Leseprobe
Kapitel 1
Normal-langweilig, langweilig-normal …
Gibt es zwischen beidem einen Unterschied?
Ist das so wie Cola-Korn oder Korn-Cola?
Für die Unwissenden: Letzteres ist ein gebräuchliches
Getränk, Ersteres ein sicherer Weg ins Alkoholkoma.
Auch egal. Mir ist langweilig und ich BIN langweilig. Zu
normal, quasi schon popelig.
Okay, ich sollte aufhören, mich zu besaufen und dabei über
solche Dinge nachzudenken. Ändern kann ich es ja doch nicht!
Mein Leben ist einfach nur stink-sterbens-langweilig.
Der Griff zu meinem Glas mit Havana-Club-Cola ist nicht so
zielsicher, wie ich es gern hätte, aber immerhin bekomme ich es unfallfrei an
die Lippen.
Mein Blick geht durch den Fernseher und die dahinterliegende
Wand hindurch, da bin ich sicher. Ich schaue zum xten Mal den Herrn der Ringe.
Vermutlich ist das auch der Grund, weshalb ich nicht mehr
hingucken muss, um zu wissen, was als Nächstes passiert. Dabei mag ich die
Filme! Aber … eben nicht allein.
Dennoch bin ich genau das: allein.
Zumindest meistens.
Ein Blick zur Uhr, in ein paar Stunden, genau sechs,
klingelt mein Wecker und ich werde mich notdürftig anziehen, um meinen von
seniler Bettflucht geplagten Großvater zu versorgen.
Aus dem Bett helfen, waschen, anziehen, Frühstück
vorbereiten, Kaffee kochen, selbst eine Tasse runterstürzen und beten, dass er
nach dem Frühstück nicht auf die Idee kommt, Gesellschaft zu brauchen.
Denn ich … Tja, ich habe auch ein eigenes Leben, so hin
und wieder.
Meine Miete zahlt sich nicht von allein und mein Kühlschrank
lässt sich auch nicht von dem bisschen Pflegegeld füllen, das ich für Opas
Versorgung bekomme. Deshalb habe ich natürlich auch einen Job.
Ich bin Maler, habe Kunst studiert und mich mittlerweile auf
Portraits – vor allem Tierportraits – spezialisiert.
Man sollte nicht glauben, wie viele Menschen ein Gemälde,
ein Aquarell oder eine Zeichnung von ihrem haarigen, gefiederten, schuppigen
oder gepanzerten Haustier haben wollen.
Ich betreibe eine Internetseite, über die man mich
kontaktieren kann und auf der zahlreiche Referenzen zu finden sind. Dadurch
erhalte ich meine Aufträge, die meist mit den Worten ‚Unser lieber
Purzel/Kasimir/Schnuppelhasi ist verstorben und wir leiden alle sehr, deshalb
wollen wir …‘ beginnen.
Das größte Tier, das ich bislang auf eine Leinwand gebannt
habe, war ein Pferd, das kleinste eine Wasserschildkröte von nicht einmal 5
Zentimetern Durchmesser.
Es macht mir Spaß, wie ich zugeben muss, am meisten, wenn
ich Hunde malen kann.
Hunde haben für gewöhnlich etwas absolut Liebenswertes in ihrem
Blick, etwas Treues, unsagbar Gutes.
Das mag ich!
Okay, Zeit fürs Bett.
Ich mache einen Abstecher ins Bad und liege wenig später mit
Minzatem in meinen Kissen. Den Wecker jetzt schon zu verfluchen, ist ziemlich
sinnlos, also ziehe ich es vor, lieber gleich einzuschlafen.
~*~
Mein Opa sitzt auf seinem Rollator vor dem Waschbecken und
ich wringe den ausgespülten Waschlappen noch einmal aus, um seinen Rücken
abzuwaschen.
Heute hat er miese Laune, die Nacht war wohl ähnlich gut wie
mein abendliches Besäufnis.
Trotzdem bemühe ich mich, auf sein Gemurre nicht genervt zu
reagieren, und spüre doch, dass Opa Henry meine Geduld heute bis aufs Äußerste
strapaziert.
Eine halbe Stunde dauert das morgendliche Schauspiel nun
schon, weshalb ich erleichtert aufseufze, als ich ihm den zweiten Pantoffel
anziehe und ihn in die Küche an den Tisch geleiten kann.
Tisch decken, Kaffee kochen. Mein Körper schreit bereits
seit geraumer Zeit nach dem heißen Lebensretter.
