Samstag, 6. November 2021

[Leseprobe] Ofenfrisch

 Leseprobe

Kapitel 1

Ich dürfte nicht murren, wenn mich der Wecker um 2:30 Uhr aus den Federn holt, dennoch erscheint mir die Musik, die das Radio zum Wachwerden liefert, einfach nur nervtötend.

Hastig wechsle ich ins Badezimmer. Rasieren, duschen, anziehen.

Es hat seine Vorteile, Berufsbekleidung zu tragen. Eine Pepita-Hose, ein weißes T-Shirt und die weiße Mütze trage ich ausschließlich in der Backstube.

Mit wenigen, schnellen Griffen binde ich meine quietschblau gefärbten, schulterlangen Haare zu einem strengen Nackenzopf und setze die Mütze auf.

Ein Kaffee, dann muss ich runter in den langen Anbau des Hauses, in dem mein höchstpersönlicher Arbeitsplatz liegt.

Öfen anschalten, Teige anrühren, die bereits gestern angefertigten Brot-Teiglinge, die nach dem Gehen im Kühlhaus gelandet sind, müssen zuerst in den Ofen.

Frisches Brot und noch frischere Brötchen, das sind die Dinge, die meine Kundschaft gerne erwarten darf – und auch ebenso gern bekommt.

Ich bin gerade dabei, die Teigteil- und Wirkmaschine neu zu bestücken, als Margarethe, meine Gehilfin und gleichzeitig eine der Bäckereifachverkäuferinnen für den Laden vorn, mit den Salatbeilagen für die belegten Brötchen erscheint.

Jeden Abend kauft sie Salat, Tomaten und alles, was nicht mehr im Lager liegt, beim Großhandel im Ort ein, um es am nächsten Morgen mitzubringen.

„Guten Morgen, Tio!“, grüßt sie und ich lächle sie strahlend an. Längst ist meine schlechte Laune davongeweht. Vermutlich zusammen mit dem Duft frischer Backwaren durch die Lüftung gesogen.

„Guten Morgen, Maggy. Du bist aber heute früh dran!“ Ich blicke zur Uhr, die über dem Knettisch an der Wand hängt.

Sie ist riesig, eine echte Bahnhofsuhr. So etwas brauche ich hier auch, um aus jedem Winkel der Backstube sofort ablesen zu können, wie gut oder schlecht ich im Zeitplan bin.

„Es ist Montag, da komme ich doch immer eine Stunde früher!“ Sie lacht und schüttelt den Kopf über mich.

Tja, das bin ich – so verpeilt, dass man sich wohl häufiger fragen könnte, wie ich es überhaupt schaffe, meinen täglichen Arbeitsplan einzuhalten.

Ich lasse endlich die Brötchenmaschine laufen. Wenn ich sie wieder öffne, hat sie aus dem Teigballen, den ich zwischen die Knetplatten gelegt habe, 30 wunderbar geformte Brötchen-Teiglinge gemacht.

„Wie geht es dir?“

Ich blicke Maggy irritiert an. „Wie immer. Wieso fragst du?“

Sie zuckt die Schultern. „Du wirkst in letzter Zeit ziemlich unglücklich, um ehrlich zu sein.“

„Hm“, mache ich und widme mich der Maschine. Die Teiglinge landen auf Backblechen und diese in einer Stikke. 21 Bleche voller Brötchen finden in einer Stikke Platz, die ich anschließend so wie sie ist in den Stikkenofen rollen kann. Das Backen dort geschieht mit einer computergesteuerten Automatik, die exakt die Menge Dampf zufügt, die meine Brötchen bekommen sollen.

Maggy ist mehr eine Vertraute als eine Angestellte, was wohl auch daran liegt, dass wir früher gemeinsam die Schulbank gedrückt haben.

Sie hat in dieser Bäckerei ihre Ausbildung gemacht, genau wie ich. Damals noch bei meinem Vater, der sich mittlerweile aus gesundheitlichen Gründen zurückgezogen und mir alles vermacht hat.

Seit drei Jahren managen sie und ich hier alles allein.

Ob es um Mehlbestellungen oder Klapperdeckchen für das Café geht, Maggy hat genauso viel Peilung wie ich.

Nein, eigentlich hat sie mehr Peilung. Ohne sie wäre ich vermutlich nach den ersten drei Monaten bereits hoffnungslos baden gegangen.

Im Grunde kann ich mit Geld kaum aufwiegen, was sie hier leistet, aber die von mir angedachte Gewinnbeteiligung hat sie rundheraus abgelehnt.

