Samstag, 6. November 2021

[Leseprobe] Eiszeit

 Leseprobe 

Kapitel 1 – Kino mit Überraschung

„Steven, sag mal, ist das da vorn nicht Sandro?“ Erik, mein bester Freund, deutet durch das Dunkel des Kinosaals. Ich blicke in die Richtung und kneife die Augen zusammen, um zu erkennen, wen er meint.

Als die Leinwand heller wird und das Licht auf uns alle abstrahlt, nicke ich und spüre zeitgleich, wie mein Magen sich umdrehen will.

Da drüben, drei Reihen vor uns und schräg links neben der Treppe, sitzt mein Freund Sandro, der eigentlich gerade mit seinen Kommilitonen in einer Lerngruppe sein sollte.

Zumindest hat er mir das heute Morgen beim gemeinsamen Frühstück gesagt!

Bevor ich es richtig begreife, stehe ich auf und quetsche mich zur Treppe durch, gehe die zwei Stufen hinab und lasse meinen Freund dabei nicht aus den Augen.

Auch wenn das Licht sich immer wieder verändert, sehe ich sehr deutlich, dass Sandro mit dem Typen neben sich knutscht und fummelt. Ich will das nicht sehen! Will ... ja, was eigentlich?

Mein Hirn steuert meinen Körper per Autopilot, und erst als ich den großen Becher mit Sprite über dem knutschenden Pärchen umdrehe, kapiere ich, dass ich mein Getränk noch in der Hand habe.

Der Becher fällt hinter seinem Inhalt her, Tumult bricht los und Sandro schnauzt mich schockiert an.

„Es ist aus“, sage ich nur, und wende mich ab.

Die letzten Treppenstufen, um die Ecke, noch ein paar Stufen und durch die Tür in den Vorraum des Kinos.

Das grelle Licht blendet mich. Ich blinzle und schaffe es nicht, meine Schritte zu verlangsamen.

Der Kinosaal liegt im ersten Stock, über die lange Treppe stolpere ich abwärts und nach draußen.

Sofort zucke ich zusammen. Scheiße, ist das kalt!

Ich ziehe den Hals ein und meine Hände in die Ärmel des Pullovers.

Mein Blick geht in die Runde – es war nicht meine beste Idee, mich ohne Jacke und Schal in einen kühlen Oktoberabend zu stürzen.

Frierend gehe ich weiter, bis ich Eriks Stimme höre.

„Steven! Deine Jacke!“

Ich drehe mich zu ihm um und sehe meinen besten Freund auf mich zu rennen. Ein wenig atemlos kommt er vor mir an.

„Hier, bevor du erfrierst!“

Ich nicke schweigend und nehme ihm die Jacke ab. Schnell anziehen, Schal um, vielleicht hört das Zittern dann bald auf, aber ich merke schnell, dass die Daunenjacke die Kälte in meinem Inneren nicht vertreiben kann.

„Scheiße, der Kerl spinnt doch!“, meckert Erik. „Soll ich dich nach Hause bringen?“

Ich starre ihn an. In meine gemeinsame Wohnung mit Sandro?!

„Hey, nicht in deine Wohnung, ich meinte zu Geli und Herbert.“

„Ja, bitte.“

Er ergreift mein Handgelenk und zieht mich mit zum Parkplatz. Da mein Kumpel mich heute abgeholt hat, brauche ich immerhin nicht selbst zu fahren.

Erik schiebt mich zur Beifahrertür und bleibt vor mir stehen. Sein Blick ist traurig und wütend zugleich.

„Komm, ich bring dich zu deinen Eltern.“

Schwer sinke ich in den Sitz und schnalle mich an. Mein Schniefen ist irrsinnig laut und ich wische mir mit dem Handrücken über die Augen. Scheiße, ich heule!

„Steven!“, höre ich jemanden rufen, aber ich kann mich nicht umwenden, will ich auch nicht.

Die Stimme gehört Sandro, ich kann sie durchs geschlossene Fenster noch hören, als Erik vom Parkplatz auf die Straße setzt und wir verschwinden.

Wir brauchen nicht besonders lange, um in den Vorort zu gelangen, in dem meine Eltern leben, aber ich bekomme von der Fahrt nichts mit.