Opa Henry frühstückt mehr oder minder allein. Ich muss nur
aufpassen, dass er sich nicht vollschmiert, wenn sein Ärmel mal wieder in der
Butter landet. Ansonsten habe ich jetzt eine kurze Pause, in der ich den Kaffee
genießen und mich mit ihm unterhalten kann.
Er redet beim Essen nicht viel, was meiner eigenen Laune und
vor allem meiner akuten Müdigkeit sehr entgegen kommt.
In Gedanken gehe ich den heutigen Tagesplan durch. Um das
Mittagessen für Henry muss ich mich nicht kümmern, das wird von einem
Lieferservice gebracht. Gestern Abend, nach dem von mir für ihn bereiteten
Abendbrot, habe ich auch die Assiette vom Lieferdienst der Caritas abgespült.
Ohne die Damen und Herren dieser gemeinnützigen Einrichtung
wäre ich hoffnungslos aufgeschmissen.
Eine Putzkraft kümmert sich um Henrys Wohnung, ich muss nur
akuten Dreck beseitigen, wenn ihm zum Beispiel eine Kaffeetasse runterfällt
oder er abends mit seinen Knabberstangen zu viel herumgekrümelt hat. Natürlich
kontrolliere ich auch täglich die Toilette, damit sie wenigstens einmal am Tag
eine Klobürste zu sehen bekommt …
Nun ja, mit über 90 werde ich wohl auch nicht mehr an alles
denken können. Ich mache meinem Opa keinen Vorwurf. Immerhin liebe ich den
alten Griesgram heiß und fettig!
Dieser Gedanke lässt mich lächeln und ich bemerke, dass er
mich beobachtet. Seine wässrigen, vom grauen Star schon ziemlich schlechten
Augen mustern mich mit einem so weichen Blick, dass sich mein Lächeln vertieft.
Für diese Augenblicke, in denen ich seine stumme Dankbarkeit
wahrnehme, mache ich all das hier jeden Tag.
Seit mehr als drei Jahren übrigens.
Es war eine enorme Umstellung, als es damals hieß, dass
irgendjemand aus der Familie sich um Opa Henry kümmern müsse.
Nachdem ich den Frühstückstisch abgeräumt und Henry in
seinem elektrisch verstellbaren Ohrensessel geparkt habe, gebe ich ihm noch die
Tageszeitung und verabschiede mich. Auf dem Weg hinaus werfe ich den üblichen
Kontrollblick in die Kloschüssel und bin einigermaßen erleichtert, dass sie
sauber ist.
Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich mich
schon wieder beeilen muss. Heute ist Donnerstag, da muss ich ab 15 Uhr auf
meinen Vater aufpassen.
Bis dahin sind es zwar noch ein paar Stunden, aber alles
andere will vorher erledigt sein.
Auch das Bild von Geronimo, dem rotgetigerten Kater einer
etwas verschrobenen Dame mittleren Alters.
Mein Opa ist nicht der einzige Pflegefall in der Familie,
leider ist mein eigener Vater der Grund, wieso sich nicht meine Mutter als
fürsorgliche Schwiegertochter um Henry kümmern kann.
Ich seufze, als ich an meiner Staffelei ankomme. Immerhin
ist der Weg zu Henry nur ein kurzer Marsch durchs Treppenhaus – wir bewohnen
gemeinsam ein freistehendes Einfamilienhaus am Rande des Stadtzentrums.
Als sicher war, dass Henry nicht länger vollkommen allein in
diesem Kasten hausen konnte, ging innerhalb der Familie die große Diskussion
los, wer ihn denn nun versorgen müsse.
Ich bin das zweite von vier Kindern und neben meinem
jüngsten Bruder Seth, der auswärts studiert, leider der Einzige; der keine Ehe
vorzuweisen hat.
Mein älterer Bruder Balthasar hat bereits zwei Kinder, die
die Grundschule hinter sich gelassen haben, meine einzige Schwester Deborah ist
ebenfalls fest liiert und passend vor drei Jahren Hals über Kopf mit ihrem Mann
ins Rheinland gezogen.
Gewusst wie, kann ich da nur sagen.
Blieb also nur ich, der sich um Henry kümmern konnte, und
wer wäre ich, meinen Opa einfach im Stich zu lassen?
Ob das an meiner gestrigen Alkoholsession liegt, dass ich
heute ständig über diesen ganzen Scheiß nachdenke? Ich weiß es nicht, aber es
macht wenig Sinn, mich über die mangelnde Hilfsbereitschaft meiner
Verwandtschaft aufzuregen.