„Ist in Ordnung, Tio, ich werde dich nicht damit nerven. Hauptsache du denkst immer dran, dass du mit mir über alles reden kannst.“

Ich nicke und mein Lächeln ist ganz sicher strahlend. „Danke, Maggy. Wie sieht dein Plan aus? Fängst du mit dem Belegen der Brötchen an oder willst du erst hier helfen?“

„Ich dachte mir ich könnte noch eine halbe Stunde hier helfen. Soll ich die Mohn- und Sesambrötchen bestreuen und stempeln?“

„Ja, bitte.“ Ich kümmere mich weiter um die Teiglinge und die Öfen.

Die Brote – wir bieten zwölf verschiedene Sorten in zwei Größen an – stehen bereits zum Auskühlen im Nebenraum auf ihren Regalen. Maggy und Sandra, unsere Auszubildende für den Laden, werden sie kurz vor Öffnung in den Verkaufsraum rollen und in die Regale umpacken.

Jetzt ist es kurz nach fünf und die letzten Brötchen gehen in den Ofen.

Blech auf Blech mit Mohn-, Sesam-, Sonnenblumenkern-, Kürbiskern-, Schinkenwürfel-, Vollkorn- und Käsebrötchen wandert neben den normalen Malzbrötchen wenig später in die Weidenkörbe hinter der Verkaufstheke.

Sobald ich den letzten Brötchenteig verarbeitet habe, kümmere ich mich wieder um die Kuchenteige, die bereits angerührt auf ihre Weiterverarbeitung warten.

Nebenbei starte ich die Siedebackstation, die vollautomatisch Berliner backen kann. Alle 15 Minuten muss ich die fertigen Berliner herausnehmen, an der Befüllstation mit Marmelade füllen und anschließend in Zucker wenden.

Davon mache ich aber wie jeden Tag nur zwei Ladungen. Viel beliebter als Berliner sind bei meiner Kundschaft nämlich Quarkbällchen und Donuts.

Die für heute benötigten Früchte stehen gesäubert und auf die richtige Größe geschnitten im Kühlraum.

Da ich nur diese eine Backstube betreibe und keine weiteren Läden beliefere, muss ich von jeder Blechkuchensorte auch nur eine Ladung backen. Ich backe täglich nur kleine Bleche Kuchen, um ihn stets so frisch wie möglich anbieten zu können.

Ich komme trotz Maggys tatkräftiger Hilfe an jedem Montag ins Schwitzen, um die Bleche mit Erdbeeren, Pflaumen und Äpfeln zu belegen.

„Ich rühre noch die Masse für den Mohnkuchen an, machst du die für den Käsekuchen?“, frage ich und ernte ein Nicken.

Um halb sechs erscheint eine müde, aber fröhliche Sandra und hilft uns, indem sie schon mal mit dem Einräumen der Brote und dem Belegen der Brötchen beginnt.

Mit Sandra habe ich, dank Maggy, einen echten Glücksgriff getan. Sie ist fleißig, sehr freundlich zu unseren Kunden und hat nebenbei auch wirklich Spaß an ihrem Job.

Ihre Kenntnisse über Brotsorten, Zubereitungsarten und Inhaltsstoffe haben mich davon überzeugt, dass ich mir keine bessere Azubine hätte wünschen können.

„Schule fällt morgen aus, soll ich dann herkommen?“, erkundigt sie sich um kurz vor sechs bei mir und ich tausche einen Blick mit Maggy, die sofort den Kopf schüttelt.

Aha, Sandra braucht also mal eine Pause, na dann …

„Nein, ich denke, du hast dir einen freien Tag verdient, Sanny. Und jetzt ab nach vorn mit dir!“, kommandiere ich lachend.

Sie bedankt sich und schwirrt ab.

„Wow, wie gut du mich immer verstehst“, sagt Maggy anerkennend und geht mit einem Blech fertig belegter Krüstchen durch den langen Gang zum Laden.

Ich sehe mich in der Backstube um.

Aufgeräumt ist alles, eine Angewohnheit, die ich von meinem Vater übernommen habe. Er hat mir beigebracht, dass man benutzte Teigschüsseln gleich spülen kann, Arbeitsflächen sofort abwischen muss und sich damit einen Haufen Aufräumarbeit am Ende der Backzeit erspart.

Dennoch bin ich nicht fertig für heute.

Am späten Vormittag müssen die für heute georderten Torten bereitstehen.

