Samstag, 6. November 2021

[Leseprobe] Familie in Aufruhr

 Leseprobe

Kapitel 1

Normal-langweilig, langweilig-normal …

Gibt es zwischen beidem einen Unterschied?

Ist das so wie Cola-Korn oder Korn-Cola?

Für die Unwissenden: Letzteres ist ein gebräuchliches Getränk, Ersteres ein sicherer Weg ins Alkoholkoma.

Auch egal. Mir ist langweilig und ich BIN langweilig. Zu normal, quasi schon popelig.

Okay, ich sollte aufhören, mich zu besaufen und dabei über solche Dinge nachzudenken. Ändern kann ich es ja doch nicht!

Mein Leben ist einfach nur stink-sterbens-langweilig.

Der Griff zu meinem Glas mit Havana-Club-Cola ist nicht so zielsicher, wie ich es gern hätte, aber immerhin bekomme ich es unfallfrei an die Lippen.

Mein Blick geht durch den Fernseher und die dahinterliegende Wand hindurch, da bin ich sicher. Ich schaue zum xten Mal den Herrn der Ringe.

Vermutlich ist das auch der Grund, weshalb ich nicht mehr hingucken muss, um zu wissen, was als Nächstes passiert. Dabei mag ich die Filme! Aber … eben nicht allein.

Dennoch bin ich genau das: allein.

Zumindest meistens.

Ein Blick zur Uhr, in ein paar Stunden, genau sechs, klingelt mein Wecker und ich werde mich notdürftig anziehen, um meinen von seniler Bettflucht geplagten Großvater zu versorgen.

Aus dem Bett helfen, waschen, anziehen, Frühstück vorbereiten, Kaffee kochen, selbst eine Tasse runterstürzen und beten, dass er nach dem Frühstück nicht auf die Idee kommt, Gesellschaft zu brauchen.

Denn ich … Tja, ich habe auch ein eigenes Leben, so hin und wieder.

Meine Miete zahlt sich nicht von allein und mein Kühlschrank lässt sich auch nicht von dem bisschen Pflegegeld füllen, das ich für Opas Versorgung bekomme. Deshalb habe ich natürlich auch einen Job.

Ich bin Maler, habe Kunst studiert und mich mittlerweile auf Portraits – vor allem Tierportraits – spezialisiert.

Man sollte nicht glauben, wie viele Menschen ein Gemälde, ein Aquarell oder eine Zeichnung von ihrem haarigen, gefiederten, schuppigen oder gepanzerten Haustier haben wollen.

Ich betreibe eine Internetseite, über die man mich kontaktieren kann und auf der zahlreiche Referenzen zu finden sind. Dadurch erhalte ich meine Aufträge, die meist mit den Worten ‚Unser lieber Purzel/Kasimir/Schnuppelhasi ist verstorben und wir leiden alle sehr, deshalb wollen wir …‘ beginnen.

Das größte Tier, das ich bislang auf eine Leinwand gebannt habe, war ein Pferd, das kleinste eine Wasserschildkröte von nicht einmal 5 Zentimetern Durchmesser.

Es macht mir Spaß, wie ich zugeben muss, am meisten, wenn ich Hunde malen kann.

Hunde haben für gewöhnlich etwas absolut Liebenswertes in ihrem Blick, etwas Treues, unsagbar Gutes.

Das mag ich!

Okay, Zeit fürs Bett.

Ich mache einen Abstecher ins Bad und liege wenig später mit Minzatem in meinen Kissen. Den Wecker jetzt schon zu verfluchen, ist ziemlich sinnlos, also ziehe ich es vor, lieber gleich einzuschlafen.

~*~

Mein Opa sitzt auf seinem Rollator vor dem Waschbecken und ich wringe den ausgespülten Waschlappen noch einmal aus, um seinen Rücken abzuwaschen.

Heute hat er miese Laune, die Nacht war wohl ähnlich gut wie mein abendliches Besäufnis.

Trotzdem bemühe ich mich, auf sein Gemurre nicht genervt zu reagieren, und spüre doch, dass Opa Henry meine Geduld heute bis aufs Äußerste strapaziert.

Eine halbe Stunde dauert das morgendliche Schauspiel nun schon, weshalb ich erleichtert aufseufze, als ich ihm den zweiten Pantoffel anziehe und ihn in die Küche an den Tisch geleiten kann.

Tisch decken, Kaffee kochen. Mein Körper schreit bereits seit geraumer Zeit nach dem heißen Lebensretter.