Mein blickloses Starren geht aus dem Fenster in die dunkle Landschaft, irgendwie ist gerade alles egal.

In der Einfahrt meiner Eltern hält Erik an und steigt aus. Er bringt mich zur Haustür und wirft mir immer wieder diese mitleidigen Blicke zu.

Sicher, er weiß, wie sehr ich an Sandro hänge. Immerhin bin ich seit fast einem Jahr mit ihm zusammen. Wir teilen uns ja sogar eine Wohnung!

Meine Mutter öffnet auf Eriks Klingeln hin und sieht mich besorgt an.

„Was ist passiert?!“, fragt sie meinen besten Freund, weil sie von mir wohl keine Antwort erwartet.

„Wir haben Sandro gerade im Kino getroffen. Der Arsch geht offensichtlich fremd“, erklärt Erik in abfälligem Ton, während ich zusammenzucke.

Mama zieht mich an sich und in den Flur, Erik folgt uns und unterhält sich mit ihr, als wäre ich nicht da.

Ist mir egal, ich will nicht reden, will nur leiden und mich fragen, warum mir so etwas passiert.

Ich war doch glücklich mit Sandro! Wieso macht er so eine Scheiße, wenn er behauptet, mich zu lieben?

~*~

Meine Eltern sind ziemlich sauer auf meinen frischen Exfreund, aber sie geben mir in den kommenden Tagen genügend Rückhalt und Ruhe, um so langsam wieder klarzukommen.

Ich habe mich geweigert, noch einmal mit Sandro zu sprechen, obwohl er mich im Messenger, per SMS und telefonisch immer wieder genervt hat.

Am Anfang konnte ich nicht antworten, weil es zu weh tat, dann wollte ich seine Nachrichten nicht einmal mehr lesen, und mittlerweile bin ich einfach stinkwütend auf ihn.

Das bin ich, seitdem er mir vorgeworfen hat, etwas ‚so Gutes’ wie unsere Beziehung und unsere Liebe einfach wegzuwerfen.

Dass ich nicht lache! Schließlich bin nicht ich auf die Idee gekommen, mich zu belügen und zu hintergehen!

Die Vorlesungen fangen am kommenden Montag wieder an, aber ich muss nur zwei davon besuchen, die glücklicherweise auf den gleichen Tag fallen.

Im gesamten Wintersemester muss ich nur mittwochs zur Uni, die anderen Kurse habe ich alle hinter mir und auch sämtliche Nachweise schon erbracht.

Ich studiere Rechtswissenschaften im siebten Semester und schreibe im kommenden Sommersemester meine Klausuren für das erste Staatsexamen.

Ja, ich bin ziemlich schnell und durch meinen Berufswunsch auch darauf angewiesen, ein echter Streber zu sein. Als zukünftiger Richter musste ich mir nämlich nicht nur den lokalen NC im Abi sichern, sondern auch mit Bestnoten durchs Studium gehen.

Das habe ich bislang auch getan, aber jetzt bin ich wirklich froh, dass ich Sandro, der nicht nur mein Freund war, sondern auch ein Kommilitone ist, nicht ständig über den Weg laufen muss.

Meine Kurse belegt er erst im nächsten Semester. Ich glaube, ich bin ihm für seine Faulheit in Sachen Studium gerade sehr dankbar.

Mir reicht schon, wenn er mir auf dem Campus begegnet.

Natürlich hat er bei meinen Eltern auf der Matte gestanden, als er begriffen hat, dass ich nicht wieder in unsere Wohnung kommen würde, aber da ich dort nicht mehr bin, ist alles gut.

Am kommenden Samstag holen wir meine Sachen aus der Wohnung, ansonsten will ich ihn nie wiedersehen.

Ich wohne jetzt auf dem ‚Waldberg-Hof’ in einem anderen Vorort der Stadt, und habe wieder eine eigene Wohnung.

Meine Oma, die ich seit jeher nur ‚Omama’ nenne, bewirtschaftet mit dem ältesten Bruder meines Vaters den familiären Bauernhof, der längst mehr als das ist.

Onkel Ferdinand hat vor fast zwanzig Jahren alles übernommen, als mein Opapa gestorben ist.

Seitdem ist aus der kleinen Käserei, die meine Omama in Handarbeit betrieben hat, ein stattliches Unternehmen mit großen Produktionshallen geworden.

Ich stehe am Fenster meines Wohnzimmers im ersten Stock des ursprünglichen Wohnhauses und blicke über den weitläufigen Innenhof.

Omas Haus, in dem sie, ein paar ledige Arbeiter und ich wohnen, liegt etwas zurückgesetzt, rechts von der Einfahrt. Die rechte Seite des asphaltierten Hofes zieren die hübschen, freistehenden Einfamilienhäuser meiner Cousine und meines Onkels.

 

Neben diesem Haus, in dem nur noch meine Oma, ein paar ledige Arbeiter und ich wohnen, gibt es noch mehrere andere Wohngebäude. Hübsche, freistehende Einfamilienhäuser, in denen meine Cousine und mein Onkel wohnen.[f1] 

Jenseits des asphaltierten Hofes stehen die Stallungen und zwei große Scheunen. Zu Zeiten meines Großvaters gab es hier nur Milchwirtschaft, doch Onkel Ferdinand hat ganz richtig erkannt, dass damit allein auf Dauer kein Staat mehr zu machen ist.

Deshalb führt ein breiter Weg neben den Scheunen, die als Lagerplatz für Heu und unsere Autos dienen, zu den Produktionsstätten und der Reifungshalle. Die Anlagen sind etwas zurückgelegt, um das Vieh nicht zu stören, da zahlreiche Tanklastzüge Milch von den umliegenden Bauern anliefern.

Ich sehe gerade, wie einer der kleinen Lieferwagen mit dem Aufdruck ‚Waldberg – Die Milchwichtel’ das Gelände verlässt, und grinse.

Ich mag den Namen!

Früh morgens bringen die Wagen, wie die Wichtel, die Milch, den Joghurt und die Butter zu den Kunden, die auf der täglichen Lieferliste stehen. Da wir hier doch recht ländlich leben, wird dieser Service sehr gut angenommen, und man sieht unsere Autos immer wieder irgendwo herumfahren.

Die regionalen Supermärkte haben unsere Produkte ebenfalls für sich entdeckt, weshalb man sämtliche Erzeugnisse von Waldberg auch dort in den Kühltheken findet.

Ich sehe wieder zum Hof hinab und winke zurück, als mein Onkel zu meinem Fenster sieht und den Arm hebt.

Ja, ich lebe gern hier, werde wohl auch bis zum Praktikum nach dem Examen nicht mehr wegziehen.

Vielleicht liegt mein Wohlbefinden auch ein wenig daran, dass ich das amtlich anerkannte Nesthäkchen unserer Sippe bin.

Ich glaube, meine heißgeliebte Omama könnte noch so viele Urenkel bekommen, meinen Rang läuft mir niemand ab.

Alle denken, sie müssten mich beschützen und verhätscheln, was für mich unbestrittene Vorteile mit sich bringt, schon immer!

Ich bin mit zwei älteren Brüdern und drei älteren Cousinen und Cousins aufgewachsen, die allesamt wie Geschwister für mich sind.

Wenn es mir schlecht geht, so wie jetzt wegen Sandro, muss ich jeden von ihnen bremsen, um nicht auf meinen Ex loszugehen.

Verdient hätte er es vielleicht, aber da ich nun mal ein sehr gesetzestreuer Mensch bin, will ich naturgemäß verhindern, dass jemand aus meiner Familie wegen mir straffällig wird.

Ich habe begriffen, dass Sandro ein Arschloch ist, und auch, dass ich von ihm nichts anderes mehr erwarten darf.

Ich beschließe, zu Omama nach unten zu gehen, vielleicht sind meine Cousins oder meine Tante dort?

Minuten später sitze ich an dem riesigen Tisch in Omamas Wohnküche und habe eine heiße Schokolade vor mir. Eine Dose mit Keksen steht ebenfalls auf der abgewetzten Tischplatte, weshalb ich mümmelnd und schlürfend dem Gespräch der tatsächlich anwesenden anderen lausche.

„Du bist ein Fresssack, Steven, wie wäre es, wenn du die Kekse mal rüberwachsen lässt?“, fragt Florian, das mittlere Kind von Ferdinand und Silke.