Eine Nusstorte für eine 70-Jährige, ein bunter Kinderkuchen für den Trainer einer Kinderfußballmannschaft und zwei Torten für ein Silberhochzeitspaar.

Ungewöhnlich viel für einen Montag, aber nicht zu ändern. Auch Torten macht die Bäckerei de Jong schon immer tagesfrisch.

Um neun Uhr bin ich damit fertig und stelle die letzte Torte in ihrem festen Transportkarton in den Kühlraum.

Anschließend putze ich noch einmal über alle Anrichten und Arbeitsplätze, entferne letzte Teigreste von meinem Werkzeug und den Maschinen und fege und wische die Backstube gründlich durch.

Es gibt nämlich nichts Schlimmeres, als sich den Mehlstaub durch das Treppenhaus in die Wohnung zu schleppen.

Aus diesem Grund lasse ich meine Arbeitsschuhe auch immer im unteren Hausflur auf einer extra Matte stehen.

Nun aber will ich kurz in den Verkaufsraum.

Die erste große Pause hat gerade begonnen und mit etwas Glück wird neben den zahlreichen Oberstufenschülern vom benachbarten Gymnasium auch einer ihrer Lehrer auftauchen, um sich sein schon fast obligatorisches Baguette mit Käse und Kochschinken zu holen.

Auch wenn ich morgens durchaus mal aus der Backstube nach vorn gehe, ist es kein Standard.

Wirklich regelmäßig mache ich das erst seit den Osterferien. Um genau zu sein, seitdem ebenjener Lehrer sich an Schultagen hier blicken lässt.

Wenn ich vorn bin, helfe ich meinen Damen natürlich beim Verkaufen der Backwaren.

Der Ansturm in den großen Pausen ist immer recht groß, so dass jede zusätzliche Hand und jedes Paar Wünsche entgegennehmende Ohren von Nutzen sind.

„Ich hätte gern ein Käsebrötchen und eine Cola“, bestellt eine rothaarige Schönheit mit hellblauer Sommerjacke gerade und ich nicke freundlich.

„Kommt sofort!“

Wenig später reiche ich ihr die Tüte und stelle die Flasche dazu, sage den Preis und erhalte passendes Kleingeld.

„Hallo Tio!“, grüßt eine Schülerin, die ich schon eine Weile kenne.

„Oh, hallo Kerstin! Was darf’s denn sein?“

„Zwei Berliner und zwei Nussecken. Kannst du das getrennt einpacken?“

„Klar!“ Ich wende mich ab und lege wenig später beide Tüten auf die Theke.

Durch meine Mithilfe habe ich überhaupt nicht mehr darauf achten können, ob Mister Sexy schon aufgetaucht ist, nun steht er vor mir und sieht mich durch seine randlose Brille an.

„Guten Morgen!“, sage ich und lächle.

„Guten Morgen! Ein belegtes Baguette mit Käse und Kochschinken, bitte!“

„Gern.“ Ich wende mich ab und gehe zur zweiten Theke, hinter der die belegten Backwaren ausliegen.

Wenig später händige ich ihm seine Bestellung aus. „Darf es sonst noch etwas sein?“

„Sagen Sie, machen Sie auch Platten mit belegten Brötchen für Partys?“, fragt er und muss sich etwas vorbeugen, weil um ihn herum noch immer Schüler schwirren. Einer davon hat ihn offenbar angerempelt, aber er fängt sich, indem er sich an der Glastheke abstützt.

„Ja, natürlich. Die meisten Bestellungen bekommen wir noch am selben Tag hin, aber wenn es mehr als 30 Brötchen sein sollen, ist es ratsam, einen Tag im Voraus zu bestellen“, erkläre ich.

„Ah, verstehe. Ja, das sollte sich machen lassen.“

„Fein. Wenn die Platten innerhalb der Stadt benötigt werden, liefern wir auch.“

„Oh, das klingt toll, aber ich würde sie schon abholen.“ Sein Lächeln haut mich beinahe um. Blinzelnd sehe ich auf seinen Mund und bekomme nur deshalb mit, dass er noch etwas sagt: „Ich glaube, für später nehme ich noch einen Nougatring mit.“

Ich nicke, hole das gewünschte Gebäckstück aus der Theke und lege die zweite Tüte zur ersten.

„Was bin ich Ihnen schuldig?“ Er hat sein Portemonnaie bereits in der Hand und ich nenne ihm die Summe.

Das Geld für sein Standard-Baguette hat er anscheinend schon in der Hand und streckt es mir hin. Es fällt warm in meine Handfläche und ich warte geduldig, bis er den Rest dazu gesucht hat.

Als er es mir reicht, berühren sich unsere Finger und ich kann nur mit Mühe eine sichtbare Reaktion unterdrücken.

„Vielen Dank“, sage ich.

„Ich habe zu danken. Das Baguette rettet mich jeden Vormittag vorm Hungertod!“ Er lacht und nimmt seine Tüten an sich. „Bis morgen. Und wegen der Bestellung melde ich mich rechtzeitig, versprochen.“

Ich habe keine Zeit, ihm noch lange nachzublicken, schon steht der nächste Schüler vor mir.

„Hey Tio, zwei Käse-Schinken-Brötchen, bitte.“

„Hallo Marius, gern doch.“

So geht es noch ein paar Minuten lang weiter, dann kehrt abrupt Ruhe ein. Die Schüler, die jetzt eine Freistunde haben, stehen an den hinteren Stehtischen und unterhalten sich leise. Bei ihnen auch meine Nichte Denise, die Tochter meiner älteren Schwester.

Wer wieder in den Unterricht muss, ist längst zurück auf dem Schulgelände, das jenseits der Brücke, die keine zwanzig Meter von meiner Bäckerei entfernt liegt, beginnt.

Sobald ich nur noch herumstehe, ziehe ich mich zurück und mache mir einen Kaffee.

„Na, Tio? Wie findest du unseren neuen Mathelehrer?“, fragt Denise, die zu mir halb hinter die Theke kommt. Sie spricht sehr leise, dennoch blicke ich mich erst einmal erschrocken im Ladenlokal um.

Mein ‚Seniorenclub‘ sitzt am vorderen Tisch und unterhält sich bei Schonkaffee und belegten Brötchen.

„Keine Panik, niemand kann mich hören“, setzt sie hinzu.

Ich nicke und atme erleichtert durch. „Das ist der neue Mathelehrer?“, frage ich blöde nach und denke, dass ich grad sehr gern noch mal die Schulbank drücken würde …

Denise nickt und lächelt. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass er … äh … ähnliche Interessen hat wie du.“

Ich verdrehe die Augen. „Denise“, beginne ich in einem geflüsterten Oberlehrerton, „nur weil ich schwul bin, heißt das noch lange nicht, dass jeder andere Schwule mir sympathisch ist oder ich ihn toll finden muss.“

„Schon gecheckt, Onkelchen, so habe ich es auch nicht gemeint!“

„Sondern?“

„Na, denkst du, der kommt jeden Tag hierher gedackelt, weil er Langeweile hat?“

Gute Frage. Nicht?

„Nein, vermutlich, weil er Hunger hat.“

Meine Nichte seufzt genervt auf. Wer hat den heutigen 17-Jährigen eigentlich erlaubt, so altklug zu sein?

„Gib doch zu, dass du ihn toll findest!“

„Was würde das bringen oder ändern?“

Denise weiß so gut wie ich, dass ich mich nicht freiwillig outen werde.

Es meiner Familie und engen Freunden zu sagen, ist eine Sache. Alles öffentlich zu machen, eine ganz andere.

Ich muss meine Homosexualität nicht wie einen Schild vor mir hertragen. Es genügt vollkommen, wenn ich selbst weiß, was ich will und wer ich bin.

Meinen Spaß hole ich mir, wann ich ihn brauche, aber für mich ist Sexualität in egal welcher Variante eine absolute Privatsache.

„Na, vielleicht würdest du dabei merken, dass es auch für dich ein Happyend geben kann.“ Das sagt Maggy, die unser Gespräch offensichtlich verfolgt hat.

„Ihr spinnt doch! Und jetzt will ich nichts mehr davon hören.“

Denise presst die Lippen fest aufeinander und trollt sich zu ihren Freundinnen, Maggy sieht mich mitleidig an.

„Lass gut sein, Maggy. Ich bin nicht in Stimmung für solche Gespräche.“ Ich sehe mich noch einmal im Laden um. „Ich gehe nach oben und hau mich hin.“

~*~

Bin ich damit geflohen? Ich weiß es nicht, spielt aber auch keine Rolle.

Das Thema ist ein ebenso leidiges wie unangebrachtes.

Was ich mache, geht nur mich etwas an, da können Denise und Maggy es noch so gut meinen.

Die Müdigkeit holt mich ein, kaum dass ich mich aus meiner Arbeitskleidung geschält habe.