Opa Henry frühstückt mehr oder minder allein. Ich muss nur aufpassen, dass er sich nicht vollschmiert, wenn sein Ärmel mal wieder in der Butter landet. Ansonsten habe ich jetzt eine kurze Pause, in der ich den Kaffee genießen und mich mit ihm unterhalten kann.

Er redet beim Essen nicht viel, was meiner eigenen Laune und vor allem meiner akuten Müdigkeit sehr entgegen kommt.

In Gedanken gehe ich den heutigen Tagesplan durch. Um das Mittagessen für Henry muss ich mich nicht kümmern, das wird von einem Lieferservice gebracht. Gestern Abend, nach dem von mir für ihn bereiteten Abendbrot, habe ich auch die Assiette vom Lieferdienst der Caritas abgespült.

Ohne die Damen und Herren dieser gemeinnützigen Einrichtung wäre ich hoffnungslos aufgeschmissen.

Eine Putzkraft kümmert sich um Henrys Wohnung, ich muss nur akuten Dreck beseitigen, wenn ihm zum Beispiel eine Kaffeetasse runterfällt oder er abends mit seinen Knabberstangen zu viel herumgekrümelt hat. Natürlich kontrolliere ich auch täglich die Toilette, damit sie wenigstens einmal am Tag eine Klobürste zu sehen bekommt …

Nun ja, mit über 90 werde ich wohl auch nicht mehr an alles denken können. Ich mache meinem Opa keinen Vorwurf. Immerhin liebe ich den alten Griesgram heiß und fettig!

Dieser Gedanke lässt mich lächeln und ich bemerke, dass er mich beobachtet. Seine wässrigen, vom grauen Star schon ziemlich schlechten Augen mustern mich mit einem so weichen Blick, dass sich mein Lächeln vertieft.

Für diese Augenblicke, in denen ich seine stumme Dankbarkeit wahrnehme, mache ich all das hier jeden Tag.

Seit mehr als drei Jahren übrigens.

Es war eine enorme Umstellung, als es damals hieß, dass irgendjemand aus der Familie sich um Opa Henry kümmern müsse.

Nachdem ich den Frühstückstisch abgeräumt und Henry in seinem elektrisch verstellbaren Ohrensessel geparkt habe, gebe ich ihm noch die Tageszeitung und verabschiede mich. Auf dem Weg hinaus werfe ich den üblichen Kontrollblick in die Kloschüssel und bin einigermaßen erleichtert, dass sie sauber ist.

Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich mich schon wieder beeilen muss. Heute ist Donnerstag, da muss ich ab 15 Uhr auf meinen Vater aufpassen.

Bis dahin sind es zwar noch ein paar Stunden, aber alles andere will vorher erledigt sein.

Auch das Bild von Geronimo, dem rotgetigerten Kater einer etwas verschrobenen Dame mittleren Alters.

Mein Opa ist nicht der einzige Pflegefall in der Familie, leider ist mein eigener Vater der Grund, wieso sich nicht meine Mutter als fürsorgliche Schwiegertochter um Henry kümmern kann.

Ich seufze, als ich an meiner Staffelei ankomme. Immerhin ist der Weg zu Henry nur ein kurzer Marsch durchs Treppenhaus – wir bewohnen gemeinsam ein freistehendes Einfamilienhaus am Rande des Stadtzentrums.

Als sicher war, dass Henry nicht länger vollkommen allein in diesem Kasten hausen konnte, ging innerhalb der Familie die große Diskussion los, wer ihn denn nun versorgen müsse.

Ich bin das zweite von vier Kindern und neben meinem jüngsten Bruder Seth, der auswärts studiert, leider der Einzige; der keine Ehe vorzuweisen hat.

Mein älterer Bruder Balthasar hat bereits zwei Kinder, die die Grundschule hinter sich gelassen haben, meine einzige Schwester Deborah ist ebenfalls fest liiert und passend vor drei Jahren Hals über Kopf mit ihrem Mann ins Rheinland gezogen.

Gewusst wie, kann ich da nur sagen.

Blieb also nur ich, der sich um Henry kümmern konnte, und wer wäre ich, meinen Opa einfach im Stich zu lassen?

Ob das an meiner gestrigen Alkoholsession liegt, dass ich heute ständig über diesen ganzen Scheiß nachdenke? Ich weiß es nicht, aber es macht wenig Sinn, mich über die mangelnde Hilfsbereitschaft meiner Verwandtschaft aufzuregen.

