Samstag, 6. November 2021

[Leseprobe] Gefängnisse der Vergangenheit - Trauer

 Leseprobe

1 ~ Altlasten ~

„Es ist jetzt fünf Jahre her, mein Schatz, du musst endlich wieder vorwärts blicken!“ Die Mahnung meiner Mutter ist gut gemeint, trotzdem sträubt sich etwas in mir so sehr, dass ich nur mit Mühe verhindern kann, mich zusammen zu krümmen.

Fünf Jahre …

Vor fünf gottverfluchten Jahren ist meine Jugendliebe gestorben.

Mich daran zu erinnern, ist für niemanden eine gute Idee.

Ich starre meine Mutter an und nicke vorsichtig. „Ich weiß.“

„Manchmal glaube ich, du verdrängst es eher. Als wäre Anton nur auf eine lange, lange Reise gegangen“, beharrt sie.

Ich seufze vernehmlich. „Mama, wenn ich sage, dass ich es weiß, dann meine ich das auch so. Er ist tot! Aber das bedeutet noch lange nicht, dass mein Herz das verarbeitet hätte.“

Sie seufzt ebenso. „Das verstehe ich. Dennoch bist du zu jung, um im Haus deiner Mutter zu leben.“

Ich blinzle. „Du willst mich loswerden?!“

„Natürlich nicht! Ich will dich wieder echt und aus tiefster Seele lachen sehen! Will die Verliebtheit und das Begehren in deinen Augen schimmern sehen, wenn der Mann deines Herzens in dein Blickfeld gerät!“

Ich schnaube. „Dein Ernst?!“

Sie nickt nur und sieht aus dem Fenster der Küche auf den Hof.

Die Sonne ist längst untergegangen, wie immer am frühen Abend Anfang Februar.

Trotzdem ist es draußen keineswegs dunkel.

Wird an den zahlreichen Lichtern liegen, die unser Dorf speziell in der dunklen Jahreszeit erhellen.

Jedes Haus besitzt dicht unterhalb der Regenrinne eine Reihe von Lampen, die das Mauerwerk anstrahlen und die Denkmäler und Gemeindehäuser sind von großen Scheinwerfern angestrahlt – dunkel wird es in Sporken erst nach Mitternacht.

Manche Hausbesitzer haben ihre Vorgärten auch noch nicht von der Weihnachtsbeleuchtung befreit, in vielen Rabatten stehen deshalb noch kugelige Büsche und Baumgerippe, die von Lichternetzen oder -ketten beleuchtet werden.

Am vergangenen Wochenende waren es noch viel mehr, da haben wir das Lichterfest gefeiert.

Ehrlich, in diesem Kaff gibt es in jeder einzelnen Woche des Jahres irgendein Fest, zumindest kommt es mir manchmal so vor.

In Wahrheit sind es ein bis zwei Feste im Monat.

Trotzdem müssten wir weithin als ‚das Partydorf‘ bekannt sein, aber da wir keine großartige Werbung für unsere Feiern machen, weiß kaum jemand außerhalb von Sporken davon.

So heißt unser Dorf. Sporken im Münsterland. Etwa zehn Kilometer von der Stadt, in die wir eingemeindet wurden, entfernt, schlummert es friedlich – bis zur nächsten Party!

„Du wirst nicht jünger, was glaubst du, wann du zuletzt ausgegangen bist? Und ich rede nicht von deinen langen Wanderungen durch die Landschaft oder den treffen mit deiner Clique“, präzisiert sie und reißt mich damit aus meinen Gedanken.

Tief durchatmen, sie meint es wirklich nur gut.

„Ich bin 33, Mama. Nicht hundert! Und ich wandere gern durch die Natur! Sie ist still und gleichzeitig so herrlich laut und pulsierend! Sie gibt keine Widerworte und diskutiert nicht mit mir, dass ich mir einen neuen Mann suchen soll“, gebe ich spitz zurück.

Mühsam beherrsche ich mein Temperament.

Meine Mutter ist die Letzte, die ich anschreien will, nur weil sie sich Sorgen um mich macht.