Jogginghose und ein frisches T-Shirt, dann ab auf meine mega-bequeme Couch. Ich suche mir einen Film vom Festplattenrekorder und schalte ihn ein, bevor ich mich unter einer Kuscheldecke zusammenrolle.

Der Wecker meines Handys wird mich um 14 Uhr aus dem Land der Träume holen. Bis dahin kann ich nachholen, was mir heute Nacht gefehlt hat.

So ist es nicht immer, denn gestern Abend habe ich mir blöderweise noch einen spannenden Film angesehen, anstatt wie sonst um 20 Uhr im Bett zu verschwinden.

Das rächt sich jetzt, aber ich hoffe einfach darauf, dass ich um 14 Uhr gutgelaunt und munter bin.

Als der Wecker klingelt, bin ich es tatsächlich!

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht gehe ich mich frisch machen und ziehe anschließend noch einmal für zwei Stunden meine Arbeitskleidung an.

Um mir in den kommenden Tagen etwas Stress zu ersparen, nutze ich die Zeit und bereite Bleche mit Hefeteig und Mürbeteig vor, die anschließend im Kühlraum auf ihren Einsatz warten.

Obst oder andere Beläge kann ich noch nicht hinzufügen, dann würde alles matschig, aber ungebacken und einzeln kann ich die vorbereiteten Bleche eine knappe Woche lagern.

Da ich in diesem Kühlraum ausschließlich Teigwaren lagere, ist das kein Problem.

Frischwaren und Einzelzutaten liegen, soweit sie gekühlt werden müssen, in einem separaten, kleineren Kühllager.

Maggy und Sandra haben bereits Feierabend, für sie kommt eine der Aushilfen, die bis zum Ladenschluss allein zurechtkommen kann. Das Hauptgeschäft ist vorbei, jetzt ist kein schlimmer Ansturm mehr zu erwarten.

An Sandras Berufsschultagen haben wir sogar zwei Aushilfen pro Tag. Eine übernimmt die Frühschicht, eine den Nachmittagsdienst.

Da wir um 19 Uhr schließen, ist das gut vertretbar.

Eine Mittagspause machen wir nämlich nicht.

Ich kehre nach oben zurück und ziehe mich um, diesmal straßentauglich, denn ich hasse es, wenn ich den gesamten Tag nicht aus dem Haus gehe.

Jetzt um kurz nach 17 Uhr verlasse ich durch den neben dem Geschäft gelegenen Flur das Haus.

Ich will ein wenig durch die nahegelegene Innenstadt wandern, im großen Einkaufszentrum zur Buchhandlung gehen und nachschauen, ob meine Vorbestellung eingetroffen ist.

Ich lese nicht übermäßig viel, aber einen Thriller pro Woche schaffe ich in der Regel.

Glück gehabt! Das Buch ist bereits da und ich beschließe, die laue Abendluft noch in einem der Straßencafés zu genießen.

Wenig später sitze ich an einem runden Marmortischchen und vor mir dampft ein Café au lait.

Nachdem mir die Beobachtung der Passanten zu langweilig wird, schnappe ich mir das Buch und beginne zu lesen.

„Guten Abend.“ Die Stimme gefällt mir. Trotzdem dauert es, bis ich kapiere, dass der Gruß mir gilt. Ich sehe von meinem Thriller auf und lächle den Mann, der nicht weit von meinem Tisch entfernt stehengeblieben ist, an.

„Guten Abend“, erwidere ich. „Wie ich hörte, sind Sie der Mathematiklehrer meiner Nichte.“

Keine Ahnung, wieso ich mich zu einer solchen Äußerung hinreißen lasse, aber nun ist es gesagt.

Zögernd tritt er näher. „Das ist möglich, wie heißt Ihre Nichte?“

Da er nun nah am Tisch steht, muss ich den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzusehen, allein deshalb schon sage ich: „Setzen Sie sich doch.“

„Ich will Sie nicht in Ihrer Lektüre stören.“ Er deutet auf das Buch, das ich noch immer aufgeklappt in den Händen halte.

„Nein, nein, kein Problem. Meine Nichte ist Denise Wolters.“

Er setzt sich und nickt erneut. „Ja, dann bin ich ihr Lehrer.“

„Sie hat mir von Ihnen erzählt. Aber ich werde schweigen wie ein Grab – auch darüber, dass wir uns getroffen haben.“

Er hebt erstaunt eine Augenbraue. „So? Wieso das denn?“

Ich winke ab. „Denise ist vor allem eines: neugierig. Ich bin aber nicht bereit, ihrer Neugier Nahrung zu geben.“

Er lacht und blickt mich interessiert an.

