Leseprobe
1 ~ Altlasten ~
„Es ist jetzt fünf Jahre her, mein Schatz, du musst endlich
wieder vorwärts blicken!“ Die Mahnung meiner Mutter ist gut gemeint, trotzdem
sträubt sich etwas in mir so sehr, dass ich nur mit Mühe verhindern kann, mich
zusammen zu krümmen.
Fünf Jahre …
Vor fünf gottverfluchten Jahren ist meine Jugendliebe
gestorben.
Mich daran zu erinnern, ist für niemanden eine gute Idee.
Ich starre meine Mutter an und nicke vorsichtig. „Ich weiß.“
„Manchmal glaube ich, du verdrängst es eher. Als wäre Anton
nur auf eine lange, lange Reise gegangen“, beharrt sie.
Ich seufze vernehmlich. „Mama, wenn ich sage, dass ich es
weiß, dann meine ich das auch so. Er ist tot! Aber das bedeutet noch lange
nicht, dass mein Herz das verarbeitet hätte.“
Sie seufzt ebenso. „Das verstehe ich. Dennoch bist du zu
jung, um im Haus deiner Mutter zu leben.“
Ich blinzle. „Du willst mich loswerden?!“
„Natürlich nicht! Ich will dich wieder echt und aus tiefster
Seele lachen sehen! Will die Verliebtheit und das Begehren in deinen Augen
schimmern sehen, wenn der Mann deines Herzens in dein Blickfeld gerät!“
Ich schnaube. „Dein Ernst?!“
Sie nickt nur und sieht aus dem Fenster der Küche auf den
Hof.
Die Sonne ist längst untergegangen, wie immer am frühen
Abend Anfang Februar.
Trotzdem ist es draußen keineswegs dunkel.
Wird an den zahlreichen Lichtern liegen, die unser Dorf
speziell in der dunklen Jahreszeit erhellen.
Jedes Haus besitzt dicht unterhalb der Regenrinne eine Reihe
von Lampen, die das Mauerwerk anstrahlen und die Denkmäler und Gemeindehäuser
sind von großen Scheinwerfern angestrahlt – dunkel wird es in Sporken erst nach
Mitternacht.
Manche Hausbesitzer haben ihre Vorgärten auch noch nicht von
der Weihnachtsbeleuchtung befreit, in vielen Rabatten stehen deshalb noch
kugelige Büsche und Baumgerippe, die von Lichternetzen oder -ketten beleuchtet
werden.
Am vergangenen Wochenende waren es noch viel mehr, da haben
wir das Lichterfest gefeiert.
Ehrlich, in diesem Kaff gibt es in jeder einzelnen Woche des
Jahres irgendein Fest, zumindest kommt es mir manchmal so vor.
In Wahrheit sind es ein bis zwei Feste im Monat.
Trotzdem müssten wir weithin als ‚das Partydorf‘ bekannt
sein, aber da wir keine großartige Werbung für unsere Feiern machen, weiß kaum
jemand außerhalb von Sporken davon.
So heißt unser Dorf. Sporken im Münsterland. Etwa zehn
Kilometer von der Stadt, in die wir eingemeindet wurden, entfernt, schlummert
es friedlich – bis zur nächsten Party!
„Du wirst nicht jünger, was glaubst du, wann du zuletzt
ausgegangen bist? Und ich rede nicht von deinen langen Wanderungen durch die
Landschaft oder den treffen mit deiner Clique“, präzisiert sie und reißt mich
damit aus meinen Gedanken.
Tief durchatmen, sie meint es wirklich nur gut.
„Ich bin 33, Mama. Nicht hundert! Und ich wandere gern durch
die Natur! Sie ist still und gleichzeitig so herrlich laut und pulsierend! Sie
gibt keine Widerworte und diskutiert nicht mit mir, dass ich mir einen neuen
Mann suchen soll“, gebe ich spitz zurück.
Mühsam beherrsche ich mein Temperament.
Meine Mutter ist die Letzte, die ich anschreien will, nur
weil sie sich Sorgen um mich macht.
Sie lächelt milde, als sie sich mir wieder zuwendet. „Du
suchst also jemanden, der keine Widerworte geben und nicht diskutieren kann?“
Der Schalk blitzt aus ihren Augen.
„Klar! Am besten stumm und hübsch. Den kette ich dann im
Schlafzimmer an, um ihn, wann immer ich will, zu vernaschen!“ Mein ironischer
Ton reizt sie erst recht zum Lachen, mich aber auch.
Allein die Vorstellung ist schon absurd!
„Bevor ich es vergesse, du musst noch etwas für mich
erledigen.“
„Ah ja? Was denn?“
„Ich habe vergessen die bestellten Eier bei Janssen
abzuholen, ich brauche sie aber nachher für den Kuchen.“
Ich nicke und stehe auf. „Alles klar, bis gleich dann.“
Jacke, Handschuhe und Mütze sind bei solchen Ausflügen
Pflicht, ich friere zwar nicht schnell, aber krank zu werden kann ich mir
ebenso wenig leisten wie jeder andere.
Auf zum Hühnerhof!
Die Janssens sind die örtlichen Eierbauern. Ihr Federvieh
rennt jeden Morgen auf ein riesiges Areal hinaus, auf dem es herumkratzen,
ausruhen und baden kann.
Echte Freilandhühner eben.
Der Hof liegt am anderen Ende der gewundenen Dorfstraße, die
mehr oder minder parallel zur Hauptstraße verläuft.
„Lasse, hast du einen Moment?“, spricht mich Bauer Lensing
an, als ich dick eingepackt an seinem Hof vorbeigehe.
Ich trete zu ihm und zwei anderen Dorfbewohnern, die
offensichtlich ein kühles Schwätzchen gehalten haben.
„Klar, was ist los, Ewald?“
„Ich muss morgen in die Tannenschonung. Der Sturm hat am
Wochenende etliche Bäume entwurzelt, die nun zwischen den Tannen für dieses
Jahr liegen. Hast du Zeit, mir zu helfen?“
Ich schürze die Lippen und nicke schließlich. „Sollte gehen.
Wie spät soll ich da sein?“
„Wir wollen um sechs Uhr los.“
„Alles klar, dann bis morgen früh!“ Ich hebe die Hand zum
Abschied und gehe weiter.
Mist, sechs Uhr ist echt unchristlich für mich, aber ich
helfe eigentlich immer, wenn Not am Mann ist.
Durch meinen Job bin ich zeitlich absolut ungebunden und
kann einspringen. Das tue ich für meine Mutter ebenso wie für andere im Dorf.
Es hat seine Vorteile selbständig und kreativ zu sein.
Ich muss nicht jeden Morgen um neun Uhr in einem Büro sitzen
oder um sechs Uhr am Fließband in einer Fabrik stehen.
Dafür kommen dann aber solche lustigen Arbeitszeiten
zustande, wie Ewald sie mir eben abgeschwatzt hat.
Ich gehe grinsend weiter und frage mich, wieso ich es nie
schaffe, ‚nein‘ zu sagen.
Na ja, ich bin wohl einfach so und sollte das auch nicht zu
ändern versuchen.
Vielleicht habe ich ja morgen in der Tannenschonung eine
Idee für eine Wintergeschichte? Wäre cool – im wahrsten Sinne!
Ich erreiche den Hof von Janssen ohne weitere Zwischenfälle
und gehe wie immer durch die Seitentür im Hof in die riesige Wohnküche.
Oma Janssen sitzt bei einem Glas Tee und sieht von ihrem
Arztroman auf, den sie schmökert.
Das Abendessen für ihre Großfamilie steht auf dem Herd, es
duftet verführerisch aus den Töpfen.
„Hallo Oma!“, grüße ich fröhlich. „Wie geht es dir?“
„Sehr gut, mein Junge. Was macht die Kunst?“, fragt sie und
erhebt sich, um ein einem Anbau zu gehen. Dort steht bereits das Körbchen mit
den von meiner Mutter bestellten Eiern.
„Alles gut! Das neue Buch ist veröffentlicht und verkauft
sich einigermaßen, ich schreibe jetzt noch an zwei anderen, dann muss ich mich
um die Wintergeschichten kümmern.“
Sie nickt vor sich hin und reicht mir das Körbchen.
„Da, damit Elise backen kann. Ich hab mich schon gewundert,
wie sie die Eier vergessen konnte.“
Ich grinse. „Irgendetwas wird sie aufgehalten haben, du
kennst sie ja.“
Eine Tatsache, jeder im Ort kennt meine Mutter. Sie ist kurz
vor meiner Geburt als Alleinerziehende in dieses Dorf mit nicht einmal 500
Seelen gezogen, um mich aus dem Trubel der Großstadt herauszuhalten.
Damals lebten meine Großeltern noch. Wir bewohnen seitdem
einen Hof, auf dem mittlerweile keine Landwirtschaft im herkömmlichen Sinne
mehr betrieben wird, sieht man von den gigantischen Obstgärten ab.
Vier Sorten Äpfel, eine alte, heute kaum noch bekannte
Kirschenart, Pflaumen und Birnen stehen in langen Reihen hinter dem Gehöft und
sehen von weitem eher aus wie ein Weinberg.
Die Felder und Weiden, die zuerst noch zum Hof gehören, hat meine
Mutter nach dem Tod meines Großvaters vor fast sechzehn Jahren bis auf zwei
Wiesen direkt am Haus verpachtet.
„Ich will dich nicht von deinem Roman abhalten, Oma. Wir
sehen uns die Tage, ja?“
Ich umarme sie zum Abschied und will die Küche verlassen.
„Warte kurz!“, bittet sie mich. „Jetzt hätte ich beinahe
vergessen, dir zu erzählen, dass wir Zuwachs auf dem Hof haben!“
„Aha?“ Sie macht mich neugierig.
„Seit heute Nachmittag. Mein Großneffe aus Berlin ist zu uns
gezogen.“
„Aus Berlin?!“ Spontan tut mir der arme Mann leid, dass er
ausgerechnet in dieses Nest geraten ist, auch wenn ich sehr gern hier lebe.
Berlin ist auch nicht gerade um die Ecke, sondern 500
Kilometer weit weg!
Eine Tatsache, die mich augenblicklich an meinen besten
Freund denken lässt.
Immer wenn unsere Bundeshauptstadt in einem Gespräch erwähnt
wird, denke ich an Jilas und merke, wie sehr ich ihn vermisse.
„Ja! Ihm hat es dort wohl nie gefallen, zu laut, zu viel
Trubel. Jetzt ist er mit dem Studium fertig und will raus aus der Großstadt.“
„Na gut, das kann ich verstehen. Und was hat er studiert,
dass er danach einfach herkommt?“
„Er ist Fotograf und hat Grafikdesign studiert.“
„Oh, ein schöner Beruf, würde ich sagen. Na, dann sind die
zukünftigen Dorffeste nicht mehr auf die stümperhaften Knipsereien von Leuten
wie mir angewiesen!“
Wir lachen.
Oma Janssen ist die coolste 90-Jährige, die ich kenne.
„Stimmt! Na, du wirst ihn am Wochenende beim
Schneeglöckchenfest kennenlernen!“
„Klingt gut, alles klar, ich muss dann jetzt los. Ewald hat
mich breitgeschlagen, morgen lange vorm Aufstehen schon mit ihm loszuziehen!“
„Na, dann ab mit dir!“
Ich verlasse die Küche nun wirklich, gehe über den großen
Hof in Richtung Dorfstraße und sehe mich dabei neugierig um, ob ich den Großneffen
aus Berlin, dessen Namen sie mir nicht einmal verraten hat, irgendwo sehen
kann.
Bewaffnet mit dem Weidenkörbchen voller großer Hühnereier
mache ich mich auf den Heimweg.
Wie immer hat Oma Janssen es mit einem frisch ausgekochten Geschirrtuch
ausgelegt und die Zipfel am Ende über den Eiern zusammengeschlagen.
Auch wenn ich oft die von Mama bestellten Dinge von den
Nachbarhöfen oder aus dem Dorfladen abhole, komme ich mir speziell mit dem
Eierkörbchen immer ein bisschen wie Rotkäppchen vor.
Das ging mir schon als Kind so.
Der Gedanke lässt mich in mich hineinlachen, als ich
körbchenschwingend nach Hause gehe.
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