Meine Tante schnaubt genervt. „Lass dir nichts gefallen, Kleiner, wenn Omama dir die Kekse gegeben hat, kann Flo etwas freundlicher darum bitten.“

Ich grinse meinen Cousin an und schiebe die Blechdose in seine Richtung. „Will ja nicht, dass du armer Kerl verhungerst!“

Florian ist vier Jahre älter als ich, hat Ökotrophologie studiert und arbeitet im Labor der Käserei, aber auch im Stall mit[f2] , seitdem er sein Diplom hat.

„Danke, Mann!“, quittiert er und greift nach dem ersten Keks.

„Freust du dich schon darauf, bald all deine Sachen hier zu haben?“, erkundigt sich Tante Silke und ich nicke.

„Mir graust davor, Sandro zu treffen, aber mein ganzes Zeug will ich hier haben. Der Spinner geht mir seit zwei Wochen damit auf den Sack, dass er noch mal reden will“, ich schnaube verächtlich, „als wenn es da noch etwas zu besprechen gäbe ...“

„Er wird gemerkt haben, was er an dir hatte, mein Schatz“, vermutet Omama und lächelt mich an. „Du verdienst was Besseres. Ich hoffe nur, dein nächster Freund ist nicht wieder so ein Windei!“

Ich winke ab. „Kein Bedarf, Omama. Ich bin für’s Erste kuriert von der Männerwelt.“

Sie kichert und ihre hellgrünen Augen blitzen. „Du hast ja noch jede Menge Zeit, aber ich kenne auch deine Ungeduld.“

Ich seufze. Stimmt, jeder hier kennt meine Ungeduld. Ich bin ja nicht aus Spaß fast ein Jahr vor allen anderen, die mit mir das Studium begonnen haben, mit allem fertig. Neben meinem festen Willen, das Beste zu geben, will ich immer auch schnell und möglichst effizient sein.

Deshalb nervt mich eigentlich auch sehr, dass ich in diesem Semester so viel Zeit verliere, weil die zwei Kurse nur so selten angeboten werden.

„In Sachen Männer war ich aber nie ungeduldig“, werfe ich ein. „Kann ich was dafür, dass die mir nachlaufen?“

Florian lacht laut los. „Jetzt tu mal nicht so, als fändest du das irgendwie schlimm! Wenn ich mich recht entsinne, warst du vor Sandro ein echter Schwerenöter!“

Ich grinse breit. „Ich kann trotzdem nix dafür. Schließlich hab ich mich nicht gemacht.“

„Niemand hat sich selbst gemacht, mein Schatz, aber bei dir hat der liebe Gott einfach beschlossen, dass ein schlaues Köpfchen auch hübsch sein darf.“ Omama streichelt meine Wange und lächelt mich an.

Sie hat schon recht, ich habe wirklich Glück gehabt. Keine Pickelnarben, eine sehr gerade Nase, keine Segelohren, aber hübsch kann ich mich trotzdem nicht finden.

Nun gut, es reicht ja auch, wenn das jeweilige männliche Gegenüber, auf das ich ein Auge geworfen habe, ihr zustimmt.

Ich habe die gleichen Augen wie Omama. Vielleicht war ich deshalb Opapas Liebling, bis zu seinem Tod?

Er starb, als ich gerade mal fünf war. Ich kann mich kaum an ihn erinnern, aber dafür haben alle anderen die Tradition fortgesetzt, nach der ich das Nesthäkchen bin.

Ich glaube, ich könnte zwei Meter groß sein, sie würden mich dennoch ‚Kleiner’ nennen.

In Wahrheit bin ich nicht so groß, habe es nur auf einsachtzig gebracht, aber die reichen mir auch. Ich mag meine Körpergröße.

Mir reicht ein normal langes Bett, ich kriege fast überall passende Klamotten und falle in Menschenmengen nicht weiter auf.

Hat also durchaus seine Vorteile, nicht gerade ein Riese zu sein.

Nachdem ich meine heiße Schokolade ausgeschlürft und Florian noch zwei Kekse abgeluchst habe, beschließe ich, meiner Cousine einen Besuch abzustatten.