Balthasars Frau Lydia hätte nämlich durchaus mehr Zeit
gehabt, sich um Opa zu kümmern, aber irgendwie hat sie sich ganz geschickt aus
der Affäre gezogen. Die Kinder wären gerade in einem schrecklichen Alter und
ihr Haushalt erfordere zu viel Aufmerksamkeit.
Ein leises Schnauben entkommt mir. Von wegen!
Madame ist in der glücklichen Lage, sich ein
Au-pair-Mädchen, eine Putzfrau und einen Gärtner leisten zu können. Immerhin
ist das leuchtende Vorbild, als das alle meinen Bruder gern hinstellen, nichts
Geringeres als Topmanager eines Chemiekonzerns mit einem Jahresgehalt im
achtstelligen Bereich.
Am absoluten Totschlagargument, dass ich schließlich
ungebunden sei und gefälligst bei Henry in das Obergeschoss ziehen könnte, kam
ich dann nicht mehr vorbei.
Eigentlich finde ich das auch nicht schlimm.
Ich zahle wenig Miete, habe viel Platz und eine wirklich
schöne Wohnung mit separatem Eingang.
Es ist nach zwölf, als mein Magen mir während der letzten
Pinselstriche verrät, dass er dringend und reichlich gefüllt werden will.
Einen Schritt zurücktreten, den Pinsel auswischen und …
ja. Geronimo ist fertig!
Ich grinse den frech aussehenden Kater noch einmal an, dann
verlasse ich das lichtdurchflutete Atelier im Dachgeschoss und lande wenig
später vor dem Kühlschrank.
Frühstück muss her, und zwar dringend.
Ich schiebe drei Aufbackbrötchen in den Backofen und hole
Aufschnitt und Käse aus der Kühlung. Mein Mittagsritual beginnt.
Morgens kann ich nichts essen, zumindest nicht so früh wie
Henry. Deshalb habe ich es mir angewöhnt, gegen Mittag zu frühstücken und
frühestens um 19 Uhr eine warme Mahlzeit zu mir zu nehmen. Abendbrot gibt es
bei mir nicht. Wenn ich zwischendurch Hunger bekomme, habe ich Obst, Joghurt
oder Süßkram bereitliegen.
In anderthalb Stunden muss ich durch die halbe Stadt düsen,
um von 15 bis 18:30 Uhr auf meinen Vater aufzupassen.
Eine Zeit, der ich nicht unbedingt mit den besten Gefühlen
entgegenblicke, denn sicherlich hat er sich wieder einiges einfallen lassen,
das plötzlich und sofort getan werden muss.
Rasen mähen oder die Garage aufräumen, vielleicht auch nur
das Werkzeug im Keller neu sortieren, das er seit Jahren nicht mehr benutzen
kann.
Mein Vater hat Rheuma und kann weder lange stehen noch
anstrengende Dinge tun. Von Fußwegen mal ganz abgesehen. Im Haus bewegt er sich
mit seinem Rollator fort, draußen mit einem Rollstuhl, den natürlich immer
jemand schieben muss, weil seine Arme die Belastung ebenfalls nicht aushalten.
Ich sitze gerade am Tisch, habe das erste Brötchen
aufgeschnitten und geschmiert, als mein Handy zu klingeln beginnt.
„Hossa!“, begrüße ich vermutlich meinen Vater, denn die
Festnetznummer meiner Eltern wird auf dem Display eingeblendet.
„Hallo Jamin.“ Tatsache, mein Vater.
„Was ist los?“, frage ich und warte geduldig. Neben der
Polyarthritis hatte mein knapp 65-jähriger Vater auch noch fünf Schlaganfälle,
die alle mehr oder minder glimpflich abgelaufen sind, jedoch leichte
Wortfindungsstörungen hinterlassen haben. Entsprechend muss er sich und seine
Gedanken, besonders beim Telefonieren, gründlich sortieren, bevor er die
richtigen Worte herausbringen kann.
„Ich wollte … können wir heute das Terrassendach
saubermachen?“
„Klar, Papa. Machen wir. Aber deshalb hast du nicht
angerufen, oder?“
„Doch, du musst diesen Reiniger vom Baumarkt mitbringen.“
„Ah, alles klar, kriege ich hin. Ich bin dann gegen drei bei
dir, okay?“
„Ja, okay.“
Wir legen auf und ich lächle blöde vor mich hin. Ich freue
mich, dass er daran gedacht hat, mir vorher Bescheid zu geben. Der Baumarkt
liegt auf dem Weg und es wäre umständlich gewesen, wenn er es mir erst nach
meiner Ankunft gesagt hätte.