Eine Bedienung erscheint am Tisch. Da mein Café au lait bereits leer ist, ordere ich einen weiteren und der namenlose Mathelehrer schließt sich nach einem fragenden Blick auf mich an.

Das Buch lege ich – den Kaufbeleg als Lesezeichen verwendend – beiseite. „Ich bin Tio de Jong“, stelle ich mich vor und setze mich endlich etwas aufrechter hin. Nur weil ich quietschblaues Haar habe, heißt das schließlich nicht, dass ich mich mit meinen 32 Jahren nicht anständig benehmen kann …

„Thies Rottmann.“ Wir reichen uns die Hände und ich habe erneut das Gefühl, dass bei der Berührung Funken sprühen.

Tun sie natürlich nicht, zumindest nicht sichtbar.

Vielleicht hat Denise recht und er steht wirklich auf Kerle?

Andererseits … Was würde das ändern? Ich will mich und meine Bäckerei ganz sicher nicht ruinieren, indem ich mich auf irgendetwas einlasse, das über kurz oder lang nicht mehr hinter verschlossenen Türen bleiben kann.

Beziehungen stehen für mich vollkommen außer Frage und Thies Rottmann sieht nicht so aus, als wäre er ein One-Nighter.

„Freut mich. Genießen Sie die Ruhe vor Ihren Schülern?“, frage ich.

„Ich habe so gut wie nie Ruhe vor meinen Schülern …“ Er deutet um uns. „Sie können hier ständig irgendwo auftauchen.“

Auch wieder wahr. Noch ein Minuspunkt auf der Liste.

Jeder Mann in meinem Umfeld, der Single und/oder potenzieller Sexpartner sein könnte, bekommt von mir eine gedankliche Liste.

Auf der von Thies stehen bereits jetzt drei Minuspunkte, damit ist er disqualifiziert und ich kann ganz entspannt mit ihm reden.

„Mich erkennen viele Schüler auch sofort wieder, und das, obwohl ich kaum vorn im Laden aushelfe.“

„Sie sind der Bäcker, das habe ich schon mitbekommen. Sind Sie ganz allein in der Backstube?“

Ich nicke. „Es ist schwer, in meinem Beruf einen Azubi zu finden. Also mache ich alles allein.“

„Klingt stressig – und vor allem nach verdammt wenig Schlaf.“

„Stimmt, aber man gewöhnt sich an alles.“

Wir plaudern weiter, währenddessen sehe ich ihn mir genauer an. Natürlich weiß ich seit Wochen, dass er dunkelbraunes Haar und grüne Augen hat, dass die randlose Brille seine markanten Gesichtszüge besonders wirken lässt, dass er ungefähr so groß ist wie ich und weder großartig trainiert noch schwabbelig daherkommt, aber jetzt habe ich Gelegenheit, hinter all das zu blicken.

Das Gespräch dreht sich um meinen neuen Roman, die Läden mit dem besten Kaffee, Einkaufsmöglichkeiten für diverse Artikel … Der Herr Lehrer kann sich in den vergangenen Wochen noch nicht nennenswert mit der Infrastruktur dieser Stadt auseinandergesetzt haben.

Vielleicht ist er aber auch einfach nur zu unmotiviert gewesen?

Spielt keine Rolle. Jedenfalls ist er so rein vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet echt sympathisch.

Um 20:30 Uhr sehe ich schockiert auf meine Armbanduhr und springe erschrocken auf. „Verdammt, ich muss gehen!“

Thies und ich haben uns so gut unterhalten, dass ich die Zeit vollkommen aus den Augen verloren habe.

Hastig krame ich das Geld für meine mittlerweile drei Cafés au lait aus der Tasche und will es dem verdutzten Thies reichen, doch der hebt abwehrend die Hände. „Das geht auf mich. Sie können sich beim nächsten Mal revanchieren.“

„Normalerweise liege ich um acht im Bett!“, erkläre ich.

„Verstehe! Dann sehen wir uns morgen früh!“, verabschiedet er mich und ich schwanke zwischen wieder hinsetzen und nach Hause gehen. Verrückt, dabei steht Ersteres doch gar nicht zur Debatte.

Über mich selbst den Kopf schüttelnd wende ich mich ab und eile heimwärts.

© Nathan Jaeger

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