Lisa ist seit jeher meine engste Vertraute. Mit ihr rede ich über Männer, über Probleme und irgendwie über alles. Wenn ich shoppen gehen will, schleppe ich sie mit. Man könnte also sagen, die älteste Tochter von Silke und Ferdinand ist meine Schwulenmutti.

Ist natürlich Blödsinn und sie hasst es, wenn ich sie im Spaß so nenne, aber sie ist nun mal das einzige Mädchen in der Familie, mit dem ich über alles reden will.

Lisa wohnt in einem schmucken Einfamilienhäuschen auf dem Hofgelände, zusammen mit ihrem Mann Mattes und ihren Kindern Maya und Marian.

Als ich damals herausfand, dass ich Jungs viel spannender finde als Mädchen, war sie diejenige, mit der ich darüber geredet habe. Ich erinnere mich gut daran, dass sie mich und meine Ängste besänftigt hat. Lisa ist einfach toll!

Sie sagte: „Es ist schön, dass du du selbst bist, Steven. Niemand in der Familie wird jemals etwas anderes von dir verlangen. Ich bin mir sicher, dass alle voll hinter dir stehen.“

Damit hatte sie recht. Sie hat mich ermutigt, offen damit umzugehen, dass ich schwul bin, weil ich es nicht nötig hätte, mich oder meine Vorlieben zu verstecken, um anderen zu gefallen.

Deshalb war Erik der Zweite, dem ich es gesagt habe. Er hat mich angegrinst, mir auf die Schulter geklopft, und sich sehr erleichtert gezeigt, dass ich ihm wegen meiner Ausrichtung niemals eines der Mädchen streitig machen würde, die er toll findet.

Das hat mich sehr beruhigt, so dass ich anschließend wirklich allen offen entgegentreten konnte, und nie in der misslichen Lage war, meine Neigung zu Männern verheimlichen zu müssen.

Ich bin schließlich weder krank noch ansteckend, nur weil ich Männerhintern sexy finde und mir die Vorstellung von einem steifen Schwanz in meiner Hand besser gefällt, als die von Brüsten.

~*~

Vier Wochen ist es her, dass ich Sandro erwischt habe. Ein Teil meiner Möbel steht nun in der Scheune, die als Garage für sämtliche Fahrzeuge auf dem Hof dient. Alles, was in den Möbeln war, ist in meiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Omamas Haus gelandet.

Hier sitze ich nun am Schreibtisch und wälze meine Gesetze, weil ich heute in den Vorlesungen einiges Neues gelernt habe, das ich nun nachlesen und mir merken will.

Die Abschrift meiner Notizen liegt neben mir, jetzt füge ich nur noch mit einem grünen Stift die Paragraphen und Artikel hinzu, die ich ebenfalls für wichtig halte.

Als es an der Wohnungstür klopft, rufe ich nur „Herein!“.

Mein Onkel erscheint in der geöffneten Tür. „Steven, hast du ein paar Minuten?“

„Sicher, komm rein!“, sage ich und winke ihn durch den Flur zu mir ins Wohnzimmer.

Er setzt sich auf einen Stuhl und mustert mich.

„Was ist los?“, frage ich deshalb.

„Hm“, macht er und seufzt. „Ich mache mir Sorgen um dich, Kleiner. Du vergräbst dich neuerdings hier und kommst überhaupt nicht mehr unter Leute, wenn du nicht gerade mittwochs zu deinen Vorlesungen fährst.“

Ich nicke. „Stimmt. Mir steht der Sinn auch nicht großartig nach Gesellschaft.“

Er grinst und kratzt sich hinterm Ohr. „Dabei hätte ich einen kleinen Job für dich.“

Im Verlaufe der nächsten Viertelstunde erklärt er mir, dass die Eisbahn, die er vor ein paar Jahren angeschafft hat, in diesem Winter in unserer Stadt stehen wird. Genauer gesagt, auf dem Gelände am Freizeitpark.

Der Freizeitpark ist nichts tierisch Aufregendes wie De Efteling oder Phantasialand, sondern bloß ein Naherholungsgebiet mit zwei riesigen Seen, einer Kletterhalle, Minigolf und Tennisplätzen.

Wie er mir nun erklärt, plant die Stadt auf dem Areal vor dem südlichen See die sogenannte WinterWorld.