Sie lächelt milde, als sie sich mir wieder zuwendet. „Du suchst also jemanden, der keine Widerworte geben und nicht diskutieren kann?“

Der Schalk blitzt aus ihren Augen.

„Klar! Am besten stumm und hübsch. Den kette ich dann im Schlafzimmer an, um ihn, wann immer ich will, zu vernaschen!“ Mein ironischer Ton reizt sie erst recht zum Lachen, mich aber auch.

Allein die Vorstellung ist schon absurd!

„Bevor ich es vergesse, du musst noch etwas für mich erledigen.“

„Ah ja? Was denn?“

„Ich habe vergessen die bestellten Eier bei Janssen abzuholen, ich brauche sie aber nachher für den Kuchen.“

Ich nicke und stehe auf. „Alles klar, bis gleich dann.“

Jacke, Handschuhe und Mütze sind bei solchen Ausflügen Pflicht, ich friere zwar nicht schnell, aber krank zu werden kann ich mir ebenso wenig leisten wie jeder andere.

Auf zum Hühnerhof!

Die Janssens sind die örtlichen Eierbauern. Ihr Federvieh rennt jeden Morgen auf ein riesiges Areal hinaus, auf dem es herumkratzen, ausruhen und baden kann.

Echte Freilandhühner eben.

Der Hof liegt am anderen Ende der gewundenen Dorfstraße, die mehr oder minder parallel zur Hauptstraße verläuft.

„Lasse, hast du einen Moment?“, spricht mich Bauer Lensing an, als ich dick eingepackt an seinem Hof vorbeigehe.

Ich trete zu ihm und zwei anderen Dorfbewohnern, die offensichtlich ein kühles Schwätzchen gehalten haben.

„Klar, was ist los, Ewald?“

„Ich muss morgen in die Tannenschonung. Der Sturm hat am Wochenende etliche Bäume entwurzelt, die nun zwischen den Tannen für dieses Jahr liegen. Hast du Zeit, mir zu helfen?“

Ich schürze die Lippen und nicke schließlich. „Sollte gehen. Wie spät soll ich da sein?“

„Wir wollen um sechs Uhr los.“

„Alles klar, dann bis morgen früh!“ Ich hebe die Hand zum Abschied und gehe weiter.

Mist, sechs Uhr ist echt unchristlich für mich, aber ich helfe eigentlich immer, wenn Not am Mann ist.

Durch meinen Job bin ich zeitlich absolut ungebunden und kann einspringen. Das tue ich für meine Mutter ebenso wie für andere im Dorf.

Es hat seine Vorteile selbständig und kreativ zu sein.

Ich muss nicht jeden Morgen um neun Uhr in einem Büro sitzen oder um sechs Uhr am Fließband in einer Fabrik stehen.

Dafür kommen dann aber solche lustigen Arbeitszeiten zustande, wie Ewald sie mir eben abgeschwatzt hat.

Ich gehe grinsend weiter und frage mich, wieso ich es nie schaffe, ‚nein‘ zu sagen.

Na ja, ich bin wohl einfach so und sollte das auch nicht zu ändern versuchen.

Vielleicht habe ich ja morgen in der Tannenschonung eine Idee für eine Wintergeschichte? Wäre cool – im wahrsten Sinne!

Ich erreiche den Hof von Janssen ohne weitere Zwischenfälle und gehe wie immer durch die Seitentür im Hof in die riesige Wohnküche.

Oma Janssen sitzt bei einem Glas Tee und sieht von ihrem Arztroman auf, den sie schmökert.

Das Abendessen für ihre Großfamilie steht auf dem Herd, es duftet verführerisch aus den Töpfen.

„Hallo Oma!“, grüße ich fröhlich. „Wie geht es dir?“

„Sehr gut, mein Junge. Was macht die Kunst?“, fragt sie und erhebt sich, um ein einem Anbau zu gehen. Dort steht bereits das Körbchen mit den von meiner Mutter bestellten Eiern.

„Alles gut! Das neue Buch ist veröffentlicht und verkauft sich einigermaßen, ich schreibe jetzt noch an zwei anderen, dann muss ich mich um die Wintergeschichten kümmern.“

Sie nickt vor sich hin und reicht mir das Körbchen.

„Da, damit Elise backen kann. Ich hab mich schon gewundert, wie sie die Eier vergessen konnte.“

Ich grinse. „Irgendetwas wird sie aufgehalten haben, du kennst sie ja.“

Eine Tatsache, jeder im Ort kennt meine Mutter. Sie ist kurz vor meiner Geburt als Alleinerziehende in dieses Dorf mit nicht einmal 500 Seelen gezogen, um mich aus dem Trubel der Großstadt herauszuhalten.

Damals lebten meine Großeltern noch. Wir bewohnen seitdem einen Hof, auf dem mittlerweile keine Landwirtschaft im herkömmlichen Sinne mehr betrieben wird, sieht man von den gigantischen Obstgärten ab.

Vier Sorten Äpfel, eine alte, heute kaum noch bekannte Kirschenart, Pflaumen und Birnen stehen in langen Reihen hinter dem Gehöft und sehen von weitem eher aus wie ein Weinberg.

Die Felder und Weiden, die zuerst noch zum Hof gehören, hat meine Mutter nach dem Tod meines Großvaters vor fast sechzehn Jahren bis auf zwei Wiesen direkt am Haus verpachtet.

„Ich will dich nicht von deinem Roman abhalten, Oma. Wir sehen uns die Tage, ja?“

Ich umarme sie zum Abschied und will die Küche verlassen.

„Warte kurz!“, bittet sie mich. „Jetzt hätte ich beinahe vergessen, dir zu erzählen, dass wir Zuwachs auf dem Hof haben!“

„Aha?“ Sie macht mich neugierig.

„Seit heute Nachmittag. Mein Großneffe aus Berlin ist zu uns gezogen.“

„Aus Berlin?!“ Spontan tut mir der arme Mann leid, dass er ausgerechnet in dieses Nest geraten ist, auch wenn ich sehr gern hier lebe.

Berlin ist auch nicht gerade um die Ecke, sondern 500 Kilometer weit weg!

Eine Tatsache, die mich augenblicklich an meinen besten Freund denken lässt.

Immer wenn unsere Bundeshauptstadt in einem Gespräch erwähnt wird, denke ich an Jilas und merke, wie sehr ich ihn vermisse.

„Ja! Ihm hat es dort wohl nie gefallen, zu laut, zu viel Trubel. Jetzt ist er mit dem Studium fertig und will raus aus der Großstadt.“

„Na gut, das kann ich verstehen. Und was hat er studiert, dass er danach einfach herkommt?“

„Er ist Fotograf und hat Grafikdesign studiert.“

„Oh, ein schöner Beruf, würde ich sagen. Na, dann sind die zukünftigen Dorffeste nicht mehr auf die stümperhaften Knipsereien von Leuten wie mir angewiesen!“

Wir lachen.

Oma Janssen ist die coolste 90-Jährige, die ich kenne.

„Stimmt! Na, du wirst ihn am Wochenende beim Schneeglöckchenfest kennenlernen!“

„Klingt gut, alles klar, ich muss dann jetzt los. Ewald hat mich breitgeschlagen, morgen lange vorm Aufstehen schon mit ihm loszuziehen!“

„Na, dann ab mit dir!“

Ich verlasse die Küche nun wirklich, gehe über den großen Hof in Richtung Dorfstraße und sehe mich dabei neugierig um, ob ich den Großneffen aus Berlin, dessen Namen sie mir nicht einmal verraten hat, irgendwo sehen kann.

Bewaffnet mit dem Weidenkörbchen voller großer Hühnereier mache ich mich auf den Heimweg.

Wie immer hat Oma Janssen es mit einem frisch ausgekochten Geschirrtuch ausgelegt und die Zipfel am Ende über den Eiern zusammengeschlagen.

Auch wenn ich oft die von Mama bestellten Dinge von den Nachbarhöfen oder aus dem Dorfladen abhole, komme ich mir speziell mit dem Eierkörbchen immer ein bisschen wie Rotkäppchen vor.

Das ging mir schon als Kind so.

Der Gedanke lässt mich in mich hineinlachen, als ich körbchenschwingend nach Hause gehe.

© Nathan Jaeger

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