich weder krank noch ansteckend, nur weil
ich Männerhintern sexy finde und mir die Vorstellung von einem steifen Schwanz
in meiner Hand besser gefällt, als die von Brüsten.
~*~
Vier Wochen ist es her, dass ich Sandro erwischt habe. Ein
Teil meiner Möbel steht nun in der Scheune, die als Garage für sämtliche
Fahrzeuge auf dem Hof dient. Alles, was in den Möbeln war, ist in meiner
Zwei-Zimmer-Wohnung in Omamas Haus gelandet.
Hier sitze ich nun am Schreibtisch und wälze meine Gesetze,
weil ich heute in den Vorlesungen einiges Neues gelernt habe, das ich nun
nachlesen und mir merken will.
Die Abschrift meiner Notizen liegt neben mir, jetzt füge ich
nur noch mit einem grünen Stift die Paragraphen und Artikel hinzu, die ich
ebenfalls für wichtig halte.
Als es an der Wohnungstür klopft, rufe ich nur „Herein!“.
Mein Onkel erscheint in der geöffneten Tür. „Steven, hast du
ein paar Minuten?“
„Sicher, komm rein!“, sage ich und winke ihn durch den Flur
zu mir ins Wohnzimmer.
Er setzt sich auf einen Stuhl und mustert mich.
„Was ist los?“, frage ich deshalb.
„Hm“, macht er und seufzt. „Ich mache mir Sorgen um dich,
Kleiner. Du vergräbst dich neuerdings hier und kommst überhaupt nicht mehr
unter Leute, wenn du nicht gerade mittwochs zu deinen Vorlesungen fährst.“
Ich nicke. „Stimmt. Mir steht der Sinn auch nicht großartig
nach Gesellschaft.“
Er grinst und kratzt sich hinterm Ohr. „Dabei hätte ich
einen kleinen Job für dich.“
Im Verlaufe der nächsten Viertelstunde erklärt er mir, dass
die Eisbahn, die er vor ein paar Jahren angeschafft hat, in diesem Winter in
unserer Stadt stehen wird. Genauer gesagt, auf dem Gelände am Freizeitpark.
Der Freizeitpark ist nichts tierisch Aufregendes wie De Efteling
oder Phantasialand, sondern bloß ein Naherholungsgebiet mit zwei riesigen Seen,
einer Kletterhalle, Minigolf und Tennisplätzen.
Wie er mir nun erklärt, plant die Stadt auf dem Areal vor
dem südlichen See die sogenannte WinterWorld.
Neben der Eisbahn, mit dazugehörigem Schlittschuhverleih,
wird dort eine Art Weihnachtsmarkt ohne Kitsch entstehen. Ein Winterdorf, in
dem man ziemlich viele winterliche Sportarten ausüben kann.
Wir leben hier auf dem platten Land am Niederrhein, hier
gibt es nicht einmal einen Rodelberg, sofern es überhaupt Schnee gibt.
Entsprechend wird die WinterWorld wohl ein ziemlicher
Publikumsmagnet werden ...
„Nächste Woche geht es los, und ich brauche noch einen
zweiten Mann, der dort den Verleih und die Eispflege macht“, beendet Ferdinand
seinen Bericht und ich spüre eher, als dass ich es bewusst tue, dass ich nicke.
„Klingt machbar, nur mittwochs kann ich halt nicht.“
Stundenlohn und Arbeitszeiten, auch das benötigte Arbeitspensum
werden mich gleichermaßen ablenken und beschäftigen. Jeden Tag ist die
WinterWorld von zehn Uhr morgens bis Mitternacht geöffnet, was bedeutet, dass
ich ziemlich wenig Schlaf bekommen werde.
Aber, so versichert mir mein Onkel, ich werde während der
Öffnungszeiten recht viel Leerlauf haben, da die meisten Besucher gegen den
späten Nachmittag erwartet werden.
Viele müssen ja arbeiten, die Schulkinder sitzen noch im
Unterricht, es sollte also wirklich nicht zu anstrengend werden.
„Ist in Ordnung. Du hast bestimmt recht und die Ablenkung
wird mir gut tun. Außerdem arbeite ich gern mit Lisa!“
Das stimmt, denn meine Cousine ist die zweite Arbeitskraft
für die Schlittschuhbahn.
Da ihre Kinder von Mattes und Silke gut versorgt werden, hat
Lisa sich freiwillig gemeldet, um den Dienst zu machen.
Bis ins neue Jahr wird dieser Winterthemenpark geöffnet
sein, so dass ich drei Monate lang dort arbeiten kann.
„An jedem zweiten Wochenende übernehmen Franz und Flo für
euch, hin und wieder wollen auch Geli und Silke einspringen“, erklärt er mir
weiter.
„Mama will auch helfen?!“, wundere ich mich.
Er nickt. „Sie ist ganz begeistert von der WinterWorld. Wird
daran liegen, dass sie im Planungskommitee sitzt, meinst du nicht?“
Jetzt, wo er es sagt, erinnere ich mich vage daran, dass
Mama hin und wieder etwas von einem winterlichen Themenpark erzählt hat, wenn
ich am Wochenende bei meinen Eltern war.
Meine Mutter ist eigentlich Innenarchitektin, aber sie
arbeitet nebenbei als Beraterin für das Stadtmarketing.
„Die Hütte ist aber beheizt, oder?“, frage ich misstrauisch
und ernte ein Lachen.
„Glaubst du wirklich, ich würde die Frostbeule der Familie
im Kalten sitzen lassen? Es wäre übrigens sehr nett von dir, wenn du Florian
sagen würdest, dass du mich danach gefragt hast. Bringt mir ein freies
Wochenende!“
Ich schüttle den Kopf. „Ihr seid alle wettsüchtig!“, sage
ich und lache.
„Du bist aus der Art geschlagen, Kleiner. Jeder hier wettet,
das gehört sich so!“
Er verabschiedet sich bald darauf und überlässt mich wieder
meinen Studien. Doch kann ich mich aufgrund dieser Neuigkeiten kaum noch
konzentrieren.
Immer wieder schweifen meine Gedanken zur WinterWorld und
dem neuen Tagesablauf, der sich mir dadurch bietet.
Zugegebenermaßen ist mir von donnerstags bis dienstags
durchaus die Decke auf den Kopf gefallen. Das bringt der Wunsch, möglichst
niemanden zu sehen, so mit sich.
So sehr, dass ich freiwillig bei der abendlichen Fütterung
geholfen habe, und das soll echt was heißen.
Ich mag Kühe zwar, aber der Gestank den ihre Hinterlassenschaften verströmen, wenn die Umwälz- und Transportanlage für den Kuhmist anläuft, ist nicht gerade erträglich ...
© Nathan Jaeger
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