Balthasars Frau Lydia hätte nämlich durchaus mehr Zeit gehabt, sich um Opa zu kümmern, aber irgendwie hat sie sich ganz geschickt aus der Affäre gezogen. Die Kinder wären gerade in einem schrecklichen Alter und ihr Haushalt erfordere zu viel Aufmerksamkeit.

Ein leises Schnauben entkommt mir. Von wegen!

Madame ist in der glücklichen Lage, sich ein Au-pair-Mädchen, eine Putzfrau und einen Gärtner leisten zu können. Immerhin ist das leuchtende Vorbild, als das alle meinen Bruder gern hinstellen, nichts Geringeres als Topmanager eines Chemiekonzerns mit einem Jahresgehalt im achtstelligen Bereich.

Am absoluten Totschlagargument, dass ich schließlich ungebunden sei und gefälligst bei Henry in das Obergeschoss ziehen könnte, kam ich dann nicht mehr vorbei.

Eigentlich finde ich das auch nicht schlimm.

Ich zahle wenig Miete, habe viel Platz und eine wirklich schöne Wohnung mit separatem Eingang.

Es ist nach zwölf, als mein Magen mir während der letzten Pinselstriche verrät, dass er dringend und reichlich gefüllt werden will.

Einen Schritt zurücktreten, den Pinsel auswischen und … ja. Geronimo ist fertig!

Ich grinse den frech aussehenden Kater noch einmal an, dann verlasse ich das lichtdurchflutete Atelier im Dachgeschoss und lande wenig später vor dem Kühlschrank.

Frühstück muss her, und zwar dringend.

Ich schiebe drei Aufbackbrötchen in den Backofen und hole Aufschnitt und Käse aus der Kühlung. Mein Mittagsritual beginnt.

Morgens kann ich nichts essen, zumindest nicht so früh wie Henry. Deshalb habe ich es mir angewöhnt, gegen Mittag zu frühstücken und frühestens um 19 Uhr eine warme Mahlzeit zu mir zu nehmen. Abendbrot gibt es bei mir nicht. Wenn ich zwischendurch Hunger bekomme, habe ich Obst, Joghurt oder Süßkram bereitliegen.

In anderthalb Stunden muss ich durch die halbe Stadt düsen, um von 15 bis 18:30 Uhr auf meinen Vater aufzupassen.

Eine Zeit, der ich nicht unbedingt mit den besten Gefühlen entgegenblicke, denn sicherlich hat er sich wieder einiges einfallen lassen, das plötzlich und sofort getan werden muss.

Rasen mähen oder die Garage aufräumen, vielleicht auch nur das Werkzeug im Keller neu sortieren, das er seit Jahren nicht mehr benutzen kann.

Mein Vater hat Rheuma und kann weder lange stehen noch anstrengende Dinge tun. Von Fußwegen mal ganz abgesehen. Im Haus bewegt er sich mit seinem Rollator fort, draußen mit einem Rollstuhl, den natürlich immer jemand schieben muss, weil seine Arme die Belastung ebenfalls nicht aushalten.

Ich sitze gerade am Tisch, habe das erste Brötchen aufgeschnitten und geschmiert, als mein Handy zu klingeln beginnt.

„Hossa!“, begrüße ich vermutlich meinen Vater, denn die Festnetznummer meiner Eltern wird auf dem Display eingeblendet.

„Hallo Jamin.“ Tatsache, mein Vater.

„Was ist los?“, frage ich und warte geduldig. Neben der Polyarthritis hatte mein knapp 65-jähriger Vater auch noch fünf Schlaganfälle, die alle mehr oder minder glimpflich abgelaufen sind, jedoch leichte Wortfindungsstörungen hinterlassen haben. Entsprechend muss er sich und seine Gedanken, besonders beim Telefonieren, gründlich sortieren, bevor er die richtigen Worte herausbringen kann.

„Ich wollte … können wir heute das Terrassendach saubermachen?“

„Klar, Papa. Machen wir. Aber deshalb hast du nicht angerufen, oder?“

„Doch, du musst diesen Reiniger vom Baumarkt mitbringen.“

„Ah, alles klar, kriege ich hin. Ich bin dann gegen drei bei dir, okay?“

„Ja, okay.“

Wir legen auf und ich lächle blöde vor mich hin. Ich freue mich, dass er daran gedacht hat, mir vorher Bescheid zu geben. Der Baumarkt liegt auf dem Weg und es wäre umständlich gewesen, wenn er es mir erst nach meiner Ankunft gesagt hätte.

~*~

In den Baumärkten der Umgebung bin ich Stammkunde. Hier bekomme ich meine Farben und Leinwände, die zum Teil extra für mich bestellt werden. Einen Laden für Künstlerbedarf gibt es hier nicht, was ich persönlich aber auch nicht bedaure.

Immerhin haben solche Fachgeschäfte gleich ganz andere Preise.

An der Kasse zeige ich meine Kundenkarte, bezahle das Reinigungsmittel für den Hochdruckreiniger und mache mich auf den weiteren Weg.

Mein Vater ist gutgelaunt, was ich schon mal positiv finde. Er hat durch all seine Krankheiten und Gebrechen ziemliche Depressionen und damit verbunden oftmals schlimme Launen.

Er begrüßt mich freundlich, wir reden erst eine Weile, trinken einen Kaffee, danach heißt es alles startklar machen, damit ‚wir‘ das Dach der Terrasse saubermachen können. Er sagt das immer so, auch wenn er nicht mehr wirklich helfen kann. Immerhin spart er sich mittlerweile die klugen Sprüche, die ich sonst stets zu hören bekommen habe, wenn ich etwas für ihn getan habe.

Mein Vater ist Handwerker mit Leib und Seele, was ich von mir nicht unbedingt behaupten würde.

Ich habe zwar schon als Kind gern geholfen, wenn tapeziert wurde oder irgendwelche anderen Heimwerkerarbeiten anfielen, aber da ich nichts Handwerkliches gelernt habe, denkt er gern, dass ich etwas nicht kann.

Als wäre es ein Naturgesetz, oder so.

Nach zwei Stunden ist das durchsichtige Dach wieder blitzblank und mein Vater glücklich. Ich sehe zwar aus wie ein Schwein, aber kein Fitzelchen Moos, Algen oder was auch immer da ständig für ein Grünspan ansetzen will, ist übriggeblieben.

Wir trinken noch einen Kaffee, dann erscheint auch schon meine Mutter und ich erfahre, dass ihre Eltern, bei denen sie heute Nachmittag war, sich einen Hund angeschafft haben.

„Was? Aber doch hoffentlich keinen Welpen?!“, entrüste ich mich.

„Doch, sie sagten, er sei jetzt acht Wochen alt.“

Ich merke, wie sich meine Mundwinkel nach oben bewegen. Ich liebe Hunde! Nur habe ich leider neben allem, was ich so mache, keine Zeit für so ein tolles Tier. „Wie heißt er oder sie denn?“

„Es ist ein Rüde. Sein Name ist Cobalt. Er hat ganz tolle, dunkelblaue Augen“, erklärt meine Mutter mit schwärmerischem Tonfall.

„Deine Eltern waren schon immer verrückt“, entfährt es meinem Vater, wofür er einen bösen Blick erntet.

„Und was für eine Rasse?“, frage ich.

„Ich glaube, Ewald sagte, es ist ein Irischer Wolfshund.“

Ich blinzle, starre meine Mutter danach endlos an. „Ein Irischer Wolfshund?! Die werden doch riesig!“

Sie hebt nur die Schultern. „Kann sein. Ewald ist jedenfalls Feuer und Flamme, und da er schon immer Hunde hatte, wird er mit Cobalt wohl auch fertigwerden.“

Ich nicke zustimmend, denn das ist wahr. Mein Opa Ewald hatte seit ich denken kann Hunde. Meistens waren es große Rassen, aber einmal hatten er und Oma Elli auch zwei Hunde. Der zweite war ein uraltes Notfalltier, ein Cockerspaniel namens Ludwig.

Dass sie sich nach dem zuletzt verstorbenen Berner Sennenhund noch mal einen anschaffen würden, versetzt mich allerdings noch immer in Erstaunen. Immerhin sind Oma und Opa beide über 80!

„Hm, na dann kann man nur hoffen, dass sie so fit bleiben, wie sie derzeit sind.“ Ich teile die Sorge meines Vaters, denn was wird aus dem Hund, wenn es ihnen plötzlich schlechter geht oder so?

Nach einem weiteren Kaffee mache ich mich auf den Weg nach Hause. Opa Henry wartet auf sein Abendbrot und ich muss mich schon ein wenig beeilen.

© Nathan Jaeger

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