Neben der Eisbahn, mit dazugehörigem Schlittschuhverleih, wird dort eine Art Weihnachtsmarkt ohne Kitsch entstehen. Ein Winterdorf, in dem man ziemlich viele winterliche Sportarten ausüben kann.

Wir leben hier auf dem platten Land am Niederrhein, hier gibt es nicht einmal einen Rodelberg, sofern es überhaupt Schnee gibt.

Entsprechend wird die WinterWorld wohl ein ziemlicher Publikumsmagnet werden ...

„Nächste Woche geht es los, und ich brauche noch einen zweiten Mann, der dort den Verleih und die Eispflege macht“, beendet Ferdinand seinen Bericht und ich spüre eher, als dass ich es bewusst tue, dass ich nicke.

„Klingt machbar, nur mittwochs kann ich halt nicht.“

Stundenlohn und Arbeitszeiten, auch das benötigte Arbeitspensum werden mich gleichermaßen ablenken und beschäftigen. Jeden Tag ist die WinterWorld von zehn Uhr morgens bis Mitternacht geöffnet, was bedeutet, dass ich ziemlich wenig Schlaf bekommen werde.

Aber, so versichert mir mein Onkel, ich werde während der Öffnungszeiten recht viel Leerlauf haben, da die meisten Besucher gegen den späten Nachmittag erwartet werden.

Viele müssen ja arbeiten, die Schulkinder sitzen noch im Unterricht, es sollte also wirklich nicht zu anstrengend werden.

„Ist in Ordnung. Du hast bestimmt recht und die Ablenkung wird mir gut tun. Außerdem arbeite ich gern mit Lisa!“

Das stimmt, denn meine Cousine ist die zweite Arbeitskraft für die Schlittschuhbahn.

Da ihre Kinder von Mattes und Silke gut versorgt werden, hat Lisa sich freiwillig gemeldet, um den Dienst zu machen.

Bis ins neue Jahr wird dieser Winterthemenpark geöffnet sein, so dass ich drei Monate lang dort arbeiten kann.

„An jedem zweiten Wochenende übernehmen Franz und Flo für euch, hin und wieder wollen auch Geli und Silke einspringen“, erklärt er mir weiter.

„Mama will auch helfen?!“, wundere ich mich.

Er nickt. „Sie ist ganz begeistert von der WinterWorld. Wird daran liegen, dass sie im Planungskommitee sitzt, meinst du nicht?“

Jetzt, wo er es sagt, erinnere ich mich vage daran, dass Mama hin und wieder etwas von einem winterlichen Themenpark erzählt hat, wenn ich am Wochenende bei meinen Eltern war.

Meine Mutter ist eigentlich Innenarchitektin, aber sie arbeitet nebenbei als Beraterin für das Stadtmarketing.

„Die Hütte ist aber beheizt, oder?“, frage ich misstrauisch und ernte ein Lachen.

„Glaubst du wirklich, ich würde die Frostbeule der Familie im Kalten sitzen lassen? Es wäre übrigens sehr nett von dir, wenn du Florian sagen würdest, dass du mich danach gefragt hast. Bringt mir ein freies Wochenende!“

Ich schüttle den Kopf. „Ihr seid alle wettsüchtig!“, sage ich und lache.

„Du bist aus der Art geschlagen, Kleiner. Jeder hier wettet, das gehört sich so!“

Er verabschiedet sich bald darauf und überlässt mich wieder meinen Studien. Doch kann ich mich aufgrund dieser Neuigkeiten kaum noch konzentrieren.

Immer wieder schweifen meine Gedanken zur WinterWorld und dem neuen Tagesablauf, der sich mir dadurch bietet.

Zugegebenermaßen ist mir von donnerstags bis dienstags durchaus die Decke auf den Kopf gefallen. Das bringt der Wunsch, möglichst niemanden zu sehen, so mit sich.

So sehr, dass ich freiwillig bei der abendlichen Fütterung geholfen habe, und das soll echt was heißen.

Ich mag Kühe zwar, aber der Gestank den ihre Hinterlassenschaften verströmen, wenn die Umwälz- und Transportanlage für den Kuhmist anläuft, ist nicht gerade erträglich ...

© Nathan Jaeger

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