~*~
In den Baumärkten der Umgebung bin ich Stammkunde. Hier
bekomme ich meine Farben und Leinwände, die zum Teil extra für mich bestellt
werden. Einen Laden für Künstlerbedarf gibt es hier nicht, was ich persönlich
aber auch nicht bedaure.
Immerhin haben solche Fachgeschäfte gleich ganz andere
Preise.
An der Kasse zeige ich meine Kundenkarte, bezahle das
Reinigungsmittel für den Hochdruckreiniger und mache mich auf den weiteren Weg.
Mein Vater ist gutgelaunt, was ich schon mal positiv finde.
Er hat durch all seine Krankheiten und Gebrechen ziemliche Depressionen und
damit verbunden oftmals schlimme Launen.
Er begrüßt mich freundlich, wir reden erst eine Weile,
trinken einen Kaffee, danach heißt es alles startklar machen, damit ‚wir‘ das
Dach der Terrasse saubermachen können. Er sagt das immer so, auch wenn er nicht
mehr wirklich helfen kann. Immerhin spart er sich mittlerweile die klugen
Sprüche, die ich sonst stets zu hören bekommen habe, wenn ich etwas für ihn
getan habe.
Mein Vater ist Handwerker mit Leib und Seele, was ich von
mir nicht unbedingt behaupten würde.
Ich habe zwar schon als Kind gern geholfen, wenn tapeziert
wurde oder irgendwelche anderen Heimwerkerarbeiten anfielen, aber da ich nichts
Handwerkliches gelernt habe, denkt er gern, dass ich etwas nicht kann.
Als wäre es ein Naturgesetz, oder so.
Nach zwei Stunden ist das durchsichtige Dach wieder
blitzblank und mein Vater glücklich. Ich sehe zwar aus wie ein Schwein, aber
kein Fitzelchen Moos, Algen oder was auch immer da ständig für ein Grünspan
ansetzen will, ist übriggeblieben.
Wir trinken noch einen Kaffee, dann erscheint auch schon
meine Mutter und ich erfahre, dass ihre Eltern, bei denen sie heute Nachmittag
war, sich einen Hund angeschafft haben.
„Was? Aber doch hoffentlich keinen Welpen?!“, entrüste ich
mich.
„Doch, sie sagten, er sei jetzt acht Wochen alt.“
Ich merke, wie sich meine Mundwinkel nach oben bewegen. Ich
liebe Hunde! Nur habe ich leider neben allem, was ich so mache, keine Zeit für
so ein tolles Tier. „Wie heißt er oder sie denn?“
„Es ist ein Rüde. Sein Name ist Cobalt. Er hat ganz tolle,
dunkelblaue Augen“, erklärt meine Mutter mit schwärmerischem Tonfall.
„Deine Eltern waren schon immer verrückt“, entfährt es
meinem Vater, wofür er einen bösen Blick erntet.
„Und was für eine Rasse?“, frage ich.
„Ich glaube, Ewald sagte, es ist ein Irischer Wolfshund.“
Ich blinzle, starre meine Mutter danach endlos an. „Ein
Irischer Wolfshund?! Die werden doch riesig!“
Sie hebt nur die Schultern. „Kann sein. Ewald ist jedenfalls
Feuer und Flamme, und da er schon immer Hunde hatte, wird er mit Cobalt wohl
auch fertigwerden.“
Ich nicke zustimmend, denn das ist wahr. Mein Opa Ewald
hatte seit ich denken kann Hunde. Meistens waren es große Rassen, aber einmal
hatten er und Oma Elli auch zwei Hunde. Der zweite war ein uraltes Notfalltier,
ein Cockerspaniel namens Ludwig.
Dass sie sich nach dem zuletzt verstorbenen Berner
Sennenhund noch mal einen anschaffen würden, versetzt mich allerdings noch
immer in Erstaunen. Immerhin sind Oma und Opa beide über 80!
„Hm, na dann kann man nur hoffen, dass sie so fit bleiben,
wie sie derzeit sind.“ Ich teile die Sorge meines Vaters, denn was wird aus dem
Hund, wenn es ihnen plötzlich schlechter geht oder so?
Nach einem weiteren Kaffee mache ich mich auf den Weg nach
Hause. Opa Henry wartet auf sein Abendbrot und ich muss mich schon ein wenig beeilen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen