Leseprobe
~ Aushilfsjob ~
„Allein kannst du
das ganz sicher nicht
machen“, brummt mein Onkel und mustert mich zweifelnd.
Ich hebe die
Schultern. „Wieso nicht? Es kann ja nicht so schwierig sein, Crêpes zu backen,
oder?“
„Die Kirmes geht
zwar nur vier Tage, aber täglich mehr als zwölf Stunden lang, und in der Zeit
wirst du sicherlich auch mal eine Pause brauchen. Tatsächlich habe
ich bereits drei Aushilfen für die Zeit eingestellt.“
Als Günter das sagt, wird mir erst bewusst, wie schräg mein
Kopf momentan funktioniert.
Klar brauche ich Pausen und Zeit für meine Zigarettensucht
oder das Klo.
Ich rolle über meine Kurzsichtigkeit die Augen und hoffe,
dass mein Onkel nicht merkt, wie sehr ich neben der Spur bin.
„Logisch … Und wen hast du verpflichtet?“, erkundige ich mich.
„Studentische Hilfskräfte von der örtlichen Fachhochschule.
Sehr nette Jungs, übrigens.“
„Okay, wenn das
alles schon feststeht, kann ich wohl froh sein, dass du für mich noch Arbeit
hast.“ Ich zwinge mich zu einem Grinsen. „Ist wirklich Klasse von dir.“
Er mustert mich mit schräg gelegtem Kopf. „Für meinen
Lieblingsneffen mache ich fast alles möglich, aber dein plötzlicher Umzug und
deine Bereitschaft, auszuhelfen, treffen sich hervorragend mit der Tatsache,
dass die ursprünglich angeheuerte vierte Aushilfe ausfallen wird.“
„Oh? Was ist passiert?“
„Er hat sich beim Unisport das Bein gebrochen, wie ich
hörte.“
„Autsch!“, quittiere ich. „Dann ist sein Unglück wohl mein
Glück …“
Das gefällt mir natürlich nicht, weil ich so gut wie
niemandem Schmerzen und gebrochene Knochen wünsche. Trotzdem hält sich mein
Mitleid in den Grenzen, die mein Egoismus vorschreibt.
Ich brauche diese Ablenkung so dringend, dass Rücksicht
nicht mein oberstes Motto ist.
„Sieht ganz so aus“, erwidert Günter nur.
Trotz des Themenwechsels werde ich den Verdacht nicht los,
dass er mehr in meinen überstürzten Weggang aus Hamburg interpretiert, als ich
bereit bin, zu erzählen.
Entsprechend schweige ich dazu beharrlich und lenke noch
einmal vom Thema ab. „Das wird sicher cool. Ich hab die Kirmes noch nie aus
dieser Perspektive gesehen.“
Er lacht leise. „Die Gelegenheit hast du ja jetzt.“
Ich nicke.
„Gut so!“
„In Ordnung, dann
treffen wir uns am besten Dienstagmorgen auf
dem Firmengelände, da werde ich euch den Wagen und alles Nötige erklären. Du
weißt aber, dass du am Sonntag zum Essen kommen kannst?“
Mein Onkel erhebt
sich wieder und ich verabschiede ihn an der Tür.
„Alles klar, ich
überlege es mir. Ansonsten bis Dienstag!“
Er hebt im Hausflur
noch einmal die Hand und geht.
Wieder in der Küche
mache ich mir einen neuen Kaffee, während Onkel Günters Tasse im Geschirrspüler
landet.
Erst gestern habe ich die letzten ausgeräumten Kartons in den Keller
gebracht.
Mein neues Zuhause
ist geradezu dekadent groß für mich allein, aber dieser Umstand ist der lächerlich
geringen Miete geschuldet.
Ich wohne seit zwei
Wochen in diesem Mehrfamilienhaus mit sechs Mietparteien. Erdgeschoss links,
91 qm Grundfläche, Garten und langer, überdachter Carport. Die Besitzer
der Wohnung sind irgendwo nach Mitteldeutschland gezogen, um bei ihrem Enkel zu
sein, glaube ich, jedenfalls konnte ich dieses Prachtstück problemlos anmieten.
Der kommende Dienstag
ist kurz vor der Eröffnung der alljährlichen Herbstkirmes von Weidenhaus. Am
dritten Wochenende des Oktobers findet sie statt, und ich war als Kind immer dort.
Meine Eltern und ich sind vor 16 Jahren hier weggezogen, weil mein Vater in Heide einen Job
bekommen hat, als ich von der Grundschule auf das Gymnasium wechseln musste.
So bin ich in einem
der heißesten Sommer überhaupt dorthin übergesiedelt und nach den Ferien in die neue Schule gegangen.
Nach der zehnten
Klasse zog ich mit Realschulabschluss in den Speckgürtel Hamburgs und habe dort
gearbeitet.
Meine restliche
Verwandtschaft lebt aber noch in der Gegend um Weidenhaus, und als ich durch
meine überstürzten Bewerbungen einen Job bekam, bin ich wieder zurückgekommen.
Vielleicht ist es ganz gut, dass ich hier meinen Cousin Niklas und eben auch
Onkel Günter und Tante Sigrid habe.
Zu den dreien hatte
ich immer guten Kontakt, auch wenn ich sie selten besucht habe.
Eine gute Woche
nach der Kirmes werde ich die neue Arbeitsstelle antreten und wieder ein
geordneteres Leben führen – hoffe ich.
Zuletzt war es
ziemlich chaotisch, das muss ich zugeben, als ich mit meinem Kaffeebecher und
den Kippen auf die überdachte Terrasse gehe, um eine zu rauchen.
Mir gefällt der
Garten! Er ist ziemlich klein, vielleicht 50 oder 60 Quadratmeter. Davon gehen
mehr als 20 für die überdachte Terrasse drauf und ein breiter Weg führt von
hier aus um die Hausecke zum Carport mit dem darin eingebauten Schuppen. Es ist
also wirklich nicht viel Rasenfläche, die es zu beackern gilt.
Gut für mich!
Ich mag zwar
Gärten, aber nicht zwangsläufig Gartenarbeit …
Am ovalen Terrassentisch
sitzend, trinke ich meinen Kaffee und rauche zwei oder drei Zigaretten.
Ich denke über das
Chaos nach, dem ich durch meinen Umzug und dem neuen Job entkommen bin.
Unschuldig bin ich
übrigens nicht daran, vermutlich habe ich es sogar herausgefordert.
Neben einer
Ausbildung zum Bürokaufmann in einer Reederei fand ich es damals spannend, mich
abends und nachts auf dem Kiez herumzutreiben.
Geschlafen habe ich
nur von zwei bis sechs in jeder Nacht, zwischen Feierabend im Büro und dem
Zubettgehen hatte ich ziemlich viel Spaß, meistens zumindest.
Nein, ich war kein
Stricher, aber letztlich habe ich wohl etwas sehr Ähnliches praktiziert.
Zu Anfang habe ich
gefickt und mich ficken lassen, ohne dafür Geld zu nehmen, aber irgendwann im
zweiten Lehrjahr lernte ich Frank kennen, der mir mit seinen Geschichten über
die bezahlten Sexdates, die er hatte, den Mund wässrig machte.
Es dauerte nicht
lange, und ich hatte Visitenkarten, auf denen lediglich mein – englisch
ausgesprochener – Künstlername ‚Valentine‘ und eine Handynummer standen.
Ich brauchte nicht
mehr auf dem Kiez abzuhängen, nachdem ich auf einschlägigen Datingportalen für
Schwule inseriert hatte.
Jetzt riefen mich
die möglichen Kontakte einfach an und wir verabredeten uns.
In den ersten
Monaten, bis kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag, verdiente ich auf diese
Weise jede Menge Geld, das ich für geile Klamotten, meinen Führerschein und ein
wenig mehr privaten Luxus ausgab.
Natürlich habe ich
nicht alles zum Fenster rausgeworfen, obwohl es durchaus Monate gab, in denen
ich das hinbekommen habe.
Meine Eltern hätten
bei größeren Anschaffungen ganz sicher etwas mitbekommen, dazu war und ist mein
Verhältnis zu ihnen einfach zu gut.
Später habe ich zur
Tarnung meiner Finanzen kleine Modeljobs angenommen, meistens Katalogmoden oder
auch mal für Bildbände, aber niemals habe ich zugelassen, dass mein Konterfei
auf großformatigen Werbeanzeigen auftauchte.
Ein Grinsen zieht über
mein Gesicht. Es war cool zu jener Zeit. Auch wenn es nach den ersten zwei
Jahren noch einmal anders wurde. Ach was, anders, es wurde dekadenter!
Mit zwanzig Jahren
schaffte ich mir eine Wohnung an, in der ich ausschließlich Kunden empfing. Es gefiel
mir besser, auf meinem eigenen Terrain zu arbeiten, obwohl ich in neunzig von
hundert Fällen keine Angst haben musste.
Es hatte eindeutig
Vorteile, dass ich mir meine Kundschaft größtenteils aussuchen konnte. Klar,
hin und wieder gab es mal einen echt hässlichen Vogel, der mich ficken wollte,
oder mal einen Viagra-Jünger, der ein bisschen perverser drauf war.
Wieder dieses Grinsen …
Ich fand zu der
Zeit auch heraus, dass ich es sehr genoss, andere zu dominieren, ihre Lust
absolut zu kontrollieren, weshalb ich meine bestehenden Kontakte zur BDSM-Szene
ausbaute.
Heute kann ich
sagen, dass ich meine besten Freunde in genau dieser Szene habe, und vor allem,
dass ich mit sämtlichen Techniken und Spielarten vertraut bin, die dort
praktiziert werden.
Tja, wie man es
auch dreht und wendet, ich bin dreimal chemisch gereinigt, wenn es um Kerle,
die Abgründe sexueller Begierden und das Leben an sich geht.
Das Grinsen
vergeht, ich mache nervös die Zigarette aus und sehe mich idiotischerweise um,
als wäre irgendjemand hinter mir her.
Ein hartes Auflachen,
denn das ist die reine Wahrheit!
Es ist jemand hinter mir her!
Ich bin hier nicht
einfach nur hergezogen, weil ich es so schön finde, wieder in der Stadt zu
sein, in der ich die ersten elf Jahre meines Lebens verbracht habe, sondern
weil ich untertauchen wollte.
~*~
„Hallo zusammen!“,
grüße ich am Dienstagmorgen um
zehn Uhr, als ich auf dem Werkstattgelände von Onkel Günters Dachdeckerfirma ‚Holtkamp
Bedachungen‘ erscheine und mich dem blau-rot lackierten Crêpe-Stand nähere.
Direkt neben dem Firmengelände
liegt das riesige Wohnhaus meines Onkels. Er hat es gebaut, als seine Kinder
noch ganz klein waren, also vor meiner Geburt.
Günter und die drei studentischen Hilfskräfte – Lars, Tim und Bernd – sind bereits im
Inneren und testen die Gerätschaften.
Ich geselle mich zu
ihnen und stelle fest, dass der Verkaufswagen größer ist, als ich angenommen
hatte.
Insgesamt vier
Backplatten für die dünnen Pfannkuchen, jeweils zwei an zwei Arbeitsplätzen,
nehmen den Großteil der Theke ein, darunter befinden sich Kühlschränke mit Glastüren, in denen die
benötigten Zutaten lagern.
Die Rückwand wird
von einer
Arbeitsplatte mit weiteren
Kühlfächern dominiert, trotzdem
bleibt noch genug Platz, um halbwegs bequem aneinander vorbei zu gehen und alle
Teile des Wagens zu erreichen.
Voll cool, eine
Kaffeemaschine haben wir auch!
Über der Arbeitsplatte
hängt die gut sichtbare Preistafel mit den unterschiedlichen
Belag-Möglichkeiten, die wir anbieten werden.
Neben geriebenem
Käse, Schinkenwürfeln und allerlei Spirituosen, wird man auch Zimtzucker,
Schokoladencreme, Bananen und heiße Kirschen auf seinem Crêpe bestellen können.
Während Bernd und
Lars sich an den ersten Pfannkuchen versuchen, lerne ich bereits die Karte
auswendig, um es mir am kommenden Wochenende etwas zu vereinfachen.
Die
Arbeitsplatzlogistik ist wohldurchdacht, man kann reibungslos arbeiten, und
durch die Backzeit der Crêpes hat man auch genug Gelegenheit, die benötigten
Zutaten heranzuholen.
Zum Aufrühren des
Teiges, der sich in großen 20-Liter-Eimern befinden wird, haben wir eine
Bohrmaschine mit Rühraufsatz, was die ganze Angelegenheit irgendwie cooler
macht. Auch wenn ich nicht gerade ein Heimwerkerheld bin, macht mir so etwas
Unorthodoxes Spaß.
Ich muss zugeben,
ich freue mich auf die Kirmes.
Nachdem wir vier es hinbekommen, die Pfannkuchen unfallfrei
zu backen, dürfen wir die Ergebnisse unserer Bemühungen aufessen und verteilen
den Rest unter den heute in der Werkstatt beschäftigten Mitarbeitern des
Betriebes. Es sind nicht annähernd alle da, die meisten sind – laut Aussage
meines Cousins, der uns zwischenzeitlich am Stand besucht – auf diversen
Baustellen zu finden.
Nachdem wir alles
gereinigt und wieder verstaut haben, der Wagen geschlossen und abfahrbereit
ist, verrät uns mein Onkel, wo der Verkaufsstand in den kommenden Tagen stehen
wird.
Zu meiner großen
Freude ist der Stellplatz nicht an einer der Seitenstraßen, sondern auf dem
Hauptgelände des Jahrmarktes gelegen. Dadurch werden meine neuen
Arbeitskollegen und ich sicherlich immer wieder Zeit genug finden, uns
umzusehen.
~ Neugier ~
Ich muss mir endlich eine neue Wohnung suchen!
Dieser Gedanke
überfällt mich mit schöner Regelmäßigkeit, sobald ich nach der Arbeit die
Eingangstür öffne.
Stimmt nicht! Er
kommt jedes Mal auf, sobald mein Blick auf eines der riesengroßen, auf den Putz
gemalten Wandbilder in beinahe jedem Raum fällt.
Ich hasse sie
abgrundtief, da ich durch sie an die verlogenen Jahre meiner festen Beziehung
erinnert werde.
Es wäre so einfach,
einen Eimer Farbe zu nehmen, um die Beweise meiner Dämlichkeit verschwinden zu
lassen.
Das will ich aber nicht!
Sie sollen mir
täglich in Erinnerung rufen, wie gefährlich es ist, sich auf einen Mann
einzulassen, und dass ich es vermeiden muss, mich jemals wieder zu verlieben.
Ich seufze tief und
begebe mich ins Schlafzimmer, um mich auszuziehen und duschen zu gehen.
Morgen noch, dann
ist Kirmes!
Dieser Gedanke
vertreibt zum Glück die negativen Empfindungen.
Es ist vollkommen
egal, dass ich bis einschließlich Samstag arbeiten muss. Der Jahrmarkt wird für
mich so oder so erst bei einsetzender Dunkelheit spannend. Ich liebe die bunten
Lichter, ihre Spiegelungen in den glänzenden Wagen der Fahrgeschäfte, die blinkenden
Lichtreflexe, die von Bude zu Bude weitergegeben werden.
Irgendwie hat Kirmes
etwas Magisches für mich. Vielleicht, weil ich mich an wunderbare Erinnerungen
klammere, die mich mit meinen Eltern und meiner kleinen Schwester verbinden.
Alle drei sind tot.
Ich war 16 und
hatte gerade die Ausbildung bei Günter Holtkamp, dem besten Freund meines
Vaters, begonnen. Daher konnte ich Marleen, Mama und Papa nicht in den Urlaub
begleiten.
Tief durchatmen. Sogar
ein schiefes Lächeln kriege ich hin. Erstaunlich, da mich diese Erinnerungen
eigentlich immer ziemlich fertig machen.
Ich vermisse meine
Familie, obwohl sie seit mehr als 13 Jahren nicht mehr da ist. Das wird sich
wohl nie ändern, genau, wie ich andere negative Empfindungen nicht mehr
loswerden kann.
Trotzdem habe ich
gelernt, mit dem Verlust klarzukommen – hauptsächlich wohl, weil mich eine
andere Familie unter ihre Fittiche genommen hat.
Mit viel Liebe,
Wärme und einem eigenen Zimmer in ihrem Haus. Für mich lebensrettend war
allerdings ihr großes Einfühlungsvermögen. Sie hatten Verständnis, wenn ich mal
ausflippte, akzeptierten, dass ich erst lernen musste, mit meinem plötzlich so
leeren Leben umzugehen.
Günter und Sigrid
Holtkamp sind seit langem meine zweite Chance auf eine Familie.
Niklas, ihr
jüngster Sohn, ist wie ein Bruder für mich. Er ist mein Vertrauter, kennt meine
geheimsten Gedanken.
Niemals haben die
Holtkamps versucht, meine Familie abzulösen, aber sie haben sie ersetzt, haben die
Leere in meinem Innern peu à peu gefüllt.
Mehr, als ich es
erwartet hätte.
Lächelnd trete ich
aus der Dusche und trockne mich ab. Noch rasieren, dann muss ich wieder los.
Gegen 20 Uhr
erwartet meine Zweitfamilie mich zum traditionellen Kaninchenbraten, den wir
jedes Jahr vor der Kirmes genießen.
Sobald ich das
Aftershave aufgetragen habe, blicke ich in den Spiegel und zitiere mit
möglichst ernsthaftem Gesicht den Spruch, der diese Futter-Tradition bedingt
hat: „Wenn Kermes is, wenn Kermes is,
dann schlacht’ onsen Vader ’nen Buck, wenn Ovend is, wenn Ovend is, dann is
denn Buck all up!“
Oh Mann, ich kann
manchmal echt albern sein. Kichernd verlasse ich das Bad und ziehe mich an.
Als ich vor den
mannshohen Spiegel trete, um mein Aussehen zu begutachten, fällt mein Blick zwangsläufig
auf den Hintergrund, der, genau wie mein Abbild, wiedergegeben wird. Ein Teil
des überdimensionalen Wandbildes – schwarzweiß und blutrot. Schlagartig ist
meine Stimmung auf dem Nullpunkt.
Ich muss aus dieser
Wohnung raus! Bis vor zwei Jahren habe ich sie mit meinem heutigen Exfreund
geteilt. Inzwischen sind mir nicht nur die Gemälde zuwider, das gesamte
Interieur erinnert an ihn und ich will mich nicht mehr an ihn erinnern.
Um zwanzig vor acht
trudele ich mit meinem Wagen wieder dort ein, wo ich auch arbeite – Günters
Haus steht in einem der Industriegebiete direkt neben dem Werkstattgelände.
Jedes Mal, wenn ich
den Wagen in der breiten Einfahrt neben dem von Niklas abstelle, überkommt mich
ein unbändiges Gefühl von Heimat, von Nachhausekommen.
Entsprechend hebt
sich meine Laune. Lächelnd eile ich zur Haustür und klingele.
Als ich mit Paul,
meinem Ex, zusammengezogen bin, wollte ich meine Schlüssel zurückgeben, um
niemals aus reiner Gewohnheit die Privatsphäre meiner Ersatzfamilie zu stören.
Günter und Sigrid
haben sich jedoch geweigert, sie anzunehmen. Ich zitiere: „Unser Haus soll für alle
Zeiten, genau wie für unsere leiblichen Kinder, eine Zuflucht sein, ein Ort, an
den du stets zurückkehren kannst.“
Auch wenn ich die
Schlüssel immer bei mir habe, würde ich sie nur im Notfall benutzen.
Niklas erscheint
jenseits der großen, getönten Haustür und reißt sie grinsend nach innen.
„Wow, du musst dich
ziemlich beeilt haben!“, begrüßt er mich und wie immer, wenn wir uns treffen,
umarmen wir uns kurz. Das hat sich irgendwie eingebürgert, seit wir nicht mehr
unter einem Dach wohnen.
„Wer bin ich, dass
ich freiwillig Sigrid verärgere?“, gebe ich lautstark und mit einem fetten
Grinsen zurück.
Mir ist klar, dass
sie mich bis in die direkt angrenzende Wohnküche hört.
Prompt erklingt ihr
fröhliches Lachen. „Als ob du darauf jemals Rücksicht genommen hättest, mein
Schatz!“
Wir betreten die
Küche, sobald mein Mantel in der geräumigen Diele an der Garderobe hängt.
Auch Sigrid begrüße
ich mit einer Umarmung.
„Okay, ich schäme
mich nachträglich!“, quittiere ich und lache.
„Geht es dir gut?“,
will sie leise und sehr ernst wissen.
Da ist sie wieder, die
Frage, die sie mir seit Jahren stellt. Sie hat damit angefangen, als ich bei
Paul eingezogen bin.
Sigrid und Günter
konnten Paul nie leiden. Für mich war das lange Zeit unverständlich. Wir haben
uns auch häufiger deswegen gestritten, was mir bis heute unglaublich leid tut.
Ihre Menschenkenntnis ist auf jeden Fall besser als meine.
„Ja, alles prima. Mach dir keine Sorgen.“
Sie weiß, dass ich
lüge, in ihren Augen kann ich es sehen.
Kurz streichelt
ihre Hand meine Wange, dann lächelt sie und gibt mich frei.
„Okay, Jungs, Tisch decken!“
Wir erledigen das
umgehend, genehmigen uns anschließend noch eine Zigarette auf der frostigen
Terrasse und sitzen pünktlich am Tisch in der Küche.
~*~
Das Essen verläuft
in allerbester Stimmung, während wir die Planungen für das anstehende
Kirmeswochenende abstimmen.
Morgen Abend werden
Niklas, dessen Freundin Miriam und ich uns mit dem Rest unserer bunt gemischten
Clique treffen, um gemeinsam über die Kirmes zu gehen.
Das machen wir immer, fällt also ebenfalls unter Tradition
„Wo steht der Crêpe-Stand
in diesem Jahr eigentlich?“, frage ich, weil ich ein echter Crêpe-Junkie[f1] bin.
„Auf dem
Hauptplatz, schräg gegenüber vom Riesenrad“, verrät Günter mir und grinst.
Natürlich kennt er meine Leidenschaft. Eine bestimmte Sorte Belag ist
schließlich nur meinetwegen auf der Speisekarte gelandet.
„Cool, dann weiß
ich, wer sich, bevor wir uns am Treffpunkt sammeln, schon mal den ersten Crêpe
holen wird!“
Meine
offensichtliche Vorfreude reizt die anderen zum Lachen.
Ist seit einiger
Zeit immer so. Anscheinend sind echte Begeisterungsausbrüche bei mir in den
letzten Jahren so selten geworden, dass sich die Anwesenden überschwänglich mit
mir freuen.
„Da lernst du dann
vermutlich gleich Wolf kennen“, bemerkt Günter lächelnd.
„Wen?“, hake ich
nach.
„Meinen Cousin aus
Hamburg. Er ist weggezogen, bevor er zu uns aufs Mariengymnasium kommen
konnte“, erklärt Niklas bereitwillig.
„Hm, war er danach noch mal hier?“
„Ich glaube nicht.
Er war seit damals auf keiner Familienfeier mehr“, sagt Niklas und lächelt
schief.
„Und er hilft am
Stand aus?“, hake ich, nun echt neugierig geworden, nach.
„Jepp. Mich wundert
eh, dass er wieder hergezogen ist. Bislang dachte ich immer, er wollte aus Hamburg
nicht mehr weg. Immerhin hat er sich dort sein komplettes soziales Leben aufgebaut.“
Niklas klingt nachdenklich.
„Er ist aber sehr
nett, so viel ist sicher“, mischt Günter sich in das Gespräch. „Wolf ist zwei
Jahre jünger als ihr und wird sicher bald Anschluss brauchen.“
Niklas nickt
sofort. „Auf jeden Fall! Schade, dass er heute Abend nicht kommen konnte.“
„Ich habe ihn extra
angerufen, aber er wollte noch irgendwas in der neuen Wohnung umräumen“,
erklärt Sigrid.
„Wollte er?“ Günter
sieht sie verwirrt an. „Als ich am Wochenende bei ihm war, stand kein einziger
Karton mehr herum.“
Alle schweigen eine
Weile und hängen ihren Gedanken nach.
„Hm, vielleicht in
einem Zimmer, das du nicht gesehen hast?“, schlägt Sigrid vor.
„Möglich“, erwidert
Günter, sieht allerdings nicht überzeugt aus. Die Stirn in Falten gelegt,
grübelt er still vor sich hin.
Dieser Typ, Wolf,
weckt meine Neugier. Wer zieht ohne zwingenden Grund aus einer so
faszinierenden Großstadt wie Hamburg weg und kehrt in unsere eher ländlichen
Gefilde zurück? Günter erweckt jedenfalls den Eindruck, dass er sich ernsthaft
Sorgen um seinen Neffen macht.
Ich nehme mir vor,
den Geheimnissen dieses ‚neuen‘ Familienmitglieds auf den Grund zu gehen.
Nach dem Essen
mache ich mich sofort auf den Heimweg. Um halb fünf Uhr ist die Nacht für mich
rum. Immerhin muss ich um sechs Uhr bei der Arbeit auf der Matte stehen.
Die letzte
Zigarette rauche ich in meiner Küche, dann sehe ich zu, dass ich ins Bett
komme.
An Schlaf ist
jedoch nicht zu denken. Keine Ahnung, was mein Gedankenkarussell mal wieder in
Betrieb gesetzt hat, aber es ist fast Mitternacht, als ich das letzte Mal auf
den Wecker schaue.
© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR
Zurück zur Hauptseite 'Gay-fusioN'
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen